Dispositionalität und Potentialität in der Physik

Andreas Hüttemann

Beitrag zum Philosophischen Symposium 2019 der Deutschen Foschungsgemeinschaft (DFG)

Dispositionalität und Potentialität in der Physik

Andreas Hüttemann0000-0003-2230-3873

In diesem Aufsatz will ich die modale Oberflächenstruktur untersuchen, die mittels Naturgesetzaussagen beschrieben wird. Ich werde die These verteidigen, dass Naturgesetzaussagen Systemen vielpfadige Dispositionen (multi-track dispositions) zuschreiben. Damit sind verschiedene Verhaltensmöglichkeiten des Systems verknüpft, die sich mit bedingter Notwendigkeit entwickeln.

  1. Wie sollten Naturgesetzaussagen rekonstruiert werden?

  2. Interne und externe Generalisierungen

  3. Das Extrapolationsargument

  4. Welche Rolle spielen Naturgesetzaussagen in Erklärungen?

  5. Modale Aspekte von Naturgesetzaussagen

  6. Vielpfadige Dispositionen

  7. Konditionale Notwendigkeit

Methodologische Vorbemerkung: Ich gehe davon aus, dass Naturgesetzaussagen Aussagen sind, die durch ihre Rolle in der wissenschaftlichen Praxis des Erklärens, Vorhersagens, des experimentellen Eingreifens in Naturverläufe etc. charakterisiert sind. Untersucht werden soll, was diese Naturgesetzaussagen wahr macht. Das erfordert einen Blick auf die genannte Praxis.

1. Wie sollten Naturgesetzaussagen1 Ich vermeide den Begriff „Naturgesetz“, weil seine Bedeutung in der einschlägigen Literatur zwischen Naturgesetzaussage und das, was eine solche Aussage wahr macht, changiert. rekonstruiert werden?

Wie sollten wir Galileis Fallgesetz rekonstruieren? Ist das Fallgesetz einfach die Gleichung

s = ½ gt2 (1)

(wobei s für die zurückgelegte Strecke steht, t für die Zeit und g eine Konstante ist)?

Wenn als Kriterium für eine gelungene Rekonstruktion gefordert wird, dass berücksichtigt werden soll, dass eine Naturgesetzaussage eine Aussage ist, die in Experimenten überprüft wird oder in Erklärungen eine Rolle spielt, dann kann die Gleichung (1) nicht das Fallgesetz sein. Niemand glaubt, Galileis Fallgesetz werde durch eine auf dem Tisch liegende oder eine rollende Kugel, die die obige Gleichung nicht erfüllen, falsifiziert. Das Fallgesetz behauptet nur, dass ganz bestimmte Systeme die Gleichung erfüllen. Was also fehlt ist eine Spezifizierung der Systeme, deren Verhalten durch die Gleichung (1) charakterisiert werden soll. Galileis Fallgesetz sollte also etwa folgendermaßen rekonstruiert werden:

Frei fallende Gegenstände verhalten sich gemäß der Gleichung s = ½ gt2

Ganz entsprechend ist F=ma zunächst einmal eine mathematische Gleichung, die erst dadurch zu einer Naturgesetzaussage wird, dass der Gegenstandsbereich, für den die Gleichung gelten soll, festgelegt wird – in diesem Fall (2. Newtonschen Gesetz) sind das alle physikalischen Systeme. Auch die Schrödingergleichung mit dem Coulombpotential ist selbst keine Naturgesetzaussage, wohl aber die Behauptung, dass sich das Verhalten von Wasserstoffatomen durch die Schrödingergleichung mit dem Coulombpotential beschreiben lässt.

Eine vorläufige allgemeine Charakterisierung von Naturgesetzaussagen könnte daher wie folgt aussehen:

(A) Alle Systeme einer bestimmten Art K verhalten sich gemäß Σ.

Wobei Σ, das Gesetzesprädikat, typischerweise für eine Gleichung oder ein System von Gleichungen steht. Im Falle von „Alle Raben sind schwarz“ spielt „schwarz“ die Rolle des Gesetzesprädikats. Für das Folgende ist nun aber wesentlich, dass vereinfachende Beispiele für Gesetzesaussagen, wie „Alle Raben sind schwarz“, die in der Naturgesetzliteratur eine allzu prominente Rolle gespielt haben, gerade die im Hinblick auf den Begriff der Modalität interessanten Punkte verdecken.

2. Interne und externe Generalisierungen

Die vorläufige Charakterisierung von Naturgesetzaussagen gemäß (A) erlaubt eine Unterscheidung zweier Arten von Generalisierungen. Im Falle des Galileischen Fallgesetzes gibt es erstens eine (implizite) Generalisierung über Gegenstände („Für alle frei fallenden Gegenstände“) und zweitens eine weitere über die Werte einer Variablen („Für alle Werte der Variablen t“). Es lassen sich so system-interne und system-externe Generalisierungen unterscheiden (Scheibe 1991):

  1. System-interne Generalisierung: Generalisierungen, die die Werte von Variablen betreffen, die in Σ vorkommen. Im Falle des Galileischen Fallgesetzes: Die Gleichung s = ½ gt2 gilt für alle Werte der Variablen t (oder für alle Werte in einem bestimmten Wertebereich).

  2. System-externe Generalisierung: Generalisierungen, die bestimmte Arten von Gegenständen betreffen: das Gesetzesprädikat Σ trifft auf alle Gegenstände der Art K zu – im Beispielfall auf alle frei fallenden Gegenstände.2 Woodward und Hitchcock, „Explanatory Generalizations, Part I: A Counterfactual Account“, S. 20 - wenn auch mit Hilfe anderer Begriffe – treffen eine ähnliche Unterscheidung, wenn sie im Blick auf Erklärungen schreiben: “the nomothetic approach has focused on a particular kind of generality: generality with respect to objects or systems other than the one whose properties are being explained”. Ihr eigenes Erklärungsmodell stellt stattdessen Generalisierungen, die sich auf Werte von Variablen beziehen, in den Mittelpunkt.

Die Unterscheidung interner und externer Generalisierungen motiviert eine Unterscheidung verschiedener Arten kontrafaktischer Konditionalaussagen:

Woodward und Hitchcock3 Woodward und Hitchcock, „Explanatory Generalizations, Part I: A Counterfactual Account“, S. 20. unterscheiden zwischen kontrafaktischen Konditionalaussagen, die andere Gegenstände betreffen, und solchen, die denselben Gegenstand betreffen. Beispiele für erstere sind „Wenn dieser Gegenstand ein Rabe wäre, so wäre er schwarz“ oder „Wenn der Hund des Nachbarn ein ideales Gas wäre, so würde er der Gleichung pV = ν RT genügen”. Ein Beispiel für ein kontrafaktisches Konditional, das den denselben Gegenstand betrifft, ist das folgende: “Wenn dieses ideale Gas das Volumen V=V0 und den Druck p=p0 hätte, dann wäre seine Temperatur T=T0.” Kontrafaktische Konditionale, die denselben Gegenstand betreffen, stützen sich auf interne Generalisierungen, solche, die andere Gegenstände betreffen, auf externe Generalisierungen.

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Generalisierungen werde ich später wieder aufnehmen. In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst für die These argumentieren, dass Naturgesetzaussagen Systemen vielpfadige dispositionale Eigenschaften (‚multi-track dispostions’) zuschreiben (Abschnitt 3). Ab Abschnitt 4 werde ich mich dann einigen modalen Aspekten widmen, die mit der Verwendung von Naturgesetzaussagen in der wissenschaftlichen Praxis, insbesondere der explanatorischen Praxis, zusammenhängen. Dabei interessiert mich die modale Oberflächenstruktur, d.h. mich interessiert, wie diese Aspekte prima facie zu verstehen sind, nicht aber (jedenfalls nicht hier), was der Ursprung der Modalitäten sein mag.

3. Das Extrapolationsargument

Dass Naturgesetzaussagen Systemen Dispositionen zuschreiben, lässt sich am einfachsten daran erkennen, dass wir in der wissenschaftlichen Praxis des Erklärens, Vorhersagens, experimentellen Eingreifens etc. bereit sind, das Gesetzesprädikat auch dann für ein System für relevant halten, wenn das entsprechende Verhalten nicht manifest ist, z. B. wenn es durch Störfaktoren modifiziert oder unterdrückt wird.

Unter einer Disposition verstehe im Folgenden eine Eigenschaft, bei der zwischen ihrer Instantiierung und ihrer Manifestation unterschieden werden kann. Eine mutige Person, beispielsweise, kann mutig sein, ohne diese Disposition bei jeder (oder irgendeiner) Gelegenheit zu manifestieren. Paradigmatische nicht-dispositionale (kategorische) Eigenschaften, wie viereckig sein erlauben diese Unterscheidung nicht. Ein Blatt Papier kann viereckig sein nicht instantiieren ohne es zu manifestieren. Da die Unterscheidung zwischen dispositionalen und nicht-dispositionalen Eigenschaften vollständig ist, reicht die genannte Minimalcharakterisierung aus, um ein einfaches Kriterium zu begründen, das hinreichend ist, um dispositionale Eigenschaften zu identifizieren: Wenn wir eine Eigenschaft auch dann zuschreiben, wenn das Verhalten (oder der Zustand o.ä.), durch das (den) die Eigenschaft charakterisiert ist, nicht manifest ist, schreiben wir eine dispositionale Eigenschaft zu.

3.1 Extrapolation

Unter der (explanatorischen) Praxis des Extrapolierens verstehe ich im Folgenden, dass wir eine Naturgesetzaussage für eine bestimmten Art von Situation überprüft haben, sie aber auch für die Erklärung anderer Arten von Situationen für relevant halten. Nancy Cartwright hat argumentiert, dass sich eine solche Relevanz nur (oder am besten)4 Das Argument muss nicht als transzendentales Argument („nur“-Fassung) rekonstruiert werden, sondern kann auch als Schluss auf die beste Erklärung („am besten“-Fassung) verstanden werden. Damit kann einem Einwand Anjan Chakravartty, Scientific Ontology, S. 119, S. 120 begegnet werden, der eine transzendentale Lesart unterstellt und fragt, weshalb man glauben solle, es gebe nur genau eine Erklärung. Wird das Argument als Schluss auf die beste Erklärung rekonstruiert, wäre für eine Zurückweisung mindestens erforderlich, dass eine bessere Erklärung tatsächlich präsentiert wird. verstehen lässt, wenn bestimmte Annahmen über die Eigenschaften gemacht werden, die durch Gesetzesprädikate zugeschrieben werden.

“When […] disturbances are absent the factor manifests its power explicitly in its behaviour. When nothing else is going on, you can see what tendencies a factor has by looking at what it does. This tells you something about what will happen in very different, mixed circumstances – but only if you assume that the factor has a fixed capacity that it carries with it from situation to situation.”5 Cartwright, Nature’s Capacities and Their Measurement, S. 191.

Cartwrights These lautet, dass wir annehmen sollten, dass Naturgesetzaussagen Systemen Dispositionen (capacities) zuschreiben, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, um der explanatorischen Praxis der Extrapolation (von einer Art von Situationen zu einer anderen Art von Situationen) gerecht zu werden. Das Galileische Fallgesetz beschreibt, wie sich fallende Gegenstände im Vakuum verhalten. Wir halten das Gesetz aber auch für andere Fälle für relevant, z. B. wenn ein Gegenstand in der Luft oder in anderen Medien fällt, obwohl dort die Gleichung nicht erfüllt ist, d.h. das Verhalten nicht manifest ist. Dass wir das Verhalten des Systems in der einen Situation (z.B. im Vakuum) für das Verhalten des Systems unter anderen Umständen für explanatorisch relevant halten, lässt sich am besten (nur) dadurch erklären, dass in der Situation, in der ein Störfaktor, z. B. Luft, anwesend ist, die explanatorisch relevante Eigenschaft zwar nicht manifest (d.h. die Gleichung ist nicht erfüllt), aber gleichwohl instantiiert ist. Es handelt sich also, gemäß unserem Kriterium, um eine dispositionale Eigenschaft, die das Fallgesetz den Systemen zuschreibt. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass wir noch spezifischere Annahmen über diese Dispositionen machen müssen, um der Praxis der Extrapolation gerecht zu werden. Das wird dann letztlich auf den Begriff des Möglichkeitsspielraums führen.

Der Einfluss von Störfaktoren (antidotes) ist vor allem im Kontext so genannter exklusiver ceteris paribus Gesetze untersucht werden. Um den Charakter der Dispositionen, die von Naturgesetzaussagen Systemen zugeschrieben werdem, genauer zu bestimmen, wende ich mich daher als nächstes dieser Debatte zu.

3.2 Ceteris paribus Gesetze und die Rolle von Störfaktoren6 In diesem und den folgenden Abschnitt stütze ich mich teils auf Textbausteine, die schon in Ebd. Verwendung fanden.

Naturgesetzaussagen beschreiben das Verhalten von Systemen nicht unter allen Umständen oder Bedingungen. Das Galileische Fallgesetz beschreibt z. B. das Verhalten fallender Steine nur im Vakuum, nicht aber in Medien angemessen. Die Schrödingergleichung mit dem Coulombpotential ist nur dann eine angemessene Beschreibung des Wasserstoffatoms, wenn es keine externen Felder gibt. Newtons erstes Gesetz führt sogar explizit die Bedingungen an, unter denen es das Verhalten physikalischer Systeme nicht beschreibt:

„Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.“7 Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 53.

Gesetze, die nur dann das Verhalten von Systemen beschreiben, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, nennt man „ceteris paribus Gesetze“. Solche Gesetze wurden zunächst im Kontext der Ökonomie diskutiert.8 Vgl. dazu Reutlinger, Schurz, und Hüttemann, „Ceteris Paribus Laws“. Die Rolle solcher Gesetze in der Biologie, der Psychologie, den Sozialwissenschaften etc. wurde ausführlich diskutiert.9 Vgl. u.a. Bartelborth und Scholz, „Understanding Utterances and Other Actions“; Beatty, „The Evolutionary Contingency Thesis“; Carrier, „In Defense of Psychological Laws“; Fodor, „You Can Fool Some of the People All of the Time, Everything Else Being Equal: Hedged Laws and Psychological Explanation“. Aber auch in der Physik gibt es ceteris paribus Gesetze, wie wir gerade gesehen haben.

In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, wie sich die Probleme, die gewöhnlich im Zusammenhang mit ceteris paribus Gesetze diskutiert werden, im Falle physikalischer ceteris paribus Gesetze mit Hilfe der These, dass Naturgesetzaussagen Systemen Dispositionen zuschreiben, lösen lassen und die These auf diesem Wege weiter präzisieren.

Schurz10 Schurz, „Ceteris Paribus Laws: Classification and Deconstruction“. unterscheidet zwischen komparativen und exklusiven ceteris paribus Gesetzen. Im Falle exklusiver ceteris paribus Gesetze wird behauptet, dass sich Systeme auf eine bestimmte Art verhalten, wenn es keine Störfaktoren gibt. Die Störfaktoren müssen also abwesend sein. Das erste Newtonsche Gesetz ist ein Beispiel für ein exklusives ceteris paribus Gesetz. Dagegen wird bei anderen ceteris paribus Gesetzen verlangt, dass bestimmte Faktoren ihren Wert nicht verändern. Wenn z. B. behauptet wird, dass bei einer erhöhten Nachfrage nach einem Produkt die Preise steigen, dann wird u.a. vorausgesetzt, dass das Angebot konstant bleibt. Ceteris paribus Gesetze können auch sowohl exklusiv als auch komparativ sein. Im eben genannten Beispiel wird z. B. ebenfalls unterstellt, dass nicht von außen in den Markt eingegriffen wird, beispielsweise durch eine Intervention des Staates, mittels derer er die Preise festsetzt. Im weiteren Verlauf werde ich nur exklusive ceteris paribus Gesetze diskutieren, denn Gesetze in der Physik beschreiben häufig isolierte Systeme, d.h. solche, auf die keine Störfaktoren einwirken.

Die Rolle exklusiver ceteris paribus Gesetze ist umstritten, weil sie mit einem Dilemma konfrontiert zu sein scheinen. Für viele Naturgesetzaussagen, wie z. B. das Galileische Fallgesetz gilt, dass sie falsch sind, wenn man sie als strikte (universelle) Generalisierung versteht.

Die Behauptung „Immer dann, wenn ein Gegenstand fällt, genügt er der Gleichung s= ½ gt2“ ist falsch, denn in Wasser und anderen Medien beschreibt die Gleichung das Verhalten fallender Körper nicht angemessen (erstes Horn des Dilemmas). Wenn man diesem Problem aber nun dadurch begegnet, dass man einen ceteris paribus Vorbehalt hinzufügt, scheint es, als seien diese Gesetze empirisch nicht zu widerlegen und insofern trivial (zweites Horn des Dilemmas):

„Immer dann, wenn ein Gegenstand fällt, genügt er der Gleichung s= ½ gt2, es sei denn, es gibt einen Störfaktor.“

Ein solches Gesetz ist zumindest dann trivial, wenn schon das bloße nicht-Auftreten des durch die Gleichung beschriebenen Verhaltens als ausreichender Hinweis auf die Existenz eines Störfaktors gewertet werden darf. Die ceteris paribus Gesetze ließen sich dann nicht falsifizieren.11 Vgl. Lange, „Natural Laws and the Problem of Provisos“, S. 235.

3.3 Mill

Schon John Stuart Mill hat einen Vorschlag skizziert, wie man einsichtig machen kann, dass exklusive ceteris paribus Gesetze nicht trivial sind. Mill hatte sich mit dem Problem beschäftigt, ob Naturgesetzaussagen Ausnahmen haben können:

“With regard to exceptions; in any tolerably advanced science there is properly no such thing as an exception. What is thought to be an exception to a principle is always some other and distinct principle cutting into the former: some other force which impinges against the first force, and deflects it from its direction. There are not a law and an exception to that law – the law acting in ninety-nine cases, and the exception in one. There are two laws, each possibly acting in the whole hundred cases, and bringing about a common effect by their conjunct operation. […] Thus if it were stated to be a law of nature, that all heavy bodies fall to the ground, it would probably be said that the resistance of the atmosphere, which prevents a balloon from falling, constitutes the balloon as an exception to that pretended law of nature. But the real law is that all heavy bodies tend to fall […]”.12 Mill, „On the Definition and Method of Political Economy“, S. 56.

Mill schlägt hier also vor, nicht von Ausnahmen, die Naturgesetzaussagen haben könnten, zu reden, sondern Naturgesetzaussagen als Aussagen über Tendenzen oder Dispositionen, die Gegenständen zukommen, aufzufassen. Diese Tendenzen oder Dispositionen haben die fraglichen Gegenstände ausnahmslos. Aber das, wozu sie disponieren, ist nicht immer manifest.

3.4 Ein Einwand von Earman & Roberts

Der Rekurs auf zugrundeliegende Dispositionen, die nur dann und wann manifest sind, überzeugt vielleicht nicht gleich. Ein naheliegender Vorwurf lautet, eine solche Zuschreibung erkläre nichts, weil sich aus dem Vorliegen der Disposition, das zu erklärende Verhalten nicht erschließe:

“Thus if what one wants explained is the actual pattern, how does citing a tendency – which for all we know may or may not be dominant and, thus, by itself may or may not produce something like the actually observed pattern – serve to explain this pattern?”13 Earman, Roberts, und Smith, „Ceteris Paribus, There Are No Provisos“, S. 451-452.

Es mag ja sein, dass das Vorliegen von Ausnahmen als das Zusammenspiel zweier Gesetze oder Dispositionen zu verstehen ist, wie schon Mill meinte. Das hilft uns bei der Erklärung oder Vorhersage von Phänomenen aber nicht weiter, solange wir nicht wissen, wie dieses Zusammenspiel genau aussieht. (Mill hatte von einer „conjunct operation“ gesprochen.)

Dieser Einwand lässt sich entkräften, weil es in der Physik Gesetze gibt, die quantitativ bestimmen, wie ein solches Zusammenspiel aussieht. Ein spezielles Beispiel ist das Kräfteparallelogramm, mit dessen Hilfe man beschreibt, wie sich ein System – im Rahmen der Newtonschen Mechanik – unter dem Einfluss mehrerer Kräfte (d.h. Einfluss- oder Störfaktoren) – verhält, wie also die Kräfte zusammenspielen. Sowohl in der klassischen Mechanik als auch in der Quantenmechanik gibt es allgemeine Gesetze (Kompositionsgesetze) die beschreiben, wie komplexe Systeme aus einfachen Systemen aufgebaut sind (das schließt den Fall „störender“ Systeme mit ein). Damit ist der Einwand Earman’s und Roberts’ entkräftet. Da es Kompositionsgesetze gibt, die das Zusammenspiel verschiedener Dispositionen bestimmen, kann auf der Grundlage von Dispositionen (und Kompositionsgesetzen) das tatsächliche Verhalten von Systemen erklärt werden.14 Mit diesem Einwand habe ich mich ausführlicher in Hüttemann, What’s Wrong with Microphysicalism? auseinandergesetzt.

3.5. Extrapolation und vielpfadige Dispositionen

Naturgesetzaussagen, die Systemen ein Verhalten zuschreiben, sollten als Zuschreibung von Dispositionen verstanden werden, um der Praxis der Extrapolation und dem damit zusammenhängenden Wesen der exklusiven ceteris paribus Gesetze gerecht zu werden. Unsere im Lichte dieser Überlegungen modifizierte Standardlesart von Naturgesetzaussagen lautet somit:

(A*) Alle Systeme einer bestimmten Art K sind dazu disponiert sich gemäß Σ zu verhalten.

Falls Störfaktoren abwesend sind, wird die zugeschriebene Disposition manifest. Sollte es Störfaktoren geben, lässt sich das Verhalten der Systeme mithilfe von Kompositionsgesetzen und Gesetzen der Form (A*) bestimmen.

Aus (A*) und den Kompositionsgesetzen ergibt sich für die Systeme, die uns interessieren, eine Vielzahl von Generalsierungen:

(i) ∀x (Cx & kein Störfaktor ⊃M0x)

(ii) ∀x (Cx &I1x & kein weiterer Störfaktor ⊃M1x)

(iii) ∀x (Cx & I2x & kein weiterer Störfaktor ⊃M2x)

(iv) ∀x (Cx & I3x & kein weiterer Störfaktor ⊃M3x)

(…) ∀x (Cx &I1x & I2x kein weiterer Störfaktor ⊃M12x)

Hier bedeutet Cx, dass sich das System x in den Umständen C befindet, Iix stehe für einen Störfaktor, der auf x einwirkt, und Mix dafür, dass x das Verhalten Mi manifestiert.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob wir es mit vielen verschiedenen Dispositionen oder mit einer komplexen Disposition zu tun haben. Charakterisiert die Generalisierung ∀x (Cx &I1x & kein weiterer Störfaktor ⊃M1x) eine einpfadige Disposition (single track disposition), oder wird durch die Gesamtheit der Generalisierungen eine vielpfadige Disposition (multi track disposition) charakterisiert?

Wenn man das Cartwrightsche Extrapolationsargument ernst nimmt, kann die Antwort nur lauten, dass es sich um eine vielpfadige Disposition handelt. Wenn man nämlich annähme, wir hätten es mit einer Vielzahl von einpfadiger Dispositionen zu tun, dann würden wir, wenn z. B. ein Stein im Vakuum fällt, dem Stein eine Disposition D1 zuschreiben, wenn er dagegen in Luft fällt eine davon verschiedene Disposition D2. Es bliebe unerklärt, weshalb wir das Verhalten des Systems in der ersten Situation, in der D1 manifest wird, für explanatorisch relevant im Hinblick auf die zweite Situation, in der D2 manifest wird, halten. Das Extrapolationsargument funktioniert nur dann, wenn man annimmt, dass Naturgesetzaussagen vielpfadige Dispositionen zuschreiben.

Auf die Vielpfadigkeit der Dispositionen werde ich in Abschnitt 6 noch einmal zurückkommen.

4. Welche Rolle spielen Naturgesetzaussagen in Erklärungen?

Ich werde nun einen weiteren Ausschnitt aus unserer Erklärungspraxis etwas genauer untersuchen, nämlich die Erklärung von Zuständen von Systemen auf der Basis vorangegangener Zustände (Das Problem der Störfaktoren werde ich dabei zunächst außen vor lassen). Diese ‚Standarderklärungen’ wie ich sie nennen werde, geben uns Hinweise auf modale Aspekte von Naturgesetzaussagen.

In den 1960er Jahren diskutieren Hempel und Scriven die genaue Rolle von Naturgesetzaussagen in Erklärungen. Eine Frage lautete, ob Naturgesetzaussagen im explanans vorkommen oder ihre Rolle die eines „role justifying ground “ ist, d.h. eine Begründung dafür, dass das explanans für das explanandum überhaupt relevant ist.15 Vgl. dazu Salmon, Scientific Explanation and the Causal Structure of the World, S. 17, Fußnote 6. Unter Rückgriff auf die Unterscheidung interner und externer Generalisierungen lässt sich dieses Problem en passant lösen und dann daran anschließend ausführen, inwiefern Naturgesetzaussagen Systemen Möglichkeitsspielräume zuschreiben.

Ausgangspunkt sei ein ganz einfaches Beispiel (das auch in Skow 201616 Skow, Reasons Why. diskutiert wird):

Frage: Warum traf der Stein auf den Boden mit einer Geschwindigkeit von 4,4 m/s auf?

Antwort: Er ist auf dem Boden mit dieser Geschwindigkeit aufgetroffen, weil er von einer Höhe von einem Meter fallen gelassen wurde. (Dies lässt sich mit Hilfe der Gleichung s = ½ gt2 berechnen).

Wie funktioniert die Erklärung genau? Das Explanandum ist die Geschwindigkeit des Steins zum Zeitpunkt des Auftreffens (allgemein: der Zustand eines Systems zur Zeit t). Das Explanans stützt sich auf die Höhe und die Gleichung s = ½ gt2, (allgemein: auf Anfangsbedingungen und die Naturgesetzgleichung).

Die Erklärung macht mithilfe der Gleichung s = ½ gt2 deutlich, dass und wie die Geschwindigkeit des Steins von der Höhe abhängt. Die Erklärung stützt sich dabei auf die internen Generalisierungen der Naturgesetzaussage. Dagegen wird in der Erklärung vorausgesetzt, dass der Zustand des Steins mit Hilfe der Gleichung s = ½ gt2 zu berechnen ist. Es wird vorausgesetzt, dass das Gesetzesprädikat Σ auf den Stein zutrifft.

Allgemein lässt sich festhalten, dass bei Standarderklärungen wie der obigen (Erklärung des Zustands eines Systems auf der Grundlage von Anfangsbedingungen und Gesetzesgleichung) die externe Generalisierung eine Begründung dafür liefert, dass das explanans für das explanandum überhaupt relevant ist (sie gibt also einen „role justifying ground“ an). Die externe Generalisierung ist nicht Teil des explanans, sondern Voraussetzung dafür, dass mithilfe der Gleichungen eine Erklärung gelingen kann. Interne Generalisierungen treten typischerweise explizit in Erklärungen auf und beschreiben, wie bestimmte Größen von anderen abhängen.

5. Modale Aspekte von Naturgesetzaussagen

Dafür, dass Erklärungen, die sich auf Naturgesetzaussagen stützen, gelingen, ist erforderlich, dass das Gesetzesprädikat Σ auf das fragliche System zutrifft. Dazu muss die externe Generalisierung bloß wahr sein. Eine Begründung dafür, dass das explanans für das explanandum überhaupt relevant ist, verlangt nicht, dass die durch das Gesetzesprädikat Σ zugeschriebene Eigenschaft dem System mit Notwendigkeit (sei es essentiell oder dank einer Armstrongschen Erzwingungsrelation) zukommt. Um die wissenschaftliche Praxis von Erklärungen (aber auch von Vorhersagen und experimentellen Eingriffen) verständlich zu machen, ist es im Blick auf die Rolle der externen Generalisierungen nicht erforderlich, modale Annahmen zu machen.

Die Situation ist nun aber eine ganz andere in Bezug auf interne Generalisierungen. Ihre Rolle in Erklärungen legen nahe, dass eine modale Struktur beschrieben wird. Das lässt sich mithilfe von Woodwards und Hitchcocks Erklärungsmodell deutlich machen. Ihrer Auffassung zufolge bedienen wir uns bei der Erklärung von Ereignissen (System x befindet sich zu t in Zustand Z) der Naturgesetzaussagen und insbesondere der internen Generalisierungen nicht deshalb, weil sie beschreiben, wie sich ein System tatsächlich verhält, sondern weil sie uns modale Informationen geben. Wir erklären, weshalb ein bestimmtes Gas zu einem Zeitpunkt eine bestimmte Temperatur T0 hat, indem wir zeigen, wie die Temperatur von dem Druck p und dem Volumen V abhängt.17 Woodward und Hitchcock, „Explanatory Generalizations, Part I: A Counterfactual Account“, S. 4. Sie kontrastieren ihre Auffassung mit der Hempels und Oppenheims:

“the generalization … not only shows that the explanandum was to be expected, given the initial conditions that actually obtained, but it can also be used to show how this explanandum would change if these initial and boundary conditions were to change in various ways.”18 ebd., S. 4

Es sind kontrafaktische Konditionale, die denselben Gegenstand betreffen, mit Hilfe derer ausgesagt wird, wie sich das Verhalten der Systeme in Abhängigkeit unterschiedlicher Anfangsbedingungen ändert. Die Gleichung im Galileischen Fallgesetz erlaubt uns zu sagen, wie mit der Höhe die Aufprallgeschwindigkeit variiert. (Wenn er Stein von einer etwas geringeren Höhe fallen gelassen worden wäre, dann wäre die Geschwindigkeit um x geringer ausgefallen.) Wir sehen hier ein, nicht nur dass, sondern auch genau wie die eine Größe von der anderen abhängt. Die dafür relevanten Konditionale stützen sich auf interne Generalisierungen. Interne Generalisierungen beschreiben aber – anders als externe – nicht einfach, was tatsächlich der Fall ist, sondern beschreiben mögliches Verhalten von Systemen.

Dass Naturgesetzaussagen Systemen ein Spektrum möglichen Verhaltens zuschreiben, ist in letzter Zeit vor allem als ein Problem für die Lewis’sche Gesetzeskonzeption diskutiert worden. (Es ist nicht leicht zu sehen, wie das Zulassen eines Möglichkeitsspielraums mit der Forderung nach Informationsstärke zu vereinbaren ist. Darauf werde ich hier aber nicht eingehen). Ned Hall schreibt z. B.:

“it is worth noting that breadth or permissiveness of the [range of initial conditions] makes for a certain kind of explanatory strength. For it is, other things equal, a point in favor of a physical theory that it recognizes a wide range of nomologically possible initial conditions. Compare, for example, Keplerian and Newtonian accounts of the solar system. Granted that the Newtonian account is much more empirically accurate; it is also, from the standpoint of scientific investigation, better in a distinct sense: for it allows us to answer questions not merely about how the elements of the solar system did, do, and will behave, but also about how they would have behaved under alternative physical conditions.“19 Hall, „Humean Reductionism about Laws of Nature“, S. 263.

Interne Generalisierungen allein (d.h. ohne zusätzliche Informationen über Anfangsbedingungen o.ä.) geben uns keinerlei Auskunft über den tatsächlichen Zustand eines Systems. Das lässt sich am Beispiel des ersten Newtonschen Gesetzes erläutern:

„Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.“20 Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 53.

Qua externer Generalisierung wird eine tatsächlich bestehende Regularität beschrieben, nämlich die, dass alle Körper eine gewisse Disposition besitzen, die dann manifest wird, wenn keine externen Kräfte einwirken. Die interne Generalisierung behauptet für jede Geschwindigkeit, dass diese beibehalten wird, macht aber keinerlei Angaben zur tatsächlichen Geschwindigkeit, zum tatsächlichen Zustand des Systems. Es gibt eine unendliche Anzahl von Geschwindigkeitszuständen, die der Körper einnehmen kann. Von jedem dieser Zustände wird gesagt, wie er sich entwickelt, aber keiner dieser Zustände wird als aktual ausgezeichnet. Die internen Generalsierungen, anders als die externen (die allein in der Naturgesetzliteratur diskutiert wurden) beschreiben also nicht, was der Fall ist, sondern allein, was der Fall sein könnte. Mit dem Gesetzesprädikat wird den Gegenständen ein Möglichkeitsraum zugeschrieben – ein Raum möglicher Zustände. Abhängig davon, ob die Gesetze deterministisch sind oder nicht, sind mit diesen möglichen Zuständen durch dynamische Bewegungsgleichungen eindeutige zeitliche Verläufe verknüpft oder aber probabilistische.

Im Falle deterministischer Verläufe haben wir es mit der folgenden Struktur zu tun: Naturgesetzaussagen schreiben Systemen einen Raum möglicher Zustände zu (das wird durch den Wertebereich der internen Generalisierungen deutlich). Darüberhinaus beschreiben die Gleichungen für jeden dieser Zustände, wie er sich entwickeln wird. Bei deterministischen Gesetzen ist dieser Verlauf eindeutig, d.h. gegeben einen Anfangszustand sind zu einem (späteren) Zeitpunkt alle möglichen Zustände bis auf einen ausgeschlossen.

Naturgesetzaussagen haben ihre Bedeutung für die wissenschaftliche und auch für die technische Praxis gerade deshalb haben, weil sie einerseits das Verhalten beschreiben, das für Systeme möglich ist, andererseits das Verhalten bestimmen, das ausgeschlossen werden kann und in diesem Sinne nicht möglich ist.

Angenommen, eine Ingenieurin möchte einen Gasbehälter konstruieren. Dann wird sie – vielleicht auf der Grundlage des idealen Gasgesetzes21 Ideales Gasgesetz: Für ideale Gase gilt die Gleichung pV = νRT, wobei p für den Druck, V für das Volumen und T für die Temperatur steht. R und ν sind Konstanten. – verschiedene Szenarien diskutieren, die die möglichen Zustände von Gasen im Behälter betreffen. Wie groß wäre der Druck auf die Behälteroberflächen, wenn die Temperatur diese oder jene Werte erreichen würde. Für die Beurteilung der Frage, welcher Behälter gebaut werden soll, ist entscheidend, die möglichen Zustände des Systems zu untersuchen, nicht nur diejenigen Zustände, die das Gas dann tatsächlich einnimmt.

Wenn die Gesetze deterministisch sind, können wir verhindern, dass das System für das wir uns interessieren bestimmte Zustände einnimmt. Die Ingenieurin kann sich auf Naturgesetzaussagen verlassen: Wenn bestimmte Anfangszustände gegeben sind und die Naturgesetzaussagen einen deterministischen Verlauf beschreiben, dann ist ausgeschlossen (nomologisch unmöglich), dass bestimmte Zustände, die wir vermeiden möchten, eintreten.

Der Nutzen der Naturgesetzaussagen rührt daher, dass sie einerseits Systemen einen Raum von möglichen Zuständen zuschreiben, andererseits (im Falle von deterministischen Bewegungsgleichungen) bei gegebenen Anfangszustand alle bis auf einen möglichen Endzustand ausschließen.

6. Vielpfadige Dispositionen

In Abschnitt 3 hatte ich für die These argumentiert, dass die Praxis des explanatorischen Extrapolierens (z. B. von einer Situation ohne Störfaktor zu einer Situation mit Störfaktor) vielpfadige Dispositionen voraussetzt. In dem Zusammenhang hatte ich über die internen Generalisierungen, die die verschiedenen Werte von Variablen betreffen, noch gar nicht geredet. Der Umstand, dass wir es mit einem Gesetz zu tun haben, das für verschiedene Variablenwerte unterschiedliches Verhalten vorhersagt, führt dazu, dass wir es hier mit einem zweiten Mechanismus zu tun haben, der Vielpfadigkeit generiert.

Bei gegebenen Störfaktoren gilt nämlich, dass z. B. aus dem idealen Gasgesetz eine Vielzahl von Generalisierungen folgt:

I Für jedes ideale Gas gilt: Wenn p=p0 und V=V0 dann wird T den Wert T0 annehmen.

II Für jedes ideale Gas gilt: Wenn p=p1 and V=V1 dann wird T den Wert T1 annehmen.

III Für jedes ideale Gas gilt: Wenn p=p2 and V=V2 dann wird T den Wert T2 annehmen.

Auch hier kann man fragen, ob wir es mit einer Vielzahl von einpfadigen Dispositionen oder mit einer vielpfadigen Disposition zu tun haben. Auch hier gilt, dass die Annahme einpfadiger Dispositionen manche Aspekte der wissenschaftlichen Praxis rätselhaft erscheinen ließe. Wenn wir es mit disjunkten Dispositionen und dementsprechend mit disjunkten Gesetzen zu tun hätten, wäre unverständlich, weshalb eine erfolgreiche Bestätigung von I Evidenz für III sein könnte und umgekehrt.

Wir haben zwei verschiedene Mechanismen diskutiert, die dazu führen, dass die von Naturgesetzaussagenn zugeschriebenen Dispositionen vielpfadig sind. Einerseits sind dies die durch die internen Generalisierungen beschriebenen Pfade und andererseits die durch die verschiedenen möglichen externen Faktoren generierten Störmöglichkeiten. Hier liegt aber kein in der Sache begründeter Unterschied vor. Die Unterscheidung verdankt sich der Art und Weise wie die Grenzen des betrachteten Systems gezogen wurden. Externe Faktoren (z. B. eingedrückte Kräfte im Falle des 1. Newtonschen Gesetzes) können in das System integriert werden und werden somit zu Pfaden, von denen interne Generalisierungen handeln (z. B. Kräfte im Falle des 2. Newtonschen Gesetzes). Die Physik gibt uns ein begriffliches Repertoire an die Hand, das uns erlaubt, interne Möglichkeiten (interne Vielpfadigkeit) und externe Störungen (externe Vielpfadigkeit)22 Während die interne Vielpfadigkeit sich den internen Generalisierungen verdankt, rührt die externe Vielpfadigkeit von möglichen Störfaktoren her (die nichts mit externen Generalisierungen zu tun haben.) getrennt zu beschreiben, aber die Physik schreibt uns nicht vor, wie wir die Grenzen eines Systems zu ziehen haben. Es gibt daher immer die Option einer inklusiven Beschreibung, die alle Pfade zu internen werden lässt.

7. Konditionale Notwendigkeit

Naturgesetzaussagen schreiben Systemen Möglichkeitsspielräume (und damit vielleicht so etwas wie Potentiale) zu. Das zeigt sich daran, dass eine solche Beschreibung sich typischerweise auf Variablen stützt, die viele unterschiedliche Werte annehmen können. Die möglichen Zustände eines Gases, werden durch die Variablen p, V und T charakterisiert, die zunächst einen dreidimensionalen Raum aufspannen (je eine Dimension pro Variable). Die Gasgleichung schränkt die möglichen Zustände auf eine zweidimensionale so genannte Hyperfläche ein. Alles was auf dieser Fläche liegt, ist nomologisch möglich, alles was nicht auf dieser Fläche liegt ist nomologisch unmöglich.

Das Gasgesetz ist insofern besonders als es ein Zustandsgesetz ist, d.h. mögliche Zustände zu einem bestimmten Zeitpunkt einschränkt. Dagegen schränken das erste und zweite Newtonsche Gesetz oder die Schrödingergleichung mögliche Zeitverläufe (und damit aufeinander folgende Zustände) ein.

An verschiedenen Stellen habe ich behauptet, dass Naturgesetzaussagen beschreiben, dass bestimmte Zustände (nomolgisch) unmöglich sind. Ich will hier abschließend noch etwas zu dem Begriff von Notwendigkeit sagen, der für Naturgesetzaussagen einschlägig ist.

Wenn behauptet wird, eine Proposition oder ein Sachverhalt sei (metaphysisch) notwendig, wird dies oft dadurch erläutert, dass der Sachverhalt oder die Proposition in allen möglichen Welten oder Situationen besteht oder gilt. Alles andere in diesen Welten oder Situationen ist offensichtlich irrelevant und hat keinen Einfluss darauf, ob z. B. 2 + 2 = 4 gilt.

Das Verhalten, das Naturgesetzaussagen Systemen zuschreiben, gilt nicht mit absoluter Notwendigkeit, sondern mit konditionaler Notwendigkeit. So z. B. im Falle des 1. Newtonschen Gesetzes: Wenn es keine äußeren einwirkenden Kräfte gibt und die Ausgangsgeschwindigkeit eines Körpers in eine bestimmte Richtung v beträgt, dann wird auch die sich ergebende Geschwindigkeit in diese Richtung v betragen, unabhängig davon, was sonst so wahr ist. Das scheint mir ein Fall von bedingter (konditionaler) Notwendigkeit zu sein. Was ich unter diesem Begriff verstehe, möchte ich noch etwas erläutern.

Exkurs: Suárez und die bedingte Notwendigkeit

Dass Ursachen mit ihren Wirkungen notwendig verknüpft sind, fällt für Suárez in die Kategorie „leicht zu zeigen“. Seine 19. Metaphysische Disputation beschäftigt sich mit der Unterscheidung von Ursachen, die notwendig wirken, und solchen, die frei oder kontingent wirken.23 Suárez, „Disputationes Metaphysicae“, Bd. 25: 696; DM 19, 2,12. Die Frage, ob es notwendig wirkende Ursachen gibt, beantwortet Suárez wie folgt:

„Diese Frage ist einfach zu beantworten. […] Das ist offensichtlich durch die Erfahrung und durch einfache Induktion. Denn die Sonne erleuchtet notwendigerweise und das Feuer bringt notwendigerweise Wärme hervor. Der Grund dafür rührt von der intrinsischen Bedingung und Bestimmung der Natur […] her.“24 ebd., Bd. 25: 688; DM 19, 1,1

Allerdings wird die Notwendigkeit, die Suárez anführt, in einem gewissen Sinne relativiert. Die These lautet nämlich, genauer, dass solche Ursachen mit Notwendigkeit wirken, sofern alles, was zum Wirken erforderlich ist, gegeben ist.25 Suárez, „Disputationes Metaphysicae“, Bd. 25: 688; DM 19, 1,1 . Diese Formulierung ist nicht als Trivialisierung der Notwendigkeit aufzufassen, da sich gestützt auf empirische Untersuchungen angeben lässt, welche Faktoren dies sind. Suárez listet diese Faktoren auf.26 Vgl. ebd., Vol. 25 and 26, ed. M. André und C. Berton (Hildesheim), Bd. 25: 688-689; DM 19, 1,2-4; Walter R. Ott, Causation and Laws of Nature in Early Modern Philosophy (Oxford: Oxford University press), S. 24. Die Ursachen wirken also mit bedingter Notwendigkeit. Suárez bestreitet also nicht, dass eine Eichel manchmal keine Eiche hervorbringt. Es gilt aber: Wenn die Eichel bestimmten Bodenbedingungen ausgesetzt ist, die Temperatur bestimmte Werte hat, die Wasserzufuhr etc. geregelt ist, dann geht aus der Eichel nicht bloß zufällig, sondern mit Notwendigkeit eine Eiche hervor.

Suárez lässt auch explizit die Möglichkeit zu, dass die Wirkung einer Ursache durch eine andere modifiziert oder unterdrückt wird. Wenn aber solche Störfaktoren abwesend und alle anderen erforderlichen Faktoren anwesend sind, dann kann selbst Gott das Eintreten der Wirkung nicht mehr modifizieren oder aufheben.

„Wenn man die Sache sorgfältig betrachtet, dann kann auch Gott nicht durch Komposition (wie man das nennt) bewirken, dass eine Ursache, die durch ihre Natur notwendig wirkt, nicht ihre Wirkung hervorbringt, wenn alle erforderlichen Faktoren vorhanden sind. Er ist lediglich in der Lage, eines der erforderlichen Dinge zu entfernen.“27 Suárez, „Disputationes Metaphysicae“, Bd. 25: 692; DM 19, 1,14.

Das Feuer bringt seine Wirkung, die Wärme, mit bedingter Notwendigkeit hervor, qua Natur des Feuers und falls alle erforderlichen Faktoren vorhanden sind.

Ende des Exkurses

Was genau ist bedingte Notwendigkeit? Zu behaupten dass, z. B. eine Disposition D das Verhalten M, zu dem sie disponiert, mit bedingter Notwendigkeit manifestiert, bedeutet, dass, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, z.B. keine äußeren einwirkenden Kräfte und die Anfangsgeschwindigkeit v, dann D M mit Notwendigkeit manifestiert. Haben wir es hier noch mit Notwendigkeit zu tun? Ist es nicht ein wesentliches Merkmal, dass für Notwendigkeit eine Art von Monotonie gilt? 2+2=4 ist notwendige Wahrheit genau deshalb, weil der Sachverhalt 2+2=4 besteht, unabhängig davon, welche Sachverhalte ansonsten bestehen. Man kann also zu 2+2=4 beliebige Sachverhalte ‚hinzufügen’, ohne an 2+2=4 etwas zu verändern. Das trifft auf Naturgesetzaussagen aber gerade nicht zu, denn Störfaktoren verändern das Verhalten der Systeme. Ist also ‚bedingte Notwendigkeit’ nur ein anderer Ausdruck für ‚Kontingenz’? Das scheint nicht Suárez’ Auffassung zu sein. Zwar bringt das Feuer die Wärme nicht mit absoluter Notwendigkeit hervor, aber wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, dann kann nicht einmal Gott verhindern, dass Feuer Wärme hervorbringt. Es handelt sich durchaus um einen Begriff von Notwendigkeit, denn – gegeben bestimmte Bedingungen, die natürlich spezifizierbar sein sollten – kann an dem Sachverhalt, dass Feuer Wärme hervorbringt, durch Hinzufügen beliebiger anderer Sachverhalte nichts geändert werden.

Diese Überlegungen legen die folgende Charakterisierung nahe:

Ein Sachverhalt s gilt mit bedingter Notwendigkeit relativ zu Sachverhalten sb genau dann, wenn – gegeben eine Reihe von Sachverhalten sb – man jeden beliebigen Sachverhalt si hinzufügen kann und damit am Bestehen des Sachverhalts s nichts geändert wird.

Mithilfe des Begriffs der bedingten Notwendigkeit lässt sich abschließend die modale Struktur, die Naturgesetzaussagen Systemen zuschreiben, charakterisieren. Einerseits werden die Systeme mit einem Raum möglicher Zustände ausgestattet (der die verschiedenen Wertekombinationen umfasst, die die Variablen einnehmen können), andererseits wird für jeden einzelnen Zustand beschrieben, wie sich das System entwickeln würde, falls es in dem Zustand wäre – (abgesehen von quantitativ beschreibbaren Störfaktoren) unabhängig davon, was sonst in der Welt passiert, d.h. mit bedingter Notwendigkeit.

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