Allmacht und Gedankenexperiment Anknüpfen an Blumenberg
Allmacht und Gedankenexperiment Anknüpfen an Blumenberg
I. Allmacht, Gedankenexperiment, Gewissheit
Dass auch das Mittelalter Gedankenexperimente kannte, ohne diese so zu nennen, ist keine neue Behauptung1. Ich möchte hier dem Zusammenhang zwischen Gedankenexperiment und der Idee der göttlichen Allmacht nachgehen2 Hans Blumenberg behauptet einen solchen Zusammenhang in der ‚Legitimität der Neuzeit‘, und dieser Zusammenhangt scheint für seine These der im Spätmittelalter einsetzenden Selbstbestimmung des Menschen in erkenntnistheoretischer Hinsicht ebenso zentral zu sein wie in moralischer Hinsicht die von Blumenberg diagnostizierte ‚nominalistische‘ Konzeption eines Willkürgottes. Denn erst Überlegungen zur göttlichen Allmacht, befeuert durch die Pariser Verurteilung von 1277, hätten die naturphilosophischen Gedankenexperimente des 14. Jahrhunderts ermöglicht. Zugleich sieht Blumenberg diese unter dem dunklen Stern einer reduzierten Wirklichkeitsgewissheit, aus der heraus sich die Rehabilitierung der Neugierde entwickelt. Blumenberg ist so verstanden worden, dass er die Debatte um Gottes Potenzen als Bedrohung ganz realer Täuschungsmanöver missverstanden habe, und ihm ist der Einwand gemacht worden, dass jene Überlegungen, die mit einem göttlichen Eingriff spekulieren, diesen gerade nicht als real annahmen. Genau deswegen seien es auch Gedankenexperimente als rein kontrafaktische Überlegungen gewesen. Gewissheitskrisen konnten derartige Überlegungen, die mit der Allmacht Gottes operieren, also gar nicht auslösen. Das scheint mir jedoch mit Blick auf die Position, die Blumenberg der spätmittelalterlichen Philosophie im ‚Prozeß der theoretischen Neugierde‘ zuweist, zu kurz gegriffen3
Um die Frage nach dem Zusammenhang von der Idee der göttlichen Allmacht und philosophischem Gedankenexperiment mit Blick auf Blumenbergs Thesen nachzugehen, werde ich exemplarisch drei – von Blumenberg selbst nicht erwähnte – Gedankenexperimente zum Verhältnis von Leib und Seele untersuchen: Thomas von Aquin erwägt, dass es eine Gesellschaft von Menschenfressern gibt, die sich ausschließlich von anderen Menschen ernähren. Können also wirklich alle früheren Leiber wiederauferstehen und mit ihren Seelen verbunden werden? Wilhelm von Ockham fragt, ob wir es noch mit einem Lebewesen zu tun haben, wenn Gott einen Menschen seines Intellekts beraubt, aber dessen Wahrnehmungsseele im Leib verbleiben lässt. Johannes Buridan erwägt, wie die menschliche Seele beschaffen sein könnte, wenn diese unsterblich sein soll.
In allen drei Szenarien handelt es sich um Gedankenexperimente, in denen ein Eingriff Gottes je unterschiedlich in die Überlegung einfließt. Für die Existenzannahme von Menschfressern bedurfte Thomas nicht der zusätzlichen Annahme eines göttlichen Eingriffs, sondern ging davon aus, dass sie der Wirklichkeit entsprechen. Allerdings ist für ihre Wiederauferstehung Gott bei der Wiederherstellung ihres quantitativen Materials des Leibes gefragt. Ockham konstruiert vor dem Hintergrund der göttlichen Allmacht eine kontrafaktische Situation, um die Frage der Einheit von Leib und verschiedenen Seelenformen zu diskutieren. Ockham geht jedoch nicht davon aus, dass Gott tatsächlich in dieser Weise menschliche Seelen trennt. Buridan hingegen ist (auch institutionell) veranlasst, ein übernatürliches Eingreifen Gottes anzunehmen, um die menschliche Seele als unsterblich zu verstehen. Vom Standpunkt der natürlichen Vernunft muss ihm das aber als kontrafaktisch erscheinen. Buridan aber versucht, das Wunder zu rationalisieren.
II. Thomas’ Menschenfresser
Die Annahme eines allmächtigen Gottes, dessen als notwendig erachtete Naturzusammenhänge entzweiender Eingriff sich zur Konstruktion eines kontrafaktischen Szenarios eignet, ist keine notwendige Voraussetzung für Gedankenexperimente, auch nicht im Mittelalter4 Ein gutes Beispiel dafür ist Thomas’ von Aquin Szenario eines Menschenfressers, welches er als Einwand gegen die Möglichkeit der allgemeinen Wiederauferstehung anführt, der zufolge am Ende aller Tage alle Verstorbenen wieder einen Leib erhalten, allerdings nicht irgendeinen, sondern den, der numerisch identisch ist mit dem, welchen sie zu Lebzeiten hatten. Einsprüche vonseiten der natürlichen Vernunft liegen auf der Hand: Entseelte Leiber verrotten und lösen sich auf. Dies müsste rückgängig gemacht werden. Selbst wenn dies möglich sein sollte, so scheint Anthropophagie einen Beleg dafür zu liefern, dass die Wiederherstellung von Leibern nicht trennscharf möglich ist, denn hier gehen Leiber durch Verdauung ineinander über5
Von unterschiedlichen Ausformungen der Anthropophagie wussten Zeitgenossen von Thomas zu berichten. Der Franziskaner Wilhelm von Rubruk etwa, der zur selben Zeit wie Thomas in Paris studierte, unternahm von 1253 bis 55 im Auftrag König Ludwigs IX. von Frankreich eine Expedition zu den Mongolen, auch um angesichts der zunehmend als bedrohlich empfundenen Mongoleneinfälle in Erfahrung zu bringen, ob diese etwa mit den in der Johannesoffenbarung beschriebenen Endzeitvölkern Gog und Magog in Verbindung zu bringen seien. In Wilhelms Bericht, dessen Überlieferung wir Roger Bacon zu verdanken haben, heißt es von den Tibetern, dass sie einst ihre Verstorbenen aus Pietätsgründen verspeist hätten6 Aus einem früheren Reisebericht in die Mongolei entnehmen wir bei Wilhelms Ordensbruder Johannes von Plano Carpini, dass die Mongolen sich in Notlagen von Menschenfleisch ernährten7 Neben diesen seriösen Berichten gab es allerdings auch apokalyptisch aufgeladene Erzählungen aus der Fremde, die von Gog und Magog als einer einzigen Menschenfressergesellschaft zu fabulieren wussten8
Gog und Magog bezeichnet Thomas zwar als Vorboten des Antichristen9, in den drastischen Erzählungen von ‚Menschenfresservölkern‘ mag er hingegen hemmungslose Übertreibungen gesehen haben. Die Kunde von Anthropophagie aber verarbeitet er geschickt zu einem Prüfstein für die allgemeine Wiederauferstehung:
„Es kommt zuweilen vor, dass Menschen von Menschenfleisch zehren; und dass sie sich ausschließlich davon ernähren; und dass die so Genährten Kinder zeugen. Dasselbe Fleisch wird daher in vielen Menschen vorgefunden. Es ist aber nicht möglich, dass es in allen wiederaufersteht. Anders allerdings scheint es keine allgemeine und vollständige Wiederauferstehung zu geben, wenn nicht jeder das wiedererlangt, was er einst hatte. Eine zukünftige Wiederauferstehung der Menschen scheint daher unmöglich zu sein.“10
Thomas’ Formulierung scheint auf den ersten Blick darauf hinzuweisen, dass er den Einwand gegen die Möglichkeit der allgemeinen Wiederauferstehung als empirischen versteht, auch wenn er selbst nie einem Menschenfresser begegnet ist, wohl aber von ihnen durch Hörensagen erfahren hat: „Es kommt zuweilen vor (contingens est quandoque), dass […]“. Zugleich können wir in Thomas’ Formulierung eine rhetorische Zuspitzung sehen, die in den Bereich des Hypothetischen vordringt. Wenn es einen Menschenfresser gibt, dann vielleicht ganze Menschenfressergesellschaften. Dem Argument ist diese Zuspitzung nur zuträglich, denn so kann der Einwand darauf hin konstruiert werden, dass nicht nur Teile von Leibern für die Wiederauferstehung verlustig gehen würden, sondern ganze Leiber. Ein Gedankenexperiment scheint mir hier vorzuliegen, nicht weil Thomas selbst sich Menschenfresser lediglich vorstellen konnte, statt direkte Erfahrung von ihnen zu machen, sondern aufgrund der literarischen Form des Arguments11 Das von Thomas entwickelte Szenario hat rhetorische Kraft und mutet darin ähnlich bizarr an wie moderne philosophische Gedankenexperimente. Weder formuliert Thomas eine kontrafaktische Annahme, die unter den zu seiner Zeit als gegeben erachteten Umständen nie der Fall sein kann, noch handelt es sich um eine rein empirische Feststellung, die er als Beleg gegen die Wiederauferstehung verwendet.
In diesem Bild der sich über Generationen hinweg ausschließlich von Menschenfleisch ernährenden Menschen spitzt Thomas das Problem der Identität von Leibern zu: Es gibt nicht genügend Leiber für alle, um wiederaufzuerstehen. Entweder stehen Menschenfresserleiber wieder auf, dann aber nicht diejenigen Leiber, von denen sie sich ernährt haben. Oder es stehen die von Menschenfressern gefressenen Leiber wieder auf, dann aber nicht die Menschenfresserleiber, die einst aus ihnen bestanden.
Gegen diesen Einwand versucht Thomas die Wiederauferstehung zu rechtfertigen, indem er präzisiert, was es heißt, dass ein wiederauferstandener Körper mit dem vergangenen numerisch identisch ist. Entscheidend ist nicht, dass exakt dasselbe Fleisch wiederaufersteht, denn das scheint ja aufgrund der mannigfachen Transformationsprozesse, die Leiber schon zu Lebzeiten durchlaufen, unmöglich zu sein. Dennoch betont Thomas: Das vom Menschenfresser verdaute Fleisch wird im Leib des von ihm Gefressenen wiederhergestellt werden, da er ein größeres Anrecht darauf hat, während der Menschenfresser wieder mit der Quantität auferstehen wird, die er aufgrund anderer Nahrungsaufnahme gewonnen hat. Sollte er sich aber ausschließlich von Menschen ernährt haben, dann wird er die Quantität erhalten, die er im Zuge embryonaler Entwicklung erlangt hat. Wenn jedoch auch seine Eltern sich ausschließlich von Menschen ernährt haben, dann wird er nur aus der durch die fortpflanzungsmäßige Vereinigung seiner Eltern hervorgegangenen Masse wiederauferstehen. Alle übrige quantifizierte Materie, die für einen funktionsfähigen Leib nötig ist, wird ersatzmäßig durch göttliche Hilfe bereitgestellt12
Um dieselben Leiber wiederum soll es sich bei der Wiederauferstehung genau deswegen handeln, weil die Seele das eigentliche Prinzip der Leiblichkeit sei. Bei der Wiederauferstehung geht es also letztlich nicht darum, dass mein Leib wieder dieselben Materiestücke erlangt, sondern nur das gleiche Maß an quantifizierter Materie. Dieser wiederauferstandene Leib kann aber nur deswegen als mit meinem früheren identisch gelten, weil er in derselben Weise strukturiert ist, wie dies einst der Fall war. Diese Struktur wiederherzustellen, kommt aber der Seele zu. Thomas drückt dies so aus, dass das ‚Sein‘ des mit der Seele vereinigten Körpers in der abgetrennten Seele verbleibt und daher der frühere Körper wiederaufersteht, sobald die Seele ihn re-konstituiert13 Im Sinne des Hylemorphismus macht Thomas damit deutlich, welch entscheidende Rolle die Form als Strukturprinzip für die Individuation eines Körpers spielt. Nur dank der Seele ist ein Leib überhaupt dieser Leib mit einer bestimmten Struktur und Funktionstüchtigkeit14
Das Szenario vom Menschenfresser entnehmen wir der ‚Summa contra Gentiles‘, mit der Thomas, wie der ausführliche Titel besagt, ein „Buch über die Wahrheit des katholischen Glaubens gegen die Irrtümer der Ungläubigen“ vorlegen wollte. Diese Wahrheit kann Thomas zufolge auf zwei Wegen erkannt werden: einmal darüber, was die natürliche Vernunft von Gott erkennen kann, zum anderen darüber, was diese übersteigt und nur durch den Glauben erfasst werden kann. Glaube und Vernunft sollen sich dabei nicht widersprechen können. Wenn daher „die Ungläubigen“ (antike Philosophen, Muslime, Juden und zeitgenössische Häretiker) zu Sätzen gelangen, die dem (katholischen) Glauben widersprechen, so kann dies nur auf einem methodischen Fehler beruhen (non recte procedere)15 Die methodischen Fehler aufzuzeigen, ist folglich die Aufgabe dieses Werks. Die philosophischen Irrtümer klärt Thomas philosophisch, allerdings durch eine von der Theologie vorgegebenen Ordnung, was nicht unpassend als „philosophy from the top down“16 bezeichnet worden ist.
Von den schwereren Vorwürfen, die man gegenüber philosophischen Gedankenexperimenten erhebt17, lautet einer, dass es sich bei ihnen um reine „Intuitionspumpen (intuition pumps)“18 und weniger um Argumente handelt. Wer die Intuition nicht teilt, den wird das Experiment nicht überzeugen. Gegen Thomas’ Menschenfresser ließe sich der Vorwurf machen, dass es das eigentliche Problem hinter seiner bizarren Kondensierung verschleiert: Keineswegs ist es so, dass Leiber nach Abtrennung der Seele einfach „ins Nichts fallen (in nihilum cedere)“19, wie Thomas einen Einwand gegen die Wiederauferstehung konstruiert, weswegen es nur sinnvoll ist, die Wiederauferstehung nur mit Blick auf die Identitätsstiftung der Seele für den Körper zu verstehen. Entseelte Leiber verrotten nicht ins Nichts, sondern ihre Auflösung bedeutet ihre Transformation in Material, das für die Entstehung neuer Lebewesen dienen kann. So verdauen über Jahrhunderte hinweg beseelte Wesen auch das Material anderer zuvor beseelter Wesen und, über Umwege, möglicherweise auch menschliche Leiber letztlich andere zuvor existierende menschliche Leiber. Ganz ohne Menschenfresser wird Gott eine erhebliche Menge von materia signata vergangener Leiber zur Verfügung stellen müssen, um sie alle wieder in ihre früheren quantitativen Maße zu bringen. Die Leiblichkeit, um deren numerische Identität es aber geht, verschiebt Thomas damit komplett auf die Seite der Seele.
III. 1277 – Urkunde der Allmacht Gottes als Lizenz zum Gedankenexperiment?
Es gibt in Thomas’ Plausibilisierungsversuch für die natürliche Vernunft eine Grenze, die er möglichst weit verschiebt, die aber eine Grenze rationaler Erklärung für die Wiederauferstehung bleiben muss. Wie es Gott etwa bewerkstelligen soll, das nötige Material zur Verfügung zu stellen, bleibt ungelöst und kann wohl nur vor dem Hintergrund der ersten beiden Bücher der ‚Summa contra Gentiles‘ verstanden werden, wo Thomas zuerst Gottes Existenz und dann seine Eigenschaft als Schöpfer aller Dinge zu beweisen versucht. Wer einmal alles aus dem Nichts erschaffen hat, der wird auch später zusätzliche quantifizierte Materieportionen bereitstellen können.
Die Wiederauferstehung ist auch Gegenstand der im Jahre 1277 durch den Pariser Bischof Tempier verurteilten 219 Thesen, die angeblich von Mitgliedern der Pariser Artistenfakultät vertreten worden waren. Die These 18, die künftige Wiederauferstehung könne von einem Philosophen nicht akzeptiert werden, da es unmöglich sei, sie mit der Vernunft zu fassen, wird hier als Irrtum deklariert, „weil auch der Philosoph seinen Geist gefangen nehmen soll im Gehorsam gegenüber Christus.“20 Luca Bianchi hat auf das Pauluszitat (II Cor 10,5) im Hintergrund hingewiesen sowie dessen Indienstnahme durch Bonaventura, der in seinen Universitätspredigten 1268 behauptete, ähnliches bei Augustinus zu lesen (eine sehr freie Zuschreibung, wie Bianchi festhält)21 Mit der Urteilsbegründung ist Augustinus’ Vorbehalt gegenüber der curiositas gleichwohl mit angesprochen: Der Philosoph versündige sich nicht nur, wenn er seine Wissenschaft nicht in den Dienst der Theologie stellt, schlimmer noch: Verliebt in die Grenzen seines Faches, frevele er gegen den Glauben, wenn er behauptet, dass das, was sich mit rein rationalen Mitteln nicht zeigen lässt, allein deswegen unmöglich sein soll. Solchem Erkenntnisstreben sei nicht mehr die Demut der studiositas eigen, sondern der Hochmut der curiositas22
Nach Hans Blumenberg ist es die Frage nach der göttlichen Allmacht, „die im spätmittelalterlichen Nominalismus ihre destruktive Brisanz gegen das System des scholastischen Rationalismus gewinnen sollte und zu den Gedankenexperimenten der ockhamistischen Naturphilosophie die Lizenz geben wird“ auf Kosten „der menschlichen Freiheit und Wirklichkeitsgewißheit“23 Als „Urkunde dieser Lizenz“24 gilt Blumenberg die Verurteilung von 1277, dessen thematisches Zentrum er in dem Hinweis sieht, dass die aristotelisch-naturphilosophischen Beweise etwa zur Ewigkeit und Einzigkeit der Welt oder der Unmöglichkeit eines Vakuums die göttliche Allmacht beschränken würden. Ohne den Rückhalt dieser Verurteilung wäre jene „freie Variation aller bis dahin gültigen kosmologischen Sätze“25 wie wir sie im 14. Jahrhundert beobachten könnten, undenkbar gewesen, da die Verurteilung sie geradezu provoziert hat mit dem Insistieren darauf, dass Gott die Dinge anders machen könnte, als die Philosophie behauptet.
Von der Kritik an Blumenbergs einseitiger Fixierung auf einen Nominalismus und die tragende Rolle Ockhams abgesehen26, ist ihm der Vorwurf gemacht worden, die theoretischen Überlegungen zur Allmacht Gottes überschätzt zu haben. Jene Überlegungen zum Verhältnis von Gottes absoluter und anordnungsmäßiger Macht, der potentia absoluta und der potentia ordinata, seien selbst nur „gedankliche Übung“27 gewesen, um über Gottes Potenzen an sich nachzudenken, ohne dass damit ein tatsächlicher Eingriff angenommen worden wäre28 Philosophische Überlegungen, die dann mit dem Verweis auf die göttliche Allmacht gerahmt wurden, implizierten gerade nicht, dass das, was Gott qua absoluter Macht möglich ist, auch tatsächlich gegen die Naturnotwendigkeiten gemäß seiner anordnungsmäßigen Macht durchgesetzt wird. Die Funktion dieser Überlegungen sei vielmehr rein theoretischer Natur gewesen, um logische Möglichkeiten zu durchdenken und Theorien auf ihre metaphysischen Grundlagen zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Genau das lässt sie dann als philosophische Gedankenexperimente verstehen29 Überlegungen zur Allmacht Gottes konnten damit gar nicht die von Blumenberg diagnostizierte „Epochenkrise“ auslösen, die dazu geführt habe, dass jedes „Weltvertrauen“ verloren gegangen sei30
Diese Einwände wiegen umso schwerer, als Blumenberg ja selbst von Gedankenexperimenten spricht31 Er hat dabei jene naturphilosophischen Überlegungen etwa zur Möglichkeit des Vakuums im Auge: Könnte Gott in die Welt eingreifen und ein Vakuum existieren lassen? Dieser von Blumenberg konstruierte Zusammenhang zwischen der Annahme eines allmächtigen Gottes und der Ermöglichung des Gedankenexperiments ist nicht unmittelbar einsichtig. Denn entweder wird angenommen, dass Gottes Allmacht nur als Vehikel genommen wird, um ein Gedankenexperiment zu konstruieren, wie Blumenbergs Kritiker betonen, der beschriebene Sachverhalt ist dann aber bewusst als kontrafaktisch gesetzt; oder man geht von einem tatsächlichen Eingriff Gottes aus, scheint es dann aber nicht mehr mit einem Gedankenexperiment zu tun zu haben, weil ein solches Szenario gerade kein kontrafaktisches mehr ist. Es wäre dann nur noch eine Frage, wie man dieses Vakuum finden könnte, das Gott irgendwo geschaffen hat32.
Während schon vor 1277 die Möglichkeit eines Vakuums gedanklich in Erwägung gezogen wurde, ohne dass dafür ein Verbot mit dem Hinweis auf Gottes direkten Eingriff als Anschub dienen musste33, so kommen danach Gedankenexperimente auf, die zwar sowohl den Hinweis auf die Pariser Verurteilung enthalten als auch mit dem Verweis auf Gottes Allmacht eingeführt werden, ohne dass damit aber ein tatsächliches Eingreifen Gottes befürchtet worden wäre.
IV. Ockhams Zombie
Ein solches Gedankenexperiment finden wir bei Wilhelm von Ockham, der bei Blumenberg Pate steht für die durch die Verurteilung von 1277 befeuerte Gewissheitskrise im Angesicht der göttlichen Allmacht. Es betrifft zwar nicht – wie bei Ockhams intuitiver Erkenntnis von durch Gott zerstörte Gegenstände – die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, aber dessen Selbstverständnis als vernunftbegabte Einheit von Körper und Geist
Im Unterschied zu Thomas behauptet Ockham, dass der beseelte Leib nicht das Kompositum aus Materie und nur einer Seele ist, sondern aus einer Mehrzahl von substantiellen Formen besteht. Die real voneinander verschiedenen metaphysischen Teile des Menschen sind Ockham zufolge: (i) die Materie, (ii) die Form der Leiblichkeit, (iii) die Form der Seele, die vegetative und sensitive Funktionen erfüllt (Ockham nennt sie die Wahrnehmungsseele) und schließlich (iv) die Form der Seele, welche die Vermögen des Verstandes und des Willens besitzt (der Intellekt). Materie bildet zusammen mit der Form der Leiblichkeit den menschlichen Leib, der dann dank der beiden substantiellen Seelenformen ein beseelter Leib ist und entsprechende Funktionen aufweist. Als organgebundene Seele unterscheidet Ockham nicht noch einmal zwischen der vegetativen und sensitiven Seele, sondern fasst sie als eine substantielle Form auf. Ockham hält es aber für zwingend notwendig, dass diese körpergebundene Seele und der immaterielle Intellekt real verschieden sind, denn diese beiden Formen weisen wesentlich miteinander unvereinbare Naturen auf34
Ockham ist bemüht, den naheliegenden Einwand zu entkräften, dass seine Konzeption einer Pluralität von substantiellen Formen die metaphysische Einheit des Menschen gefährde. Selbst wenn der Mensch metaphysisch komplex aufgebaut ist, so soll dies nicht nach Art eines Aggregats verstanden werden. Der Intellekt soll die eigentliche Vervollkommnung des Menschen sein und alle anderen Komponenten vereinigen. Wenn aber Wahrnehmungsseele und Intellekt real verschieden sind, könnte ein Mensch seines Intellekts beraubt werden und gleichwohl weiter lebendig bleiben aufgrund seiner Wahrnehmungs- und Vegetativseele? Dies ist ein Test für Ockhams These von der engen Zusammengehörigkeit der beiden Seelenformen, auch wenn es sich um real verschiedene Dinge handelt. Ockham wirft dieses Problem auf, indem er auf die verurteilte These 114 des Syllabus von 1277 verweist, die behauptet, dass immer noch ein lebendiges Wesen verbleiben würde, wenn die vernunftbegabte Seele von einem Lebewesen getrennt würde35 Als Begründung für diesen Einwand führt Ockham an, dass man mit Aristoteles annehmen müsse, dass, wenn bei der Entstehung eines Menschen zuerst die Wahrnehmungsseele und dann der Intellekt eingeführt würden, beim Vergehen des Leibes zuerst der Intellekt und erst danach die Wahrnehmungsseele diesen verließen. Sollte, schließt Ockham einen weiteren Einwand an, aber die Wahrnehmungsseele ohne Intellekt verbleiben, so hätten wir es mit einem Lebewesen zu tun, dass weder (nicht-vernunftbegabtes) Tier noch (vernunftbegabter) Mensch wäre. Dieser Einwand ist aber erst unter der zusätzlichen Annahme plausibel, dass die menschliche Wahrnehmungsseele durch den Intellekt rational gleichsam durchtränkt wird und dies auch in Abwesenheit des Intellekts bleibt. Anders ist es nicht einzusehen, warum das verbleibende wahrnehmungsfähige Lebewesen nicht ohne Vernunftbegabung sein sollte.
Ockham akzeptiert These 114 als Irrtum, negiert aber die andere Annahme und betont, dass Wahrnehmungsseele und Intellekt den Leib weder zeitlich noch logisch gesehen nacheinander, sondern zugleich beseelen. Dementsprechend kann auch ihre Trennbarkeit nicht behauptet werden, weil der Intellekt erst nach der Wahrnehmungsseele den Leib formen würde36. Ockham nimmt allerdings nicht nur an, dass die reale Verschiedenheit zweier absoluter Dinge nur dann ihre Trennbarkeit impliziert, wenn das eine gegenüber dem anderen Priorität genießt wie zum Beispiel im Fall von Substanz und Akzidenz. Dass, wie im Fall der Eucharistie, auch ein Akzidenz ohne die ihm zugrundeliegende Substanz existieren kann, begründet Ockham allerdings mit der göttlichen Allmacht. Die Trennbarkeit real verschiedener Dinge ist in diesem Fall nur aufgrund göttlicher Allmacht möglich und folgt nicht etwa aufgrund der Tatsache, dass es sich hier um real verschiedene Dinge handelt. Reale Verschiedenheit allein impliziert nicht Trennbarkeit, denn sonst könnten geschaffene Dinge ohne Gott existieren, was Ockham für schlechterdings unmöglich hält. Das Prinzip, dass Gott real verschiedene geschaffene Dinge trennen und getrennt in Existenz halten kann, wendet Ockham nun auch auf den Fall der beiden Seelenformen an:37
„[W]enn durch göttliche Macht die Wahrnehmungsseele im Körper verbliebe, wäre diese Zusammensetzung etwas Lebendiges, es wäre aber weder ein vernunftbegabtes Lebewesen noch ein nicht-vernunftbegabtes; es wäre kein Lebewesen, das wirklich in der Gattung der Lebewesen enthalten wäre. […] Dennoch nenne ich all das ein Lebewesen, was eine Wahrnehmungsseele hat, und so ist es sehr wohl ein Lebewesen. Aber dann wird von ,Lebewesen‘ bei diesem und den anderen Lebewesen in äquivoker Weise gesprochen.“38
Angenommen, Gott würde den Intellekt eines Menschen abtrennen, die Wahrnehmungsseele aber im Körper belassen. Was wäre das Resultat dieses Szenarios? Die Filmkultur des 20. Jahrhunderts hat uns das anschaulich auf den Begriff des Zombies bringen können. Ockham behauptet, die Sache müsse weiterhin lebendig sein, schließlich verfüge dieser Körper noch über die Wahrnehmungsseele. Dennoch wäre es kein Lebewesen wie ein Pferd oder ein Hund, die auch nur über eine Wahrnehmungsseele, aber keinen Intellekt verfügen. Als Grund führt Ockham an, dass dieser ‚Untote‘ kein vollständiges Seiendes, keine Substanz wäre, die sich kategorisieren ließe, sondern als Aggregat von Leib und Wahrnehmungsseele darauf angelegt, ein wesentlicher Teil eines substantiellen Ganzen (hier: eines Menschen) zu sein. Gleichwohl scheint Ockham davon auszugehen, dass es sich bei diesem Wesen um ein irgendwie funktionstüchtiges Lebewesen handeln müsse39.
Offensichtlich akzeptiert Ockham die implizite Annahme des Einwandes, dass die menschliche Wahrnehmungsseele rational durch den Intellekt geprägt wird. Anders ist es nicht einzusehen, warum Ockham nicht einfach behauptet, dass das verbleibende Lebewesen nicht zu einer neuen Art der nicht-vernunftbegabten Lebewesen zählen sollte. Ockham versteht den Einwand nicht als Hinweis auf einen Widerspruch, der sich hier dadurch ergäbe, dass der Zombie weder vernunftbegabt noch nicht-vernunftbegabt ist. Denn wäre das der Fall, dann könnte das Gedankenexperiment gar nicht erst starten, denn Gottes Eingriff würde einen Widerspruch implizieren. Dann allerdings dürften Wahrnehmungsseele und Intellekt von Anfang an nicht real verschieden sein, was sie aber sein müssen, damit Gott sie trennen und getrennt voneinander existieren lassen kann. Wenn Ockham darauf schließt, dass wir es beim Zombie nur im äquivoken Sinn mit einem Lebewesen zu tun haben, spricht dies allerdings gerade für seine Konzeption, der zufolge Wahrnehmungsseele und Intellekt trotz realer Verschiedenheit eine enge Einheit bilden, die zwar durch Gott getrennt werden könnte, allerdings mit dem entsprechend merkwürdigen Resultat eines Untoten.
Inwiefern ist Ockhams Gedankenexperiment vom Zombie aber überhaupt daran gebunden, dass Gott eine solche Situation ermöglichen könnte? Die Frage verweist auf die theoretischen Ressourcen, die Ockham zur Verfügung stehen, um allein aus der realen Verschiedenheit von Dingen ihre Trennbarkeit abzuleiten. Soweit ich sehe, steht diese Ockham nur für die Fälle zur Verfügung, in denen eine absolute Sache von einer anderen abhängt wie ein Akzidenz von einer Substanz, sodass letztere unabhängig von ersterer existieren kann, nicht jedoch umgekehrt40 Für den Fall aber, dass zwei real verschiedene Dinge eine gegenseitige existentielle Abhängigkeit aufweisen, werden diese erst durch die Annahme, dass Gott sie qua absoluter Macht trennen kann, befähigt, trennbar zu sein. Es handelt sich dann aber um eine zusätzliche metaphysische Ressource, auf die ein derartiges Gedankenexperiment wie das von Ockham angewiesen ist, um den Möglichkeitsspielraum auszuleuchten.41
Offensichtlich ist Ockham hier weder daran interessiert, ein theologisches Problem zu klären noch eine empirische Wirklichkeit zu beschreiben. Er nutzt das prinzipiell mögliche Eingreifen Gottes, um die begriffliche Frage nach der metaphysischen Einheit des Menschen zu diskutieren. Es ist daher richtig, dass in derartigen Fällen die Allmacht Gottes nur benutzt wird, um logische Möglichkeiten zu ergründen und dies nicht implizieren muss, dass ein derartiger Eingriff als real angenommen wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass hier Gottes Allmacht nur so etwas wie eine Rahmung für das Imaginieren bestimmter Situationen ist. In diesem Sinn scheint mir Blumenberg berechtigt zu sein, von der Frage nach der Allmacht Gottes als einer ‚Lizenz zum Gedankenexperiment‘ zu sprechen42: nämlich als die theoretische Bedingung der Möglichkeit, den Rahmen der an Naturnotwendigkeiten gebundenen Realmöglichkeiten zu durchbrechen und den Blick auf den Bereich des logisch Möglichen zu richten.
V. Gewissheitsminimierungen
Auch wenn es unstrittig ist, dass Verweise auf die potentia Dei absoluta in naturphilosophischen Kommentaren nach 1277 gehäuft auftreten, mag Blumenbergs Festlegung auf einen auf 1277 datierbaren ‚turning point‘ für das Umsichgreifen der Allmachtfrage mit Blick auf jüngere Einschätzungen zum Einfluss der Verurteilungsurkunde verfehlt sein43 Blumenberg hat jedoch erkannt, dass es bei der Verurteilung tatsächlich darum ging, gegenüber philosophischen Behauptungen die Möglichkeit eines direkten göttlichen Eingriffes in den Weltenlauf zu betonen44 Er fragt, was eine solche Feststellung, wird sie ernst genommen, mit philosophischer Theoriebildung anzustellen vermag. Auch Blumenberg sieht, dass ein direkter Eingriff Gottes im 14. Jahrhundert nur als sporadisch angenommen und nicht als die umfassende Täuschung verstanden worden ist, die ihm Descartes methodisch zugewiesen hat45 Blumenberg sieht hier allerdings Folgen für den Wissensanspruch, wenn der auch nur hypothetisch angenommene partielle Eingriff Gottes methodisch „systematische Penetranz“46 gewinnt nicht nur dadurch, dass der Naturphilosoph mit einem potentiellen Eingriff Gottes gedanklich zu experimentieren beginnen kann, sondern eine Schattenseite hat, welche die Prinzipien seines eigenen Fachs betreffen.
Blumenberg sieht den systematischen Einfluss der Möglichkeit übernatürlicher Eingriffe, des Wunders, im gedrosselten Gewissheitsanspruch, mit dem Naturphilosophen im 14. Jahrhundert ihre Behauptungen belegen und so vom aristotelischen Wissenschaftsideal einer absoluten Evidenz, Gewissheit oder Exaktheit abrücken. Gewiss sollen naturphilosophische Prinzipien nun nur noch unter der Voraussetzung sein, dass der geordnete Naturverlauf von einem übernatürlichen Eingreifens Gottes unangetastet bleibt. Insbesondere bei Johannes Buridan sehen wir die gelegentliche Sinnestäuschung durch Gott in einen Zusammenhang gestellt mit der prinzipiellen Falsifizierbarkeit naturphilosophischer Prinzipien durch Gottes Allmacht47 Das ist die Gewissheitskrise, von der Blumenberg spricht: Das Manöver des Naturphilosophen, Evidenz für seine Erkenntnisse zu beanspruchen nur unter der Voraussetzung, dass der natürliche Verlauf der Dinge unangetastet bleibt, kann Blumenberg hier nur als ein „Postulat der Notwehr“48 anerkennen. Es ist ihm eher Abfall von einem Ideal, erzwungen durch einen „theologischen Absolutismus“49denn die Infragestellung einer aus der Antike tradierten erkenntnistheoretischen Illusion, von der sich zu verabschieden es auch keiner Allmachtfrage bedurft hätte50
Zugleich sieht Blumenberg in dieser Selbstbeschränkung des Naturphilosophen auch ein erkenntnistheoretisches Selbstbewusstsein („Selbstbehauptung“51 konstituiert und stellt sie in einen Zusammenhang mit der „curiositas in dem jetzt prägnant werdenden Sinne des Versuchs theoretischer Vergegenständlichung allein dem Glauben zugemuteter und jeder Verifikation entzogener Aussagen“52, wie er im Kontext der von Augustinus noch unter den curiositas-Vorbehalt gestellten astronomischen Berechnungen spätmittelalterlicher Naturphilosophen, die eben noch keine empirischen Versuche darstellen, bemerkt.
Eine von Blumenberg ausgelassene Ausprägung jener Rehabilitierung der curiositas stellen allerdings gewisse Rückwirkungseffekte dar, wenn der Naturphilosoph mit einem Eingriff Gottes prinzipiell zu rechnen hat. Wenn nämlich der Naturphilosoph einen Eingriff Gottes zum Prinzip macht, muss er diesen sogleich rationalisieren, indem er prüft, wie sich Naturzusammenhänge anders darstellen können, ohne gegen das Widerspruchprinzip, an das auch Gott gebunden ist, zu verstoßen. Hier tut sich ein neuer Konflikt mit den Theologen auf, die Einspruch dagegen einlegen, dass ein Philosoph ohne theologische Ausbildung sich mit theologischen Fragen beschäftigt.
Buridan, der bei Blumenberg eher unterbelichtet ist, berichtet von einem solchen an ihn gerichteten Vorwurf, der auch nur an einen wie ihn, der nie Theologe wurde, gerichtet werden konnte. Er entgegnet auf den Vorwurf dieser Grenzüberschreitung, dass er durch einen Eid, den er als Magister abgelegt habe, sich ja verpflichtet hätte, philosophische Fragen, wenn sie ein Thema der Theologie tangierten, immer im Sinne des Glaubens zu determinieren, ansonsten aber die Finger von rein theologischen Fragen zu lassen53 Buridan spricht hier den Beschluss der Pariser Artistenfakultät von 1272 an, der sich insofern in guter Gesellschaft mit den Verurteilungen von 1277 befindet, als beide die hermeneutische Praxis des Philosophen, die Probleme des eigenen Faches nur auf Grundlage der Prinzipien dieses Faches zu behandeln, verurteilt54 Paradoxerweise verlangt der Eid vom Magister aber auch, was er gerade verhindern will: dass sich ein Nichttheologe theologisch äußert. So wollte die captivatio mentis nun auch nicht verstanden werden55
Buridan erwähnt den Konflikt mit den Theologen im Zusammenhang der Frage nach der Möglichkeit eines Vakuums, von dem, so Buridan, wir natürlicherweise keine Erfahrung haben, auch wenn es keinen Widerspruch zu implizieren scheint, dass Gott ein Vakuum produzieren könnte, indem er, so das vorgestellte Szenario, das Innere des Mondes zerstört. Diese Möglichkeit wiederum kann Buridan nicht mit Evidenz beweisen, sondern nur auf ihre Plausibilität hin prüfen56 Da es sich beim Vakuum selbst nicht um ein theologisches Problem handelt, Buridan aber meint, hier keine rein philosophische Frage zu erörtern, sollten wir annehmen, dass Buridan den Vorwurf seiner Kollegen aus der Theologie allein darauf bezieht, in seine Überlegungen die göttliche Allmacht mit einzubeziehen. Ähnlich wie bei Ockhams Zombie müssen wir hier jedoch nicht annehmen, dass mit einer derartigen Überlegung ein realer Eingriff Gottes angenommen wird. Es handelt sich hier offensichtlich um ein rein hypothetisches Szenario, anhand dessen Buridan klärt, was es für einen Körper heißt, einen Raum einzunehmen. Ganz anders jedoch liegt der Fall, wenn Buridan eine naturphilosophische Frage erörtert, die den Glauben direkt betrifft, wie die Unsterblichkeit der Seele.
VI. Buridans abtrennbare Seele
Wie Thomas und anders als Ockham meint Buridan, dass der Mensch als substantielle Form nur eine Seele besitzt. Thomas’ Beweise für eine immaterielle Seele hält Buridan jedoch nicht für stichhaltig und nimmt wie Ockham an, dass wir nur glauben, eine solche zu besitzen, obwohl uns unsere Erfahrung das Gegenteil zeige57 Während Ockham nicht eingehend für seine Position argumentiert, finden wir bei Buridan einen ganzen Traktat zu dieser Frage58
Buridan bietet hier einen evidenzbasierten naturphilosophischen Beweis für die materielle Natur der Seele: Dreh- und Angelpunkt von Buridans philosophischer Position ist die Verbindung zwischen Seele und Körper. Dieser zufolge kann die Seele nur dadurch entstehen, dass sie die Materie gleichsam als ihren Nährboden besitzt. Die Seele inhäriert genau deshalb der Materie, weil sie aus ihrer Möglichkeit hervorgegangen ist. Dies impliziert jedoch, dass sie von Materie nicht getrennt werden kann, außer durch natürlichen Verfall. Gemäß dem katholischen Glauben wird die Seele jedoch durch Gott gleichsam von außen eingegeben und ist nicht das Produkt natürlicher Zeugungsprozesse, sondern eines Schöpfungsaktes. Wie sollte sie dann aber mit dem Körper eine hinreichend enge Verbindung eingehen können, um den Menschen noch als substantielles Kompositum von Materie und Form zu begreifen? Die Antwort der katholischen Glaubensposition lautet hier: ebenfalls qua Inhärenz in Materie. Nur muss dieses Inhärenzverhältnis so verstanden werden, dass die Seele auch wieder von Materie getrennt werden kann. Diese Inhärenz in Materie impliziert auch nicht, dass die Seele der Materie verdankt, ausgedehnt oder teilbar zu sein59
Buridan hält dies jedoch für ein unverständliches Inhärenzverhältnis von Seele und Materie, denn die notwendigen Zusammenhänge von Entstehen, Teilbarkeit und Vergehen, die sonst auch im aristotelischen Kosmos bei substantiellen Formen beobachtet werden können, werden hier aufgelöst. Wie löst Buridan diese Spannung? Er hält fest, dass die vom Naturphilosophen mit natürlicher Evidenz in Erfahrung gebrachten Prinzipien, auf denen der Beweis der materiellen Seele beruht, in Anbetracht göttlicher Wirkmöglichkeiten sich als nicht notwendig herausstellen60. Beide jedoch, Glaubenssätze und erste Prinzipien der Naturphilosophie können nicht bewiesen werden: erstere nicht, weil sie nur offenbart, nicht aber als evident erkannt werden können, letztere nicht, weil sie durch Erfahrung mittels unvollständiger Induktion gewonnen werden, die selbst keinen Beweis darstellt. Der Intellekt wird hier, sobald er eine Regelmäßigkeit ohne Ausnahmen feststellt, durch „seinen natürlichen Hang zur Wahrheit“61 dazu gebracht, ein solches Naturprinzip verallgemeinernd zu akzeptieren.
Buridan sieht sein Geschäft als Philosoph darin, Wissen von der Welt zu erlangen unter der Voraussetzung, dass Gott keinen außergewöhnlichen Eingriff in die Welt vornimmt. Buridan sichert diesen Wissensanspruch ab, indem er die für Wissen erforderliche Evidenz graduiert. Für die Philosophie ausreichend ist die „natürliche Evidenz“, die unter der Voraussetzung Bestand hat, dass der reguläre Naturverlauf intakt ist. Kirchliche Doktrinen erklären sich dem Philosophen Buridan hingegen als Wunder: Wenn die natürliche Ordnung außer Kraft gesetzt wird, handelt es sich um einen besonderen Eingriff Gottes. Gott kann Dinge bewirken, die natürlicherweise nicht zustande kommen, die aber schlechthin möglich sind62. Sobald es zum übernatürlichen Eingriff kommt, bedeutet das eine Störung der natürlichen Ordnung. Eine philosophische Wahrheit kann einer theologischen daher nicht schlicht gegenübergestellt werden, denn eine Aussage, die sich auf natürlicherweise evidente Prinzipien stützt, kann prinzipiell, wie Buridan sagt, durch Gott falsch gemacht werden63
Dies ist nun auch der Ausweg für Buridan, um zu klären, wie er als Naturphilosoph zu anderen Konklusionen kommen kann, als sie die Glaubenssätze vorgeben. Dem Glauben zufolge entsteht eine Seele gerade nicht auf natürlichem Wege, sondern wird von Gott wundersam produziert. Ein solches Wunder kann aber nur geglaubt, nicht mit natürlicher Vernunft eingesehen werden. Der Glaube behauptet eine Wahrheit, obwohl sie nicht (natürlicherweise) evident ist, während philosophische Sätze wahr sein sollen aufgrund einer Evidenz, die jedoch nur unter der Voraussetzung Gültigkeit beansprucht, dass Gott sie nicht gleichsam aushebelt.
Zur methodischen Absicherung der Geltungsansprüche von Philosophie und Theologie nutzt Buridan die Unterscheidung von potentia ordinata und potentia absoluta, indem er ersteren natürliche Notwendigkeiten und letzteren schlechthinnige oder übernatürliche Möglichkeiten zuordnet. Naturmodalitäten mit der geordneten Handlungsmacht Gottes und übernatürliche Modalitäten mit Gottes Allmacht in Verbindung zu bringen, meint Buridan philosophisch zudem mit Aristoteles begründen zu können. Denn schon Aristoteles habe unterschieden zwischen dem, was nur natürlicherweise möglich ist und den logischen Möglichkeiten, die gleichsam mit größerem Radius operieren und natürliche Möglichkeiten stechen können64 Einzig bindend für schlechthinnige Möglichkeiten ist das Widerspruchsprinzip und andere logische Gesetzte, die allein absolute Evidenz beanspruchen können und nicht bloß jene relative Evidenz der Naturphilosophie65.
Ausgerüstet mit diesem Schema eines natürlichen und übernatürlichen Ordnungsrahmens versucht Buridan, der theologischen Position mehr entgegenbringen zu können als ein reines Glaubensbekenntnis, wenn er die Frage nach der Unsterblichkeit behandelt. Hier jedoch können wir beobachten, dass Buridan an seine Grenzen stößt, wenn er im Einklang mit dem Glauben gedanklich experimentiert:
„Nicht auf natürliche, sondern auf übernatürliche Weise inhäriert der Intellekt dem menschlichen Körper. Und es ist sicher, dass Gott nicht nur auf übernatürliche Weise etwas, das nicht aus der Möglichkeit der Materie hervorgeht, formen könnte, sondern auch etwas, das aus der Möglichkeit der Materie hervorgegangen ist, von seiner Materie trennen, getrennt erhalten und in ein anderes Stück Materie legen könnte. Warum also sollte das nicht mit dem menschlichen Intellekt möglich sein?“66
Wir können Buridans Überlegung folgenden Gedanken entnehmen: Es wäre möglich, dass die Seele zwar das Produkt eines materiellen Entstehungsprozesses wäre, aber dennoch den Tod überdauern könnte. Wir könnten der menschlichen Seele materielle Eigenschaften zuschreiben wie jeder anderen Form auch und müssten nur annehmen, dass Gott in der Lage ist, sie von Materie zu trennen. Die Unsterblichkeitsdoktrin könnte sich so weniger philosophische Probleme, die mit der immateriellen Natur der menschlichen Seele verbunden sind, einhandeln. Allerdings ist nicht ersichtlich, woher Buridan hier die Gewissheit nimmt, dass Gott materielle wie immaterielle Formen von ihrem materiellen Träger lösen könnte. Buridan begründet auch nicht weiter, wie dies bei materiell inhärierenden Formen möglich sein sollte angesichts des notwendigen Zusammenhangs von Inhärenz einer Form und ihrer Gebundenheit an Materie, wie er sich für die natürliche Vernunft ergibt. In gewisser Weise wird hier dem Gedankenexperiment schon die eigene Grenze aufgewiesen67
Welchen erkenntnistheoretischen Status besitzt die hier beschriebene Situation aber? Gottes Allmacht meint bei Buridan nicht nur nicht-realisierte Wirkungsmöglichkeiten wie in Ockhams Zombieszenario oder der Frage nach der Existenz eines Vakuums, sondern impliziert Gottes direkt-präsentisches, übernatürliches und wundersames Wirken. Dies ermöglicht es Buridan, die von den Theologen behaupteten Glaubenssätze als wahr zu akzeptieren, auch wenn diese aus Sicht des Naturphilosophen Widernatürliches behaupten. Eine unsterbliche Seele ist wahrhaft kontrafaktisch aus der Perspektive des Philosophen, dessen Wissenskompetenz sich allein auf die natürliche Welt bezieht. Wenn Buridan dann anfängt, innerhalb des die Naturordnung transzendierenden Rahmens darüber nachzudenken, wie sich die Abtrennbarkeit der Seele darstellen könnte, dann tut er dies im Sinne eines aus Sicht des Naturphilosophen kontrafaktischen Szenarios. Denn der empirische Erfahrungshorizont des Philosophen ist die Grenze der natürlichen Möglichkeit, jedenfalls im Sinne evidenzbasierten Wissens.
VII. Verschwommene Grenzen der Wirklichkeit
Was, wenn der Philosoph im 14. Jahrhundert die göttliche Allmacht nicht nur als gedankliche Übung nimmt, um über die Möglichkeit zum Beispiel des Vakuums nachzudenken, sondern wenn seine Wissensansprüche mit theologischen Setzungen konfligieren? Es ist eine Sache, sich vor gelegentlichen Eingriffen Gottes abzuschirmen, indem man sich mit einer relativen Evidenz seiner Zunft begnügt. Eine ganz andere Sache ist es aber, wenn diese Evidenz deswegen relativ sein soll, weil naturphilosophische Prinzipien unter dem generellen Vorbehalt eines Eingriffs Gottes stehen insofern, als die grundlegenden Prinzipien der Naturerkenntnis in zentralen Punkten keine Gültigkeit mehr besitzen dürfen. Dies betrifft dann nicht mehr gelegentliche Wunder, sondern muss als tagtäglicher Eingriff in den Naturverlauf verstanden werden, etwa bei der Geburt eines Menschen, von dem Buridan zwar philosophisch annimmt, dass er eine materielle Seele besitzt, sogleich aber im Sinne des Glaubens festhält, dass diese Seele von Gott geschaffen wurde, was Buridan präzise als übernatürlichen Eingriff versteht. Hier nimmt, mit Blumenberg gesprochen, „das Wunder als die paradigmatische Reduktion der Verbindlichkeit der Natur“68 einen Platz in der Philosophie ein und muss doch Fremdkörper bleiben.
An den hier vorgestellten Gedankenexperimenten können wir einen je unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug feststellen. Während Thomas im Menschenfresserszenario einen empirischen Fall, für dessen Existenz ein übernatürlicher Eingriff nicht konzipiert werden muss, theoretisch zuspitzt, ist Ockhams Zombieszenario das Resultat einer gedanklichen Konstruktion, die sich erst vor dem Hintergrund eines möglichen Eingriffs Gottes ergibt, ohne dass dieser aber als real angenommen werden muss. Hingegen ist bei Buridans Versuch, eines Wunders wie der immateriellen Seele rational Herr zu werden, der göttliche Eingriff als wirklich gesetzt. Die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Eingriffs ergibt sich aber nicht aus dem Inneren des Theoriegebäudes der Philosophie. Buridan mag hier eine hohe Glaubensgewissheit besitzen, einer Erklärung aber, wie die menschliche Seele der Materie inhärieren und zugleich vom Körper trennbar sein soll, kann von Natur aus keine Evidenz zukommen. Das Nachdenken über diese Möglichkeit hat damit denselben erkenntnistheoretischen Status eines Gedankenexperiments wie ein durch Gott hervorgebrachtes Vakuum, aber es spielt sich gleichsam in einem Raum zwischen dem real und hypothetisch Angenommenen ab.