Diskussionsfragen zu Norbert Paulo (Berlin): „Gedankenexperimente in der experimentellen Ethik“
Diskussionsfragen zu Norbert Paulo (Berlin): „Gedankenexperimente in der experimentellen Ethik“
Frage: Was bei Gedankenexperimenten mit breiten Anwendungsbereich wie Rawls‘ Schleier passiert, sind ja in gewisser Weise prozedurale Restriktionen. Das passiert ja ganz oft, in anderen Situationen auch, z.B. in Laborsituationen, in Situationen, wo wir sichergehen wollen, das bestimmte Faktoren oder Einflüsse ausgeblendet werden sollen. Mir scheint es aber problematisch, diese Form der Restriktionen als Gedankenexperiment zu werten. Es scheint ja erstens eine graduelle Sache zu sein, da durch diese Restriktionen noch ein weites Spektrum von Anwendungsbereichen offen bleibt. Wir bekommen ja nur gesagt, was wir nicht machen sollen, und nicht, welche Ressourcen wir wie anwenden sollen. Das Wissen, das dann übrig bleibt, kann ja sehr unterschiedlich gespeist sein, durch Empirie, Überlegungen und Erfahrungen und alles Mögliche. Zweitens ist es ja gar nicht klar, ob das überhaupt erfolgreich sein kann, denn zu sagen, ich blende das ganze Wissen aus, heißt natürlich noch lange nicht, dass die Bias nicht trotzdem genauso weiter wirkt. Mir scheinen solche Fälle aus diesen Gründen sehr anders aufgebaut zu sein und zu funktionieren, als andere Gedankenexperimente. Warum sollten wir sie trotzdem Gedankenexperiment nennen?
Es scheint mir einfach ein sehr verbreitetes Mittel zu sein, durch bestimmte Narrative in die Position zu kommen, moralische Urteile abgeben zu können. Dafür scheint es ein Bedürfnis zu geben, und zwar eigentlich in allen Arten von Moraltheorien. Die Fehleranfälligkeit solcher Konstrukte oder das Graduelle, was ihnen innewohnt, halte ich eher für einen Grund, sie in die Nähe von Gedankenexperimente zu rücken, nicht sie von ihnen abzugrenzen. Das scheint mir nicht wirklich ein Gegenargument zu sein. Ich stimme Ihnen zu, dass es eine offene Frage bleibt, ob solche Gedankenexperimente wirklich dazu dienen können, bestimmten Biases entgegenzuwirken. Das ist genau der Grund, warum die experimentelle Ethik hier philosophisch wertvoll sein kann.
Frage: Noch eine weitere Anmerkung zu den Gedankenexperimenten mit breitem Anwendungsbereich. Mein spontaner Gedanke war, dass der Grund, warum diese Art der Narrative so breit verbreitet sind in der Moraltheorie, in einer bestimmten kantischen Auffassung dessen, was Moral ist, begründet liegt. Durch die Narrative wird nämlich einfach die Form der praktischen Deliberation beschrieben. Wir nehmen einen moralischen Standpunkt ein, indem wir uns reflexiv zu unseren eigenen Positionen verhalten. Auch in den verbildlichten Formen bei Rawls etc. wird damit also eigentlich nur der moralische Standpunkt beschrieben. Und dann wäre es in einer gewissen Weise natürlich trivial, das als Gedankenexperiment zu beschreiben. Meine Frage bezieht sich aber auf etwas Anderes. Sie hatten ja plausibel gemacht, dass es darum geht, ein epistemisches Profil von Intuitionen zu entwickeln, und wenn das gelingt, dann soll es möglich sein, diese experimentelle Methode zur Behandlung ethischer Fragen zu verwenden, das heißt zum Beispiel die Leute befragen, was ihre Intuitionen sind und daraus ableiten, was ihre ethischen Grundsätze sind. Wie müsste also solch ein epistemisches Profil aussehen, damit dieses Vorgehen Sinn machen könnte? Wäre es z.B. ein affektiver Begriff von Intuitionen? Oder was müsste rauskommen, bei dieser Profilbildung?
Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, deren Antwort ich nur in einigen Punkten andeuten kann. Was zentral wäre, ist, dass man bestimmte typische Fehler ausmerzt. Man müsste zum einen Ergebnisse der Moralpsychologie und der Kognitionswissenschaft in die Theorie eines Überlegungsgleichgewichts mit einbeziehen. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass man sich nicht einfach am Schreibtisch sitzend auf seine eigenen Intuitionen verlassen kann. Einen anderen Punkt kann man vielleicht ebenfalls im Vergleich mit der optischen Wahrnehmung sehr gut deutlich machen. In Bezug auf optische Wahrnehmungen verstehen wir sehr gut, was die Grenzen der Wahrnehmungen sind, und wodurch sie behindert sind. Im Dunkeln sehen wir nicht so gut, wenn wir betrunken sind haben wir fehlerhafte Wahrnehmungen, durch optische Täuschungen nehmen wir etwas Falsches wahr. Wir wissen sehr genau, wo wir fehlgehen und haben auch sehr gute Erklärungen dafür. Parallel dazu wäre es das Ziel ein ähnliches epistemisches Profil für Intuitionen zu entwickeln, ein Profil, das uns erlaubt zu erklären, wann unsere Intuitionen problematisch sind und wann nicht. Zu Ihrem ersten Punkt: Ich glaube Sie haben ganz recht, dass das Ideal der praktischen Deliberation hier meist im Hintergrund steht. Wenn dieses Ideal aber narrativ ausgeschmückt wird und ein „stellen sie sich vor“ davorgestellt wird, wird das Ideal eben in Form eines Gedankenexperiments hervorgebracht.
Frage: Zu der Frage, inwiefern man untersuchen kann, wann Intuitionen zuverlässig sind und wann nicht, gibt es ja auch die Position, dass das ganze Unterfangen von Vornherein hoffnungslos ist, weil man zu vielen dieser Fragen ja kaum ein intuitionsunabhängigen Zugang hat. Wie soll ich denn messen, ob eine Intuition zuverlässig ist, wenn ich auch nur den Weg über Intuitionen habe, um überhaupt zu klären, ob die Intuition richtig ist? Was würden Sie dieser Art von Argumenten aus der Sicht der Experimentellen Ethik entgegnen?
Ich habe darauf auch keine generelle Antwort, aber es wird üblicherweise versucht, moralisch irrelevante Faktoren zu manipulieren, und zu schauen, ob durch diese Manipulationen auch die Intuitionen variieren. Das ist dann natürlich immer punktuell. Ich kann nie sagen, „diese Intuition ist unzuverlässig“, ich kann nur sagen, wir müssen versuchen, diese oder jene Faktoren einzugrenzen, wenn wir die Intuition nicht verfälschen wollen. Das wäre eben der Prozess des „Wasserdicht“-Machens. Da muss man ganz viele Bedingungen berücksichtigen und das kann dazu führen, dass man manchmal bestimmte Gedankenexperimente gar nicht mehr experimentell durchführen kann, weil man zu viele Dinge berücksichtigen muss.
Frage: Sie hatten gesagt, dass der Prozess des „Wasserdicht-Machens“ von Gedankenexperimenten auch mit der Gefahr verbunden sei, dass man die Experimente gar nicht mehr sinnvoll experimentell verwenden könne, weil das Narrativ nicht mehr „schön“ genug sei. In welchem Sinne ist die „Schönheit“ eines Narrativs wichtig für experimentelle Verfahren in der Ethik?
Schönheit war jetzt nicht im ästhetischen Sinne gemeint. Die Experimente brauchen eine gewisse Struktur, eine gewisse Eingängigkeit, eine gewisse Zugänglichkeit, die sie vielleicht verlieren, wenn man sie zu wasserdicht macht. Auf der anderen Seite möchte man ja alle möglichen Fehlerquellen ausschließen, um sinnvoll testen zu können. Daher bleibt es natürlich auch keine Option, einfach die nicht-wasserdichte, vielleicht narrativ reizvollere Variante wieder hervorzuholen. Wenn man weiß, dass die Erlebnismaschine, so wie Nozick sie vorgeschlagen hat, nicht funktioniert, dann wäre es ja merkwürdig, sie beizubehalten, nur weil sie schön eingängig ist.
Frage: Sie haben ja jetzt den Schleier des Nichtwissens als eine Art Gedankenexperiment mit breitem Anwendungsbereich vorgeschlagen. Meine Frage wäre, ob sie zu dieser Art Gedankenexperimente auch Analogien in der Theoretischen Philosophie sehen? Also Gedankenexperimente, die in der Theoretischen Philosophie nicht auf eine konkrete Theorie oder einen konkreten Begriff abzielen, sondern weiter gefasst sind. Ich hatte jetzt spontan etwa an Nagels View from Nowhere gedacht. Oder meinen Sie, dass diese Art von Gedankenexperimente eher ein Phänomen der Theoriebildung in der Ethik darstellen?
Es wäre zumindest eine These, die ich vertreten wollen würde, dass diese Art von Gedankenexperimenten ein Spezifikum der Praktischen Philosophie ist. Sowohl im Bereich der normativen Politischen Theorie als auch im Bereich der Rechtsphilosophie finden sich solche Sachen. Es ist wirklich kein Zufall, dass wir diese Art Gedankenexperimente in allen praktischen Bereichen der Philosophie finden. In der Theoretischen Philosophie ist es mir nicht bekannt. Obwohl man natürlich ähnliche Überlegungen anstellen könnte. Aber ich kenne zumindest keinen charakteristischen narrativen Zugang zu solchen Überlegungen.
Frage: Sie haben gezeigt, dass Intuitionen auch affektiv, leiblich hervorgerufen werden. Aber ich frage mich, ob es wirklich möglich ist, Intuitionen so standfest zu begründen. Ich frage mich, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, weg von der Begründung zu gehen, und hin zu einem „Telos“. Die Frage also eher dahingehend verschieben, welche Motivation für Handlungen durch Intuitionen hervorgerufen werden, die zu einem bestimmten Ziel führen. Dann könnten wir uns beispielsweise fragen, zu welchem Ziel genau die Handlungen führen sollen, und wie folglich das richtige Maß der Handlung zu bestimmen sei. In dieser Perspektive würde der Schwerpunkt dann mehr auf Handlungen, als auf die Intuitionen, welche die Handlungen hervorrufen, gesetzt. Was halten Sie davon?
Ich kann mir das vorstellen. Ob da jetzt viele so mitgehen würden, da wäre ich zurückhaltend, aber es wäre bestimmt eine Möglichkeit, wenn man den Weg, den ich jetzt hier vorgeschlagen habe, für nicht so fruchtbar hält. Mein Ansatz wäre aber tatsächlich ein bisschen anders, indem ich eben die Begründung in den Vordergrund stelle und Intuitionen als Emotionen verstehe. Man könnte dann Emotionstheorien stärker nutzen, etwa in Anlehnung an Adam Smith und andere. Das wäre natürlich nicht handlungsbezogen, aber jedenfalls von Ihrer Beschreibung der Intuitionen her, geht es in eine ähnliche Richtung.