Diskussionsfragen zu Martin Klein (Würzburg): „Science-Fiction im Mittelalter“
Diskussionsfragen zu Martin Klein (Würzburg): „Science-Fiction im Mittelalter“
Frage: Ein kurzer Kommentar: Haben Sie bei Blumenbergs Legitimität bei der Neuzeit auch diese Wirklichkeitsbegriffe, die er in den Romantheorien entwirft, mal angeschaut? Das könnte Ihre These glaube ich ganz gut stützen. Er unterscheidet dort pauschal zwischen einem antiken, mittelalterlichen, neuzeitlichen und modernen Wirklichkeitsbegriff und hebt hervor, dass der antike und mittelalterliche Wirklichkeitsbegriff durch ein Moment der garantierten Realität geprägt ist. Ich glaube, genau das ist der Punkt, den Sie auch machen, dass eben dieses Moment der garantierten Realität in Abhängigkeit von der göttlichen Instanz den Wirklichkeitsbegriff tatsächlich so prägt, wie Sie das auch darstellen. Die andere Frage bezieht sich auf den Zombie-Begriff: Kann dieses Wesen bei Ockham denn letztendlich auch sterben?
Zum letzten Punkt: Ockham spricht nicht von einem Zombie, ich nenne das ja so. Ich hatte mich eben gefragt, wie könnte man sich ein solches Wesen vorstellen, und dann dachte ich tatsächlich an diese Zombiefilme. Der Zombie als Untoter. Eigentlich müssen wir annehmen, dass die Wahrnehmungsseele dieses Untoten auch irgendwann stirbt, wenn wir annehmen, dass es nach dem Eingriff Gottes dann weiter in seinem natürlichen Verlauf normal weitergeht. Ockham führt das nicht weiter aus. Aber es ist die Frage: Wenn der göttliche Eingriff nur sporadisch angenommen wird und dann der Zombie wieder der Natur überlassen wird – vielleicht müsste Ockham eigentlich annehmen, dass Gott weiterhin kausal aktiv ist und dieses Ding am Leben erhält. Also Gott ist ja immer kausal aktiv als Erstursache und was wir beobachten sind Zweitursachen. Gott kann Zweitursachen aushebeln und direkt wirken, oder er kann etwas, was über Zweitursachen geschieht, direkt bewirken.
Frage: Ich habe das so verstanden, dass es eine Steigerung bei deinen Beispielen hin zu stärkeren Formen von Gedankenexperimenten gibt. Bei Thomas ist das eine rein theoretische Zuspitzung von empirischen Berichten. Bei Ockham ist es dann schon eine gedankliche Konstruktion und es geht um einen nur möglichen Eingriff. Bei Buridan geht es dann aber um ein tatsächliches Wunder, was jeden Tag geschieht. Nur bei dem Beispiel von Buridan leuchtet mir diese Steigerung eigentlich nicht mehr ein. Denn gerade da könnte man ja sehr gut in Frage stellen, ob es sich wirklich um ein Gedankenexperiment handelt. Es fehlt hier ja das Moment des „was wäre wenn“ und handelt sich vielmehr um eine Erklärung von etwas, was realiter jeden Tag passiert.
Ja, das ist der Zwiespalt des Buridan als Philosophen. Wenn er aus der Perspektive des strengen Naturphilosophen denkt, dann ist er gezwungen zu sagen, das verstößt gegen die Gesetze der Natur. Das muss sich mir rein philosophisch eigentlich als etwas Widernatürliches darstellen. Das hat eine gewisse Schizophrenie. Ich habe versucht zu verstehen und darzulegen, dass diese Überlegung für Buridan als Philosophen trotzdem eine philosophische sein kann, indem er sie als Gedankenexperiment versteht. Zugleich aber, wenn seine Glaubensgewissheit herausgefordert ist, darf es natürlich keine Unsicherheit geben. Das führt dann zu der Merkwürdigkeit, etwas Wahres zu glauben, ohne dass man es weiß.
Frage: Direkt dazu: Mir leuchtet es auch noch nicht ganz ein, das dann als „kontrafaktisch“ zu bezeichnen, wenn es sozusagen natürliche Evidenz dafür gibt. In dem Sinne fand ich den Einwand eigentlich ganz gut, dass es eigentlich auf die Aktualität bezogen ist. Was im Raum steht, ist die Begründung. Aber wir können ja Glauben daran haben, dass Gott aktual jeden Tag in die Wirklichkeit eingreift.
Aber was heißt es für einen Philosophen des 14. Jahrhunderts, wenn diese natürlichen Begründungen plötzlich im Widerspruch zum Glauben stehen?
Nun das heißt im Grunde, dass wir kein Wissen mehr haben, das möglicherweise der Glaube wahr ist, aber etwas, was wir gut begründet hatten, keinen Bestand mehr hat. Das kann ja passieren, gute Gründe sind ja nicht absolut gesetzt und können fehlbar sein. Und wenn der Glaube recht hat, dann greift Gott ja ein und dann ist die natürliche Erklärung falsch, obwohl wir gute Gründe dafür hatten. Das setzt alles kein kontrafaktisches Denken voraus.
Aber die Philosophie, und damit auch Buridan als Philosoph, geht ja davon aus, dass der Naturverlauf nicht gestört wird.
Genau, sie geht davon aus, aber es ist dann, folgt man Buridans Gedankengang, streng genommen falsch. Das muss ja so sein, wenn der Glaube zur Wahrheit führt. Wenn der Glaube wahr ist, dann ist das, was die Philosophen in Bezug auf dasselbe Thema formuliert habe, kein Wissen sein, sondern im Grunde genommen falsch.
So weit würde ich eher nicht gehen, sondern lieber sagen, dass Wahrheit und Wissen eben auseinandergebrochen sind. Der Philosoph beansprucht jedenfalls keine absolute, notwendige Wahrheit mehr, sondern gedrosselte Evidenz.
Frage: Es scheint mir ein wichtiger Punkt, wie man das Gedankenexperiment in ihrer geistesgeschichtlichen Konzeption jetzt wiedergibt. Die Frage scheint mir hier zu sein, wie man die göttliche Intervention in diesem Zusammenhang interpretieren soll. Die Tradition des Experimentes beginnt unabhängig von der Wundermöglichkeit. Archimedes zum Beispiel präpariert Materie und vereinfacht die natürlichen Verhältnisse, aber sie gehen nicht davon aus, dass diese Vereinfachung den Gang der Natur unterbricht. Er ist der Meinung, dass man präparieren muss, weil der Naturlauf zu kompliziert ist, um etwas zu sehen. Aber durch das Christentum und die Möglichkeit eines Wunders gibt es ja eine Alternative: Es gibt jetzt zum einen den natürlichen Verlauf der Dinge, dann gibt es das künstliche Präparat, das aber keine Verletzung der Naturgesetze ist, und das Wunder, das die Gesetze vielleicht außer Kraft setzt eine Weile. (…) Meine Frage ist jetzt, bedeutet das nicht, dass das Wunder quasi selbst experimentellen Charakter hat, weil es etwas sichtbar macht? Also wenn Gott erst eingreifen und Materie schaffen muss, weil die Menschen nun mal Materie verbraucht haben, dann macht das Wunder, dass Gott Materie schaffen muss für den, der gegessen worden ist, etwas sichtbar in meiner materiellen Leib-Seele-Konstitution. Das wird nicht sichtbar dadurch, dass ich kontrafaktische Annahmen mache, sondern dadurch, dass ich die Wunder-Hypothese habe. Sodass eigentlich das Wunder das Experiment ist und nicht unbedingt die Gedanken, die Thomas sich über das Wunder macht. Das eigentliche Experiment steckt im Wunder der Auferstehung des Fleisches.
Also es gibt ja im Mittelalter tatsächlich wenig empirische Untersuchungen oder Aussagen über Präparierungen der Natur im Sinne eines Experiments. Da bildet Buridan erstmal keine Ausnahme. Ihn geht es zunächst nur darum, dass man die Natur beobachtet. Aber ansonsten übernehmen mittelalterliche Autoren natürlich viel von paradigmatischen Erzählungen der Antike, ohne es dabei nochmal zu überprüfen. Ich habe mich aber eben gefragt bei dem Thomas-Beispiel, inwiefern es, wenn man es als Gedankenexperiment versteht, ein gutes Gedankenexperiment ist. Inwiefern zeigt es eigentlich, was es zeigen will, was es sichtbar machen will, und inwiefern verdeckt es eigentlich? Thomas hat die Auferstehung natürlich als Wunder verstanden, aber eben nicht als Gedankenexperiment, so wie seine Einlassung von den Menschenfressern. Auf welche er ja gar nicht angewiesen wäre! Er könnte ja zum Beispiel einfach auf Aristoteles' Metaphysik verweisen und sagen, dass Substanzen es eben so an sich haben, dass sie sich in andere Substanzen transformieren, wenn sie vergehen. Das gehört eben zum Verrottungsprozess. Insofern sind wir in gewisser Weise ja alle Menschenfresser. Wir kompostieren, aus dem Kompost entstehen Früchte, die unsere Haustiere wieder fressen, welche wir dann wieder verspeisen… Aber ich würde Ihnen schon zustimmen, nicht in diesem Fall bei Thomas, aber allgemein, dass im 14. Jahrhundert das Wunder die von Ihnen beschriebene Funktion übernehmen kann. Das Wunder fungiert dann sozusagen als Starter für weitere naturphilosophische Überlegungen.
Genau. Dadurch wird der Wunderglaube eigentlich epistemisch aufgewertet. Menschen, die an Wunder glauben haben mehr Erklärungsspielraum zur Verfügung als andere...
Frage: Wenn mit der Auferstehungsthese die Auferstehung von Jesus gemeint ist, könnte man ja auch sagen, das war eigentlich gar kein Wunder, weil es zumindest so etwas wie eine empirische Überprüfung gab und so etwas wie Kausalität, also wenn der Apostel Thomas in die Wunde reingreifen will, um festzustellen, ist das wirklich der auferstandene Jesus. Das ist ja wirklich eine reale Frage und keine Wunderfrage. Daher vielleicht auch nicht im Sinne eines Gedankenexperimentes eine kontrafaktische Überlegung, sondern die Feststellung von etwas, was wirklich wahr ist und wirklich stattgefunden hat.
Ja, also davon muss man ausgehen. Jesus ist auferstanden, wir werden alle irgendwann leiblich auferstehen, das ist ein Grundgedanke des katholischen Glaubens, der als wahr gesetzt ist, auch wenn wir ihn nicht unbedingt überprüfen können. Aber das interessante bei diesen mittelalterlichen Theologen ist ja, dass sie nicht da stehen bleiben, sondern versuchen, das so weit wie möglich zu rationalisieren, und das macht mittelalterliche Philosophie auch so interessant. Darin besteht im Mittelalter ja gerade das philosophische Geschäft.
Frage: Würden Sie auch denken, dass die Gedankenexperimente eine sehr gute Funktion erfüllt haben? Die haben paradoxerweise zur Verminderung der Macht des Glaubens geführt und eigentlich zu einem Rückzug auf Aristoteles und die naturwissenschaftliche Erkenntnis. Würden Sie da zustimmen?
Zurück zu Aristoteles, da bin ich mir unsicher. Aber man hat sich mit diesen Dekreten vonseiten der Autoritäten etwas eingehandelt, was man sich eigentlich nicht einhandeln wollte. Also die Verurteilung von 1277, da wollte man eigentlich festhalten, lieber Philosoph sei demütig und bescheiden. Nur weil das gegen deine Prinzipien verstößt, heißt das noch nicht, dass es nicht wahr ist. Das ist eigentlich ein Einwand nach dem Motto: „Schuster bleib bei deinen Leisten“. Ich glaube natürlich nicht, dass das der beste Standard ist. Dann gibt es aber noch andere Bestimmungen. Wenn der Philosoph etwas berührt, was Glaubenswahrheiten betrifft, dann soll er sie im Sinne der Theologie erklären. Wie soll er das tun? Er ist ja kein Theologe. Da soll also der Philosoph doch wieder theologisch sprechen und bekommt eine Art von Kompetenz, die man ihm eigentlich absprechen will. Was ist dann die Reaktion der Philosophen in dieser Zeit? Die Idee ist dann tatsächlich diese Unterscheidung zu machen zwischen verschiedenen Evidenzgraden. Es gibt natürliche Evidenz, das ist mein Geschäft. Aber über diese natürlichen Evidenzen kann ich in diesem Rahmen nachdenken, indem ich immer mitdenke, dass Gott eingreifen kann - insofern würde ich Ihnen zustimmen.
Frage: Aber die Reaktion von Thomas ist ja auch in der Summa contra Gentiles ganz explizit zu sagen, Glaubenswahrheiten dürfen nicht mit der Vernunft in Widerspruch stehen. Also da öffnet er ja eigentlich dauerhaft die Arena für die Philosophie, auch gerade für die Naturphilosophie.
Also Thomas stellt sich das ganze so dar, Glaube und Vernunft, das ist eine harmonische Einheit. Das ändert sich aber im 14. Jahrhundert tatsächlich durch diese Verurteilung 1277. Man könnte das als eine Verfallsgeschichte erzählen wo die schöne harmonische vernünftige Welt auf einmal zu bröckeln beginnt. Oder eben als Beginn moderner Naturwissenschaften.