Neben der Entstehung und Weiterbildung des Gemeinschaftsrechts aus einer Vielfalt von Rechtskulturen stellt der Status der offiziellen Mehrsprachigkeit der Europäischen Union eine wesentliche, unverzichtbare Bedingung für den Erfolg der Integration dar. Schon bei den Vorbereitungen zu den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 wurden auf der Außenministerkonferenz vom 23. bis 25. Juli 1952 in einem Protokoll zur Sprachenregelung beschlossen, dass die vier Sprachen der sechs Gründerstaaten (Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch) gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten. Dieses Sprachenregime wurde später in den EWG-Vertrag übernommen und in den konsolidierten Fassungen nach den Beitrittsverträgen um die entsprechenden Nationalsprachen der Beitrittsländer erweitert. Nach Art. 55 Abs. 1 EUV in seiner heute geltenden Fassung (Vertrag von Lissabon) sind die 24 Sprachen der 27 Mitgliedsstaaten gleichermaßen verbindliche Vertragssprachen. Ihre Funktion als Amts- und Arbeitssprachen ist schon in der Verordnung Nr. 1 EWG von 1958 festgelegt und in den späteren konsolidierten Fassungen übernommen worden. Mit der Einschränkung der Geschäftsordnungen der EU-Organe und Institutionen hat sich allerdings in der internen Praxis eine Dominanz des Englischen und Französischen herausgebildet.
Die Herausforderung
Die große Anzahl von derzeit 24 Sprachen, deren Fassungen im EG-Recht gleichermaßen rechtsverbindlich sind, stellt ein besonderes Charakteristikum des Gemeinschaftsrechts dar. Jede*r Unionsbürger*in kann sich nach Art. 24 Abs. 3 und 4 AEUV schriftlich in einer der in Art. 55 Abs. 1 EUV genannten Sprachen an die in Art. 13 EUV genannten Organe und Einrichtungen sowie an die/den Bürgerbeauftragten wenden und eine Antwort in derselben Sprache erhalten. Alle Rechtstexte sind in diesen Sprachen abzufassen, ein Faktum, welches nicht nur für die Textproduktion, sondern ebenso für die Auslegung relevant ist. Die Risiken, welche die offizielle Sprachenvielfalt sowohl für die Organe und Institutionen der Union als auch für die Unionsbürger*innen mit sich bringt, sind vielfach diskutiert und nicht selten mit dem hohen Übersetzungsaufwand der Union in Verbindung gebracht worden. Auf der anderen Seite haben die Chancen der Sprachenpluralität aus linguistischer, juristischer und politischer Sicht ein hohes Gewicht. Sprachenvielfalt ist ein konstituierendes Merkmal europäischer Identität, dem in den Texten des Gemeinschafts- und Unionsrechts Rechnung getragen werden.
Ein Recht in 24 gleichermaßen verbindlichen Fassungen
Entscheidend ist, dass in der EU ein Recht in vierundzwanzig Sprachen entsteht. Die Prämisse der Authentizität mehrsprachiger Rechtstexte der Union schließt dabei die Möglichkeit unterschiedlicher Textdeutungen mit ein. Diese basiert nicht nur auf der sprachlichen Vorgabe, sondern kann auch durch unterschiedliches Wirken von Faktoren der Textarbeit im Unionsrecht bedingt sein. In einer Reihe von Entscheidungen hat sich der Europäische Gerichtshof mit den Auflösungen von sprachlichen Divergenzen befasst und sowohl die Verbindlichkeit der verschiedenen sprachlichen Fassungen als auch die Besonderheit der Rechtsbegriffe im Unionsrecht gegenüber denjenigen in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen hervorgehoben.
Durch die institutionelle Verankerung der 24 offiziellen EU-Sprachen entwickeln sich neue sprachenrelevante Rechtskonzepte. Solche Neuorientierungen erfordern innovative, transdisziplinäre Qualifikationen, denen die akademische Ausbildung entsprechen muss.
Umsetzung in Lehre und Forschung an der Universität zu Köln
Erste interdisziplinäre und transdisziplinäre Lehrveranstaltungen mit rechtslinguistischer Thematik in z. T. europarechtlicher Ausrichtung fanden seit 1997 an der Universität zu Köln statt. Insbesondere im Rahmen der Vorbereitungen zum Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta (hrsg. von Peter J. Tettinger und Klaus Stern, München 2006) hatten sich seit 2000 an der Universität zu Köln in einer Reihe von Seminaren, Symposien und Tagungen Jurist*innen und Romanist*innen im Zusammenwirken mit Praktiker*innen der EU-Institutionen zusammengefunden, um transdisziplinäre Zusammenhänge einer Rechtslinguistik der Europäischen Union zu diskutieren und weiterführend zu etablieren.
Die Verbundstudiengänge „Europäische Rechtslinguistik“ (BA/MA)
Dem daraus resultierenden Desiderat wurde mit der Einrichtung zweier Verbundstudiengänge Rechnung getragen, die als BA-Studiengang seit 2007 und als MA-Studiengang seit 2008 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingerichtet wurden. Als Verbundstudiengänge, die – erstmalig in Deutschland – die juristische, linguistische und politische Pluralität von EU-Rechtssprachen in einem Programm für die Lehre und Forschung bündeln, sind sie gemeinsam von der Philosophischen und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln konzipiert und getragen. Sie zielen auf Vermittlung von juristischen und sprachwissenschaftlichen Kompetenzen auf einem soliden sprachpraktischen Fundament und bilden so die Grundlage für Tätigkeiten der mehrsprachig-verbindlichen Textarbeit im Gemeinschaftsrecht. Als wichtiger Aspekt gilt, dass die sehr unterschiedlichen Methoden der juristischen und der linguistischen Fachrichtungen nicht nacheinander, sondern parallel zueinander studiert werden und somit von Anfang an der Blick auf die Fragestellungen beider Disziplinen gleichzeitig geschult wird.
Transdisziplinarität von Beginn an
Neben dem eher anwendungsorientierten Bachelor-Studiengang mit Praxisbezug eröffnet der Masterstudiengang der Europäischen Rechtslinguistik (ERL) neue Perspektiven in Forschung und Lehre. Der transdisziplinäre Dialog, der in aktuellen Arbeitskontexten oft erst mühsam erarbeitet werden muss und der inzwischen als oft vermisste Schlüsselqualifikation anzusehen ist, wird in diesem MA-Studiengang auf Forschungsebene thematisiert und weiterentwickelt. Dabei gehört es zu den Spezifika einer solchen Vorgehensweise, einen eigenen Raum der Kommunikation zwischen der Arbeit der Sprachwissenschaften und der Rechtswissenschaften zu eröffnen.
Neue supranationale Rechtskonzepte und ihre sprachliche Gestaltung
Im Völkerrecht und im Internationalen Recht wird bereits mit verschiedenen Konzepten des Sprach- und des Rechtsvergleichs gearbeitet. Die Relevanz für das Europarecht liegt in der besonderen Dynamik neuer supranationaler Rechtskonzepte, die sprachenrelevant sind, da die Authentizität von 24 EU-Sprachen gewährleistet werden muss. Dies erfordert eine wissenschaftliche Fundierung und Weiterführung von Studien zu vergleichenden Sprachen- und Rechtskonzepten, welche profunde Kenntnisse rechtswissenschaftlicher Methoden sowie ein sprachwissenschaftliches Differenzierungsvermögen mehrsprachiger Phänomene beinhalten.
Für die Sprachwissenschaft liefern der Sprachvergleich und die Notwendigkeit, europäische Rechtskonzepte sprachlich zu gestalten, wichtige neue Aspekte für linguistische Disziplinen, wie Textlinguistik, Pragmatik, Semantik, Übersetzungstheorie, Terminologie und kontrastive Sprachbetrachtung.
Entscheidend bleibt in diesem Zusammenhang die gegenseitige Beeinflussung nationaler und europarechtlicher Kontexte, die von großer rechtslinguistischer Bedeutung ist.
ZERL – Podium für Europäische Rechtslinguistik
Bei der Rasanz der politischen, juristischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist es besonders wichtig, die Arbeit von Jurist*innen, Linguist*innen, Rechtslinguist*innen in Forschung, Lehre und Praxis so früh wie möglich zu vernetzen und allen Beteiligten transparent zu machen. Dazu soll ZERL einen Beitrag leisten. Die Zeitschrift möchte zu einem innovativen wissenschaftlichen Dialog auffordern und den Blick auf die Möglichkeiten praktischer Umsetzung Europäischer Rechtslinguistik erweitern.
Isolde Burr-Haase