Diskussionsfragen zu Christoph Demmerling (Jena): „Fiktion und Erkenntnis“
Diskussionsfragen zu Christoph Demmerling (Jena): „Fiktion und Erkenntnis“
Frage: Würden Sie, ähnlich wie Gottfried Gabriel, den wesentlichen Unterschied zwischen Gedankenexperimenten und fiktionaler Literatur ebenfalls darin sehen, dass philosophische Gedankenexperimente auf propositionales Wissen zielen und fiktionale Literatur auf eine Form der nichtpropositionalen Erkenntnis?`
Ich bin mir nicht sicher, ob Gedankenexperimente ausschließlich auf die Ausbildung von propositionalen Überzeugungen zielen. Deswegen würde ich den Unterschied nicht so stark machen wollen wie Gabriel. Ich würde ebenfalls nicht sagen wollen, dass die Literatur ausschließlich, oder im Besonderen, auf nichtpropositionales Wissen zielt. Da ist meine Position wirklich pluralistisch. Wenn Literatur aber nichtpropositionales Wissen vermittelt, dann nicht im Sinne eines Könnens sondern im Sinne eine Kennens.
Frage: Könnte man die verschiedenen Perspektiven, die Sie ins Spiel gebracht haben, folgendermaßen vereinheitlichen: Literatur hat nicht in erster Linie einen Informationswert, sondern sie löst in gewisser Weise eigene Urteile aus, und funktioniert in dieser Hinsicht ganz ähnlich wie Gedankenexperimente. Man lernt etwas über eine Bewertung einer vergegenwärtigten imaginativen Situation in Form eines Konditionalurteils. Wir lernen das über die Konfrontation mit dem kontrafaktischen Szenario. Wäre das nicht eine Möglichkeit, eine funktionale Gemeinsamkeit zwischen Gedankenexperimenten und fiktionaler Literatur darzustellen?
In der Literatur scheint es häufig um die Darstellung von Einzelfällen und Einzelschicksalen zu gehen. Es macht aber gerade den großen Reiz der Literatur aus, dass über diese typisierten Darstellungen große Themen der conditio humana exemplarisch am Einzelfall vergegenwärtigt werden. Es kommt dabei aber in der Tat immer darauf an, was wir aus der literarischen Darstellung machen. Wir bilden im Anschluss an die Rezeption möglicherweise Urteile über die menschliche Lebenssituation aus. Solche Urteile werden uns aber nicht aufgezwungen durch die Lektüre.
Frage: Im Anschluss an Frage 1: Ist es nicht auch für das Funktionieren vieler Gedankenexperimente unerlässlich, dass das narrative Szenario des Gedankenexperiments eine Perspektivübernahme oder ein „Hineinversetzen“ im Sinne einer nichtpropositionalen Vergegenwärtigung ermöglicht? Man denke etwa an Gedankenexperimente wie „Marys Room“ oder das „Chinesische Zimmer“, welche ihre Wirksamkeit gerade dadurch entfalten, dass sie eine Imaginationskraft im Sinne einer nichtpropositionalen Vergegenwärtigung evozieren. Würden Sie dem zustimmen?
Ja, ich würde ebenfalls ausdrücklich betonen, dass Gedankenexperimente nicht ausschließlich auf ein „Wissen, dass“ zielen aber ich würde doch einen Unterschied in Bezug auf die fiktionale Literatur darin sehen, dass das Moment der Vergegenwärtigung in Gedankenexperimenten in einem gewissen Sinne „primitiver“ ist. Es geht da um einen isolierten Aspekt, man versucht sich etwa, über einen spezifischen Begriff klar zu werden, etwa den Begriff des Wissens bei Gettier, das ist natürlich in der fiktionalen Literatur anders. Da geht es nicht um einen Begriff, sondern um eine Vielzahl von Begriffen, um ein ganzes Feld oder einen Zusammenhang. Aber auch wenn mir Gedankenexperimente in dieser Hinsicht anders zu funktionieren scheinen, als fiktionale Literatur, so reichen ihre funktionalen Gemeinsamkeiten aus, um dafür zu argumentieren, dass auch fiktionale Literatur Erkenntniswert besitzen kann, insofern wir diesen auch philosophischen Gedankenexperimenten meist unproblematisch zusprechen.
Frage: Was ist das Besondere am epistemischen Wert von Literatur im Unterschied zu anderen Formen der Kunst? Etwa Gedichten, Bildern, Filmen usw.
Wenn man über den Erkenntniswert von Kunst redet, dann muss man natürlich die verschiedenen Kunstgattungen unterscheiden. Mir scheint es aber zumindest am Einfachsten zu sein, die Frage auf Literatur zu beziehen, weil in der Literatur auch Sprache im Spiel ist. Es ist relativ leicht, sich etwa über den Inhalt eines Romans zu verständigen, und an diese Inhalte anzuschließen, viel schwieriger wäre es, zum Beispiel über den Gehalt eines Musikstücks zu reden. Musik hat in einem einfachen Sinne keine Semantik, keinen Inhalt, und wenn etwas keinen Inhalt hat, dann wird die Frage sehr schwierig zu beantworten, ob es einen Erkenntniswert hat. Gleiches gilt auch für die bildende Kunst. Ich habe mich in meiner Darstellung auf die Literatur bezogen, weil ich die Frage nach dem Erkenntniswert hier am einfachsten zu beantworten finde. Das heißt aber natürlich nicht, dass man die Frage nicht auch in Bezug auf andere Gattungen der Kunst stellen könnte.
Frage: Wenn wir uns mit der Frage nach dem Erkenntniswert von Literatur beschäftigen, müssten wir dann die konkrete Literatur selbst nicht stärker in unsere Überlegungsprozesse einbeziehen? Literatur kann sich ja auf ganz unterschiedliche Weise auf die Wirklichkeit beziehen. Der autobiographische Wirklichkeitsbezug in den Autofiktionen von Annie Ernaux ist etwa ein ganz anderer, als der Wirklichkeitsbezug bei Kafka. Wie kann man eine allgemeine These über den Erkenntniswert von Literatur entwickeln, ohne dabei auf all diese verschiedenen Modi des Wirklichkeitsbezugs einzugehen?
Es lässt sich sicherlich nicht bestreiten das einseitige Beispiele zu einem Mangel in der Theorie führt, so wie einseitige Kost zu Mangelerscheinungen führt. Allgemein von einem Erkenntniswert der fiktionalen Literatur zu sprechen, scheint mir trotzdem kein Problem zu sein, aber ich denke, Sie haben recht, dass man immer wieder an konkreten Einzelfällen aufzeigen muss, ob etwa die Vergegenwärtigung bei Kafka oder realistischen Schriftstellern unterschiedlich funktioniert.
Frage: Es scheint ja nicht so zu sein, dass unsere Freude an Gedankenexperimenten durch eine Form der Wahrnehmungsverfeinerung und Aufmerksamkeitslenkung begründet ist, sondern dass es vielmehr die Freiheitsgrade in der Imagination sind, welche den Reiz vieler Gedankenexperimente ausmachen. Würden Sie dem zustimmen? Und welche Gedankenexperimente hatten Sie konkret im Sinn?
Ja, es ist sicherlich richtig, dass Gedankenexperimente zunächst einmal einen Imaginationsraum eröffnen und in diesem Imaginationsraum auch viel Reiz begründet liegt. Wahrnehmungsverfeinerung und Aufmerksamkeitslenkung ist insofern eher eine Sache der Literatur als der Gedankenexperimente, die ihrem Anspruch nach häufig eher „primitiv“ sind, und gar nicht den Anspruch auf eine Wahrnehmungsverfeinerung erheben können. In meiner Darstellung habe ich mich etwa auf Putnams „Zwillingserde“ und den „Sumpfmenschen“ von Davidson bezogen. Aber ich fange mich jetzt an zu fragen, ob nicht auch das eine oder andere Gedankenexperiment in einem bestimmten Sinne unsere Aufmerksamkeit lenkt. Wenn ich etwa durch das Durchspielen eines Gedankenexperiments den Eindruck habe „Mensch, da hab ich ja noch nie drüber nachgedacht! Wie verhält es sich hier eigentlich?“ dann scheint es sich auch um eine bestimmte Form der Aufmerksamkeitsverfeinerung zu handeln. Die verläuft vielleicht nicht so feinkörnig wie bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, aber es scheint bei Auseinandersetzung mit Gedankenexperimenten auch nicht ausgeschlossen.
Frage: Sie haben in Ihrem Beitrag das Beispiel vorgebracht, dass ein Pianist durch das Lesen eines Romans über das Klavierspielen nicht selbst besser wird Klavier spielen können. Nun könnte ich mir ein Szenario vorstellen, in dem ein Pianist sich durch die Lektüre eines Romans etwa eine bestimmte existenzielle Krise vergegenwärtigt und dadurch, am nächsten Tag, ein besseres Konzert gibt, weil er etwa in der Lage ist, eine besonders intensive Atmosphäre zu schaffen, oder ähnliches. Würden Sie in einem solchen Fall zustimmen, dass die Lektüre das Klavierspiel besser gemacht hat?
Ich würde Ihnen zustimmen, dass es in einem solchen Fall zu einem besseren Konzert kommen kann, aber der Roman hätte in einen solchen Fall nicht das spezifische Können des Klavierspielens im Sinne eines „Wissen, wie“ verbessert, der Klavierspieler konnte ja vorher schon Klavierspielen. Ich würde trotzdem so einen Fall, wie Sie ihn schildern, nicht ausschließen.
Frage: Können wir noch einmal auf das Wahrheitsproblem in der Literatur zurückkommen? Natürlich gibt es Sätze in fiktionaler Literatur, die man als Behauptungen auffassen kann, um sie hinsichtlich ihres Wahrheitswertes zu prüfen. Aber häufig wird doch auch von Wahrheit in der Literatur in einem impliziteren Sinne gesprochen: dass die Autorin mit ihrer Erzählung eine Frage aufwirft, die dann von der Leserin auch mit „wahr“ oder „falsch“ bewertet werden kann.
Ja, deswegen wird in der analytischen Literaturwissenschaft auch unterschieden zwischen Thema und These, zwischen semantischen und thematischen Gehalt. Aber wenn der Autor etwas mit seiner Figur macht, sie etwa durch die Erzählung als unzumutbar darstellt, dann steht natürlich nicht im Text „XYZ ist unzumutbar“, sondern es werden einfach die Verhaltensweisen geschildert. Das Erschließen dessen, was der Autor da macht, nennt man dann Interpretation.
Frage: Was die Literatur uns liefert, scheint eine Art Erfahrungswissen zu sein und auf solch einem Erfahrungswissen kann dann etwa auch eine Ethik aufbauen. Aber ist diese Form der nichtpropositionalen Erkenntnis nicht für die Philosophie zu schwach bewertet? Bauen nicht häufig philosophische Begründungen auf ihr auf?
Ich würde das nicht bestreiten. Man könnte es vielleicht sogar so sagen: In der fiktionalen Literatur haben wir es mit Einzelfällen zu tun, da werden erstmal keine allgemeinen Sachverhalte dargestellt, in der Philosophie ist der Anspruch zwar ein anderer, aber auch die Philosophie kommt ohne Einzelfälle nicht aus, nicht nur in dem Sinne, das Einzelfälle eine Art Startpunkt sein können, sondern auch in dem Sinne, dass man etwa keine Ethik formulieren kann, ohne dass in irgendeiner Weise die Basis durch einen konkreten Fall gebildet wird, oder ohne dass eine Art Vertrautheit mit Erfahrungen in dem relevanten Bereich besteht.
Frage: Nochmal die Nachfrage, über welche Art von Literatur wir eigentlich in erster Linie reden. Stimmt es, dass Sie in erster Linie den bürgerlichen Bildungsroman im Hinterkopf haben? Das würde aber natürlich viele weitere fiktionale Texte aus. Texte, denen vielleicht auf ganz andere Art und Weise Erkenntniswert zukommt.
Sie haben mich erwischt, ich habe mich bei diesen Überlegungen tatsächlich im Wesentlichen an den Romanen des 18. bis 20. Jahrhunderts orientiert, welche in den bildungsbürgerlichen Kanon eingegangen sind. Und ich gestehe auch gerne ein, dass das ein Problem für eine Theorie des Erkenntniswertes von fiktionaler Literatur darstellen kann. Ich würde aber selbst in Bezug auf das „Groschen-Wild-West-Heft“ oder in Bezug auf den „Arztroman“ sagen, dass hier die Elemente von denen ich hinsichtlich des Erkenntniswertes von Literatur gesprochen habe, eine Rolle spielen. Man könnte hier etwa von einer Gefühlsschulung sprechen, auch hier werden bestimmte Aspekte der menschlichen Situation vergegenwärtigt usw. Das ist in diesen Fällen vielleicht nicht besonders subtil oder kunstvoll gemacht, aber funktioniert dennoch ähnlich.
Frage: Nochmal zu dem Unterschied zwischen Gedankenexperimenten und Literatur: Muss man vielleicht nicht stärker die unterschiedlichen Erfolgsbedingungen in Blick nehmen? Es wurde ja schon vorgeschlagen, dass in beiden Fällen ein bestimmtes Urteil evoziert werden soll im Leser. Ein Unterschied scheint aber darin zu bestehen, dass im Fall des Gedankenexperiments das „p“, zu dem sich die Leserin ein Urteil bilden soll, schon vorgegeben ist, während es in der Literatur genau andersherum zu sein scheint und man als Leserin das „p“ zu dem man sich ein Urteil bilden soll, selbst erschließen muss. Literatur, welche das „p“ explizit vorgibt, scheint ja meist eher schlechte Literatur zu sein und es scheint wichtig für das Gelingen von Literatur, dass das p sozusagen konstitutiv offen bleibt.
Ja, die Literatur lässt mehr Interpretationsspielräume, als Gedankenexperimente. Das würde ich mit Blick auf die Standard-Gedankenexperimente gar nicht bestreiten wollen. Ich wäre mir aber nicht sicher, ob wirklich die meisten Gedankenexperimente das „p“ zu dem sich die Leserin ein Urteil bilden soll, schon explizit vorgeben, oder ob es da nicht auch Abweichungen gibt.
Frage: Was ist die Bedeutung des Repräsentationalen in der Diskussion der Literatur innerhalb der Philosophie? Es gibt ja etwa Autoren wie Dostojewski, die sagen, dass wenn sie eine bestimmte Figurenkonstellation im Kopf haben, sie durch diese Konstellation geführt werden, sie gewisserweise in einen Zwangsmechanismus geraten, in dem sie gar nicht mehr die Freiheit haben, das Verhalten der Figuren zu gestalten. Ganz ähnlich wie Naturwissenschaftler, die an ein experimentelles Setting gebunden sind, das Experiment laufen lassen, und sich dann hinterher wundern, was dabei rauskommt, so wunderte sich auch Dostojewski darüber, wie die Gebrüder Karamasow sich verhalten mussten, wenn sie einmal in eine bestimmte Konstellation geraten sind. Ist das nicht ein Erkenntnisaspekt von Literatur, der in der Philosophie häufig vernachlässigt wird? Dass sich dieser Eindruck eines Zwangscharakters auch auf die Leserin von fiktiven Situationen übertragen kann, dass mithin diese Eigendynamik nicht nur eine Sache der außerliterarischen Wirklichkeit ist? Was sagt uns dieser Sog, der auf der Ebene des Symbolischen entstehen kann, nun über die Wirklichkeit?
Ich verstehe es so, dass Sie die Frage stellen, wo eigentlich der Weltbezug von fiktionaler Literatur liegt. Denn auch „die Heilige“ oder „der Rachsüchtige“ bei Dostojewski sind natürlich in einem weiteren Sinne Bestandteile der Wirklichkeit. Es sind Figuren, in denen wir bestimmte Eigenschaften erkennen, die wir dann in realen Personen verkörpert finden können. So kann auch die Notwendigkeit eines Geschehens oder die Dynamik eines Verhältnisses Bestandteil der Wirklichkeit sein.