Diskussionsfragen zu Oliver Müller (Freiburg): „Die anthropogenetischen Narrative bei Hans Blumenberg“

Die Redaktion

Diskussionsfragen zu Oliver Müller (Freiburg): „Die anthropogenetischen Narrative bei Hans Blumenberg“

Frage: Was ich faszinierend finde bei Blumenberg, ist, dass er solche anthropogenen Szenarien entwirft, aber sie gleichzeitig im Gestus eines Nicht-Recht-Haben-Wollens präsentiert, man könnte auch sagen, sie als nicht-deklarative Philosophie vorstellt, sondern eben vielmehr als Gedankenspiel, das spielerisch einen Gegenentwurf präsentiert. Man könnte sich im Sinne Blumenbergs ja auch eine andere Geschichte vorstellen, welche die Sichtbarkeit thematisiert: Der Mensch kommt aus dem Urwald heraus und tritt in die Savanne. Dort gibt es keine großen Bäume, er hat dann den Schreck „ich werde ja von ganz weit weg schon gesehen“. Das ist also ein Widerfahren, was ihn passiv überkommt. Man könnte es sich nun auch andersherum vorstellen: Zu diesem Zeitpunkt war der Mensch noch gar nicht mit dem aufrechten Gang gesegnet, er krabbelt aus dem Urwald heraus, die Steppengräser sind vielleicht hoch genug, um ihn zu verdecken, dann richtet er sich erst auf, um überhaupt in die Weite gucken zu können. Das wäre also eine aktive Auseinandersetzung, eine eigenständige Erschaffung der Visibilität, mit der man es dann immer zu tun hat. Das scheinen jetzt gegensätzliche Modelle zu sein, aber für Blumenberg ist das nebensächlich. Es geht nur darum, wie der Mensch mit seiner eigenen Visibilität klarkommt – das versucht Blumenberg logisch zu beschreiben.

Genau, Blumenberg erzählt eine mögliche Geschichte im Kontext des anthropologischen Topos des aufrechten Gangs, der seit der Antike, seit Ovid etwa, mit dem Erkenntnisvermögen und dem Himmelsblick verbunden ist. Blumenberg fügt den üblichen Varianten der philosophischen Reflexionen über die Bedeutung des aufrechten Ganges für die ‚Menschwerdung‘ seine eigene, vielleicht idiosynkratisch anmutende Pointe des gesteigerten Gesehenwerdenkönnens mit seinen Implikationen für Selbstreflexion und Rationalität hinzu, die er in einer eben auf diese Urerfahrung zurückführt. Du hast völlig recht, dass diese Anfangsgeschichte ander oder unterschiedlich akzentiert erzählt werden kann – was dann auch anders gelagerte anthropologische Thesen mit sich bringen würde.

Frage: Ich wollte fragen, worauf Sie in ihrer Rekonstruktion Blumenbergs eigentlich genau hinauswollen. Ist es so, dass Sie sagen, Blumenberg erzählt diese Geschichten der Sichtbarkeit, und aus diesen Geschichten ergeben sich dann im Grunde genommen seine inhaltlichen Vorstellungen vom Menschen? Hätte er andere Geschichten erzählt, dann wäre möglicherweise dabei ein anderes Menschenbild herausgekommen? Wollen Sie also sagen, im Grunde präfiguriert er die Geschichten, die Eigenschaften, die dann im Nachhinein als spezifisch der Menschen angesehen werden? Das wäre eine Frage. Darüber hinaus habe ich mich aber gefragt: Geht es nicht allen, die sich in wissenschaftlicher Perspektive mit der Frühgeschichte des Menschen befassen letztlich so? Das machen ja in erster Linie gar nicht Philosophinnen oder Philosophen. Es gibt zwar gewisse Daten, es gibt Malereien, Werkzeuge, organisches Material und so weiter, aber ist man auf diesem Feld nicht einfach gezwungen, Geschichten zu erzählen? (...) Keiner war dabei, wir haben in diesem Sinne keine Erfahrung davon, wir müssen uns mühsam mit den Objekten, die uns zur Verfügung stehen, irgendetwas zusammenreimen. In diesem Sinne ist eigentlich die gesamte Befassung mit frühhistorischen Szenarien, egal in welcher Disziplin und für wie empirisch man sie halten mag, auf Geschichten angewiesen. Würden Sie da zustimmen?

Den ersten Punkt würde ich verneinen – die Geschichten prägen nicht die Philosophie Blumenbergs im Sinne, dass sie sie bereits festlegen. Sie haben meines Erachtens eine andere Funktion. Denn Blumenberg beschreibt das Phänomen der Visibilität an anderen Stellen seines Werks auch schlicht klassisch phänomenologisch und bindet das Gesehenwerdenkönnen etwa an die Leiblichkeit. Er bietet also auch ganz solide leibphänomenologische Untersuchungen der Visibilität. Mich interessiert nun aber die Frage, warum braucht er diese Geschichten des ‚ersten Menschen‘ überhaupt? Sie scheinen ihm zweifelsohne wichtig zu sein. Das rein Illustrative ist sicher ein Moment: er will mit seinen Narrativen veranschaulichen und dadurch Plausibilisierungen erzeugen. Doch vielleicht gibt es auch ein Inszenierungsmoment, das insofern eine erhellende Funktions hat, als dass man sich in diese Szene hineinversetzt und gewissermaßen minimalperformativ beim Lesen nacherleben kann, was es bedeuten kann, auf die freie Savanne herauszutreten. – Was die Frühgeschichte angeht, würde ich insofern zustimmen als dass wir in jedem Fall auf Geschichten angewiesen sind. Es gibt natürlich auch andere Methoden und Erkenntnisinstrumente, aber Narrative spielen eine eine zentrale Rolle – und Blumenberg überzeichnet diese Rolle in ihrer intrikaten Erkenntnisfunktion ganz bewusst, gerade weil er sich nicht einmal den Anschein der Mühe gibt, auf irgendwelche empirischen Befunde, Quellen oder paläontologischen und frühgeschichtlichen Theorien zu verweisen.

Frage: Ein Begriff der nicht gefallen ist, ist der der Genealogie. Man könnte ja denken, dass dieser Begriff Nahe liegt, wenn man die Entstehungsgeschichte von etwas betrachtet. Beim Zweiten Szenario Blumenbergs, dem Rückzug in die Höhle, da scheint es ja um Kultur zu gehen, das könnte man zum Beispiel auch als eine Genealogie von Kulturleistungen titulieren. Beim Ersten bin ich mir nicht sicher, was genealogisch erklärt wird, aber es ist klar, wie auch bei vielen anderen Genealogien, dass der Anspruch auf historische Richtigkeit damit nicht verbunden ist. Es geht eher darum, durch die Geschichte der Einführung die Funktion von etwas deutlich zu machen. Die Frage ist, ich formuliere das unabhängig von Blumenberg, ob man damit etwas anfangen kann um besser zu verstehen wozu diese Geschichte verwendet wird?

Guter Hinweis. Man müsste einmal näher untersuchen, wie genau das Verhältnis zur nietzscheanischen Form der Genealogie wäre. Bei Blumenberg hat das letztendlich eine andere Stoßrichtung als bei Nietzsche oder bei Foucault, weil bei ihm tatsächlich dieser spielerisch überschüssige kreative Wert und der Sinn eines literarischen Bildes stärker im Vordergrund steht als die für Nietzsche wichtige Kritik der herrschenden Moral und dem damit verbundenen umfassenden Infragestellen der gängigen moralischen Begrifflichkeiten – darum geht es Blumenberg in seinen Geschichten nicht.

Frage: Ich habe mich gefragt, inwiefern das mit seiner Husserl-Kritik zusammenhängen könnte. Blumenberg ist ja sehr kritisch gegenüber Husserls Turn hin zum transzendentalen Bewusstsein. Das hält er ja für eine unzulässige Verabsolutierung oder Romantisierung, die Vorstellung von einem Bewusstsein das keinen Anfang und kein Ende mehr kennt. (...) Und dem, so könnte man ihn vielleicht lesen, will er etwas entgegensetzen, nämlich eine Ursprungsgeschichte. Vielleicht ist er da auch theologisch beeinflusst von dem was er in der Geschichte der Philosophie kennt? Ein anderer Punkt: Ich fand es interessant, wie das anfängt mit dem Heraustreten und dann Sichtbarwerden, und es hat mich sehr an Sartre erinnert. Bei Sartre ist das Sichtbar-sein aber eher mit Scham verbunden, bei Blumenberg irgendwie mit einer existentiellen Gefahr um die eigene Existenz.

Da haben Sie absolut Recht: Blumenberg macht dann später in Beschreibung des Menschen gleich am Anfang deutlich, dass ihn bei Husserl stört, dass dieser vom ‚reinen Bewusstsein‘ spricht und nicht vom ‚menschlichen Bewusstsein‘. Und das menschliche Bewusstsein ist für ihn eben das endliche, verleiblichte Bewusstsein. Zum zweiten Punkt: In der Tat, bei Sartre ist das Gesehenwerden ganz anders konstitutiert. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist sicher der Unterschied zwischen Scham und ‚Existenzrisiko‘, wie es bei Blumenberg heißt. Aber auch die sozialphilosophische Dimension, die sich in Sartes Hegelianischer Blick-Dialektik zeigt, findet sich bei Blumenberg nicht. Auch die Bedeutung des Gesehenwerdenkönnens für das Person-Sein als Teil der sozialen Existenz, wie wir es bei Hannah Arendt finden, gibt es bei ihn nicht. Blumenberg kreist um das Moment des Etappt-Werdens, des plötzlichen Gewahrwerdens des eigenen Ausgesetztseins, das hat er noch mit Sartre gemeinsam – um dann zu eruieren, welche reflektiven Strategien der Verstellung und der Selbst-Darstellung dies hervorbringen kann. Der oder die Andere spielt dann keine Rolle mehr. Eine Theorie der Alterität hat Blumenberg ebensowenig entworfen wie eine Sozialphilosophie.

Frage: Wie kann man diese Sichtbarkeitsthese kritisieren, wie kann man das hinterfragen? Man könnte natürlich sagen, dass eine mögliche Geschichte, die man erzählen kann, nicht empirisch überprüfbar ist. Aber kann ich sie denn überhaupt kritisieren? Wenn ich es jetzt zum Beispiel kritisch einwenden würde: Menschen sind soziale Wesen und der erste Mensch kann gar nicht allein sein, sonst wäre er kein Mensch – würde man dann nicht immer einfach sagen können, da habe ich den Punkt von Blumenbergs Geschichte verfehlt? Aber wie kann man das dann überhaupt kritisieren?

Ich denke, das ist genau der Reiz daran: die Geschichte ist so einseitig, dass man stutzt, dass man sie kritisieren muss, dass man alles was fehlt, ins Feld zu führen angehalten ist. Und die nur einseitig dargestellte soziale Dimension – nämlich z.B. zunächst nur der Blick des potentiellen Feindes und nicht etwa den familiären Nachbereich zum Thema zu machen – ist sicher ein zentraler Punkt. Doch gleichzeitig lenkt Blumenberg mit seiner Geschichte das Augenmerk auf das oft unterschätzte und philosophisch zu wenig reflektierte Phänomen des Gesehenwerkenkönnens als zentral für das menschliche Selbstverhältnis.Und so könnte die Kritik auch umschlagen in: hm, vielleicht ja wirklich ein interessanter Aspekt!

Frage: In der Theorie des Experimentes gibt es diese Unterscheidung zwischen Experimenten, mit denen man etwas zu entscheiden versucht, und den explorativen Experimenten. Hier ist das Experiment eher spielerisch und man hat noch nicht unabhängige Variablen und abhängige Variablen, es geht zunächst eher um einen losen Zusammenhang, über welchen man noch keine . Und dann gäbe es auch das Aufführen, man könnte sagen, das theatralische Experiment: Man hat bereits eine Theorie und weiß wie es läuft und führt es dem Publikum vor. Ich habe den Eindruck das Experimentelle dieser Ursprungserzählung hat einerseits etwas mit dem Aufführungscharakter vom pädagogischen Experimenten zu tun und es hat auch etwas Exploratives. Wenn man mit dem Ursprung was macht, ist das für die Aufmerksamkeit ähnlich wie ein cliffhanger, alle hören sofort zu. Und eine Geschichte ist viel aufregender als eine Definition und wir können sie als Exploration sehen, im Sinne eines: „können wir uns nicht auch so deuten“? Das spielt auch bei den legitimatorischen Genealogien eine Rolle. Man kann sagen Hobbes’ Genealogie ist eine Legitimation des Staates, man kann aber auch sagen, er lädt uns explorativ zu dem Gedanken „können wir uns nicht auch sehen als die, die immer Krieg haben“, ein.. Es wird also durch die spannende Ursprungserzählung die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt gelenkt, die in den bisherigen Definitionen weggelassen wurde. Ich denke so etwas macht Blumenberg auch, er exploriert, wie sähe es aus wenn wir uns als ausgesetzte trostbedürftige Schwächlinge in der Höhle verstehen, wenn Aufmerksamkeit auf einen Aspekt gelenkt wird, der uns zwar bekannt war aber nie so richtig wichtig genommen wurde. Eine Zeigehandlung auf einen Aspekt, aber mit Spannungseffekten die Ursprungserzählungen immer haben.

Von einem theatralischen Experiment zu sprechen, finde ich sehr überzeugend! Vielleicht kannt man dies mit der Idee des explorativen Experiments verbinden? Denn das theatralische Experiment macht neugierig und dann kann man gewissermaßen in die explorative Phase eintreten und weiter ‚testen‘, welche Momente wir für eine überzeugende Theorie der Entstehung der menschlichen Kultur benötigen. Und Blumenberg macht genau dies in Arbeit am Mythos, wenn man so will.

Frage: Was ich fast irritierend finde bei Blumenberg ist, dass er nie das Gedankenspiel einleitet. Es kommt nie so etwas wie „stellen wir uns doch einmal vor“ oder nicht mal mehr ein „man könnte sagen“. Sondern er trägt es ja vor im Gestus eines Frühhistorikers. Ich verstehe nicht, warum er das so macht. Ist das ein rhetorischer Kniff, um die Aufmerksamkeit zu lenken und zu irritieren?

Das ist tatsächlich das, was Blumenbergs Denk- und Schreibstil charakterisiert, zumindest ab einer bestimmten Phase seines Werkes. Es sind meist nächtlich diktierte Texte, die oftmals den Charakter von Meditationen haben, Texte, die mäandern und die eben auch viel narrative Züge haben. Blumenberg liebt einerseits die schier unendliche Arbeit am Material. Seine Bücher sind ein Fundus an ungewöhnlichen Quellen und Lektüren, mit denen Blumenberg nicht nur überraschen will. Er ist, wie er Cassirer attestiert, selbst von dem Pathos geleitet, Menschliches nicht verloren zu geben. Andererseits liebt er auch die Pointe, die Vernappung, Eindampfung. Und diese Gedankenspiele sind ein „Vielleicht ist letztlich alles ganz einfach und es war schlicht so wie ich nun kurz erzähle“.

Frage: Das greift zurück auf die Frage nach der Kritisierbarkeit. Ich würde die Kritisierbarkeit von Geschichten gerne verteidigen. Ich glaube Geschichten sind nicht ethisch und politisch unschuldig, wir sehen das zum Beispiel in Erzählungen über den Naturzustand. Wir können sie zum Beispiel kritisieren indem wir Bezug nehmen auf die impliziten ethischen und politischen Ideen, die durch sie transportiert werden. Selbst wenn es nur ein Spiel ist und es darum geht bestimmte Imaginationsräume zu öffnen, heißt das auch immer, dass andere nicht geöffnet oder geschlossen werden. Darauf können wir zum Beispiel reflektieren, was bleibt unsichtbar, was wird unsichtbar gemacht, was ist denn das befreiende oder unterdrückende Potential der Erzählung? Ich habe keine Meinung zur Erzählung, die Blumenberg uns anbietet. Aber zumindest generell würde ich gerne den Punkt stark machen: wir müssen auch Geschichten kritisieren!

Das würde ich im Prinzip unterstreichen. Was Blumenberg angeht, können wir z.B. sagen, dass die Rede von den „Schwachen“ eine Wortwahl ist, die man durchaus kritisieren kann, so ironisch diesse auch in Bezug auf das Höhlensetting und die vermeintlich „Starken“ gebraucht wird. Grundsätzlich scheint mir die Frage zu sein, was es bedeuten kann, Geschichten zu kritisieren. Eine Geschichte ist erst einmal eine Geschichte, die ganz unterschiedliche Funktionen haben kann, von denen eine ist, einen Imaginationsraum zu eröffnen. Dass man jeweils nur eine Geschichte erzählen kann und nicht immer alle, die dann auch wirklich alle möglichen Perspektiven zu ihrer Geltung kommen lassen könnten, lässt sich wohl nicht ändern. Zunächst sind Geschichten aber erst einmal bloß gut oder schlecht erzählt, interessant oder langweilig, Augen öffnend oder konventionell und anderes. Problematisch wird es, wenn Geschichten eine bestimmte politische oder ideologische Funktion bekommen, die dann tatsächlich andere Geschichten nicht mehr erzählt haben wollen, oder sonstwie eine exklusive Dominanz bekommen. Das muss man natürlich kritisieren. Dies könnte man auch auf den ‚Kanon‘ an Geschichten beziehen, die typischerweise erzählt werden (in der Philosophie oder überhaupt). Ich finde es wichtig, sich darüber zu verständigen, welche Geschichten wir noch nicht kennen, wessen Geschichten wir bislang nicht gehört haben, wie noch nicht erzählte Geschichten Gehör finden können. – Um auf Blumenberg zurückzukommen: wir können seine Geschichten kritisieren – was die Wortwahl angeht, was er alles ignoriert –, doch stellt sich damit immer noch die Frage: welchen epistemischen Status haben sie im Rahmen seiner Anthropologie?