Diskussionsfragen zu Irene Breuer (Wuppertal): „Ein Gedankenexperiment über ein Gewebe möglicher undunmöglicher Erfahrungen im Ausgang von Husserl undBorges“

Die Redaktion

Diskussionsfragen zu Irene Breuer (Wuppertal): „Ein Gedankenexperiment über ein Gewebe möglicher und unmöglicher Erfahrungen im Ausgang von Husserl und Borges“

Frage: Ich würde gerne nochmal dem Verhältnis von möglichen Welten und Erfahrbarkeit und Kompossibilität nachgehen. Zunächst zur Erfahrbarkeit: Erfahrbarkeit bedeutet ja bei Husserl, ganz konkret die Erfahrbarkeit für uns, nicht generell Erfahrbarkeit für irgendein Wesen. Die Frage ist, ob das nicht im Grunde zu eng ist, weil wir sicher Welten denken können, die weit über das hinausgehen, was für uns erfahrbar ist. David Lewis zum Beispiel hat den Begriff der fremden Eigenschaften, die bei uns in der Welt gar nicht vorkommen, von denen wir aber uns trotzdem denken können, dass sie möglich sind. Dann zur Kompossibilität: Die ist ja auch in anderen Theorien durchaus ein Kriterium. Jetzt gibt es ja aber Philosophen, die glauben, dass es wahre Widersprüche gibt. Was machen wir mit so etwas? Es gibt sogar Leute, die glauben nicht nur, dass sie möglich sind, sondern dass sie vielleicht wirklich sind. Gibt es gute Gründe auf Seiten Husserls, diese Dinge alle auszuschließen? Das scheint mir sehr restriktiv.

Die Erfahrung ist bestimmt kein enger Begriff und hängt unmittelbar mit dem Begriff der Anschauung zusammen: Wir können auch Ideen einsehen bzw. anschauen, z.B. die Idee einer partikulären Wirklichkeit eines Dinges. Sie regelt den Konstitutionsprozess, wobei die aktuelle Erfahrung einen ‚Ausschnitt‘ aus diesem möglichen Ding herausschneidet. Bei der Wahrnehmungsreihe z.B., handelt es sich um einen ‚offenen‘ Horizont, in dem eine unendliche Folge in ihrem Sein von einer Intuition erfasst wird und mit einer inadäquaten Evidenz gegeben ist. Inadäquate Evidenz meint hier eine nicht vollangepasste Wahrnehmung; d.h. dass eine gedankliche Erfassung ebenso eine Weise des Anschauens ist, wobei die Erfahrung mit der Wahrnehmung zusammenhängt. Die Grenzen der Erfahrbarkeit werden eigentlich durch den Horizont gesetzt, also durch das, was wir uns an Realität anschaulich aneignen können. Aber diese Grenzen verlagern sich. Neue Erkenntnisse verlagern die Horizonte, sodass man sich neue Erfahrungsfelder eröffnen. Es gibt immer ein Wechselverhältnis zwischen Denken und Erfahren. Das bedeutet nicht, dass die Erfahrbarkeit das Denken ausschließt oder umgekehrt, sondern dass es ein Wechselverhältnis gibt zwischen Anschauung und Begrifflichkeit, bei Husserl wie auch bei Kant. Die Grenzen sind also beweglich, deshalb können wir von einer potentiellen bzw. möglichen Erfahrbarkeit reden.

Rückfrage: Aber das ist natürlich trotzdem relativ zu dem Erkenntnisstand?

Ja, es ist relativ zu dem Erkenntnisstand einerseits, andererseits auch zu dem möglichen Fortgang unserer Wahrnehmungen.

Rückfrage: Könnte es aber nicht trotzdem unerfahrbare Eigenschaften geben? Die könnte man ja nicht durch den erweiterten Horizont ausschließen, und es scheint ja Indizien dafür zu geben, dass es solche Eigenschaften möglicherweise gibt? Und was ist mit den Widersprüchen?

Das ist ein Problem, das sehe ich wie Sie. Husserl hängt sehr fest an der Harmonie der Welt und an der Kompossibilität der Welt. Das ist etwas, was ihn charakterisiert, er versucht immer den Widerstreit in ein Harmonieverhältnis zurückzubringen. Das ist wirklich eine Grundüberzeugung für Husserl. Das wurde auch von vielen Nachfolgern kritisiert. (…) Zum Thema der unerfahrbare Eigenschaften: Die Horizonte schließen nicht aus, das die heute unerfahrbaren Eigenschaften in Zukunft erfahrbar werden.

Frage: Meine Frage geht in eine ähnliche Richtung und bezieht sich auf die Kompossibilität. Die Daten die Aristoteles hatte, haben dafür gesprochen, keinen leeren Raum einzunehmen, und einen bestimmten Orts-Begriff zu haben, er hatte nun mal nicht die Daten, die Newton hatte. Und danach Galilei, der wieder neue Daten hatte, und da gibt es vielleicht eine gewisse Plausibilität einen leeren Raum anzunehmen und eine andere Konzeption des Raumes zu haben. Die ist nicht mit der aristotelischen Konzeption kompatibel. Wenn Sie dann das Michelson-Morlex-Experiment haben und diese ganzen Äther-Probleme, dann können Sie wieder eine andere Geschichte erzählen, da haben Sie einen Raum, der durch Felder erfüllt ist. Das ist vielleicht so etwas ähnliches wie ein Raum der durch Materie gefüllt ist, also in der einsteinschen Vorstellung, die ist dann wieder mit der newtonschen nicht vereinbar oder mit der aristotelischen. Wenn Sie das dann stark formulieren, dann sagen Sie, das ist ein Paradigmenwechsel, das sind inkommensurable Raum-Vorstellungen. Aber Sie können die Wissenschaftsgeschichte erzählen. Sie können eine Narration produzieren, wo Sie vom Einen zum Anderen kommen. Dann können Sie sagen, warum aus dem Aristoteles der Newton geworden ist und aus dem Newton der Einstein. Dann haben Sie in der Narration eine gewisse Kompossibilität von Theorien, die aufgrund ihrer Begrifflichkeit vielleicht inkommensurabel sind.

Ja, neue Erkenntnisse überwinden alte Erkenntnisse, das würde ich nicht ausschließen. Es ist eine Wissenserweiterung und ein Paradigmenwechsel und das schließt überhaupt nicht aus, dass sie untereinander inkompossibel bleiben, aber im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung in die Lebenswelt hineinströmen und im Grunde eine Überwindung einer Theorie durch die andere geleistet wird. Damit würde Husserl kein Problem haben. Die Harmonie oder Kompossibilität bezieht sich hauptsächlich auf die Möglichkeiten der Erfahrung. Husserl geht davon aus, dass es auch Überschüsse gibt, zum Beispiel Überschüsse der Sinnlichkeit und der Begrifflichkeit. Es gibt also Domäne die nicht eigentlich auf eine exakte Parallelität reduziert werden können. Manchmal leistet die Sinnlichkeit viel mehr als die Begrifflichkeit erfassen kann und umgekehrt. Wenn wir uns genau so wie in der Lebenswelt weitere Erfahrungsbereiche aneignen können, so können wir uns auch bei den Wissenschaften, auch bei Idealisierung der Wissenschaften, neue Erkenntnisbereiche aneignen. Nur müssen sie auch in ihrer Anschaulichkeit begründet werden. Also die Rückbindung an die Anschaulichkeit ist sehr wichtig.

Rückfrage: Meine Frage zielte eher darauf ab, wie das Verhältnis von theoretischer und narrativer Kompossibilität ist. Also es gibt Leute die sagen, ich muss die newtonsche Physik als Sonderfall der Einsteinschen betrachten, vielleicht kann man den Aristoteles dann aus dem Newton herausquetschen als einen Sonderfall. Am Ende sollte eigentlich alles theoretisch integrierbar sein. Es gibt aber auch Leute die sagen, es ist nicht integrierbar, wir haben ganz verschiedene Raum-Zeit-Begrifflichkeiten. Ich kann nur die Geschichte, wie die Menschen von p zu non-p gehüpft sind und dann von non-p zu q, erklären. So wie Platon in einem Dialog Widersprüche narrativ vorführen kann, der Dialog dann aber keine Theorie ist, kann die Wissenschaftsgeschichte widersprüchliche Konzeptionen nacherzählen, und dann wären sie unter einen Hut gebracht. Das ist aber etwas anderes als zu sagen, ich habe eine Super-Theorie, die andere Theorien als Sonderfälle behandelt. Also Husserl würde sagen (...) die Narration ist das Instrument mit dem ich Kompossibilität erzeuge. Aber manchmal habe ich den Eindruck, nein, die Bewusstseinstheorie ist der große Vereinheitlicher.

Ja, ich glaube, es ist mehr die Bewusstseinstheorie, die grundlegend ist für eine theoretische Vereinheitlichung. Da werden Sinnzusammenhänge gestiftet. Das ist eigentlich die theoretische Kompossibilität, also ist es möglich die Sinnzusammenhänge herzustellen? Und das ist wirklich ausschlaggebend für die Kompossibilität. Logischerweise haben die Narrationen einen viel größeren Spielraum als die Wissenschaften oder die Philosophie, denn sie sind nicht an die Anschaulichkeit, die Kompossibilität oder das Ausschließen von Widersprüchen gebunden. Aber was die Narrationen uns erlauben ist über diese Grenze hinauszuschauen und von außen her an die Bedingungen unserer Theorie zu denken. Deshalb finde ich was Husserl genau macht in der Krisis-Schrift, ist, die Wissenschaften darin zu kritisieren, dass sie die Lebenswelt, den Boden aus dem sie erwachsen sind, vergessen haben. Es ist also keine Diskreditierung der Wissenschaften, sondern eine Rückbesinnung auf die Lebenswelt. Deshalb ist für ihn diese Rückbindung an die Anschaulichkeit, an die lebensweltlichen Erfahrungsmöglichkeiten ausschlaggebend. Wenn die Objektivitäten und Idealitäten den Bereich der aktuellen oder potentiellen Anschaulichkeit, diese Korrelation verlassen, dann nennt er das ein Produkt der Idealisierung – das wiederum in die Lebenswelt einfließen oder ‚einströmen‘ kann durch die Kultur. Aber ich finde, dass dieser Bedarf nach Harmonie und Kompossibilität zu stark betont wird bei Husserl.

Frage: Mir ist nicht ganz klar, wie das Verhältnis von Philosophie und Literatur eigentlich gedacht ist. Es scheint mir eine Spannung zu geben zwischen zwei Funktionen. Man kann das vielleicht ganz schön an der hegelschen Formulierung vom sinnlichen Scheinen (---?) der Idee (?) festmachen. In der einen Tendenz wird eher die Idee betont in dieser Formulierung. Da scheint die Literatur vor allem dazu da zu sein, die Ideen zu versinnlichen, eine Art Illustration zu leisten, so liest es sich in manchen Passagen. Dann gibt es aber andere Passagen, in denen dann die ästhetische Erfahrung in ihrer Eigentümlichkeit betont wird, wo dann mit Husserl aber die Funktion so etwas ist wie das ästhetische Gefühl, die Freude. Das sind zwei Extreme, die ich so gefunden habe und mir war noch nicht ganz klar, wie sich das dann verhält, zumal es dann so Passagen gibt, die etwas anderes anbieten, was vielleicht sogar plausibler wäre, wo das so erscheint als ob zum Beispiel Borges philosophische Ideen nimmt, die er dann sozusagen in die letzte Konsequenz und damit in gewisser Weise ad absurdum führt, wo dann glaube ich nochmal eine ganz andere Funktion, ein ganz anderes Verhältnis zum Philosophischen aufscheint als entweder in der bloßen sinnlichen Idee oder in dem bloßen ästhetischen Gefühl.

Es bedarf weiterer Präzisierung, da haben Sie vollkommen Recht. Ich denke die Narration kann nicht auf eine Versinnlichung der philosophischen Begriffe hinzielen, das wäre nur ein Zweckziel, und gleichermaßen zweckentfremdet auch. Was die Narration uns eher anzubieten hat, ist eine Freiheit, der die philosophische Begrifflichkeit ermangelt. Ihre Freiheit besteht darin, die Begriffe so frei zu variieren, dass sie ins Absurde oder Paradoxale geführt werden können. Sie werden so weit in ihrer Tragweite getrieben, dass man aus diesem Überschuss, den die Narration gegenüber der Philosophie leisten kann, auf die Ebene der eigenen philosophischen Reflexion zurückgeworfen werden kann. Man sieht die Grenzen des Begreifens, der Erfahrbarkeit ja nur, indem man über diese Grenze hinausspringt. Deshalb sehe ich, dass die Narration uns diese Möglichkeiten bietet, gewissermaßen als Gedankenexperiment. Damit eröffnet sie uns etwas, was uns die Philosophie nicht bieten kann. Wie gesagt, es ist mehr als eine ästhetische Erfahrung, mehr als ein ästhetisches Gefühl, denn die Ästhetik kann sowohl eine ethische Funktion – wenn sie Werte veranschaulicht – als auch eine Erkenntnis ermöglichende Funktion übernehmen, nicht nur aber auch wenn sie diese Grenzen überschreitet.

Frage: Ich versuche noch genauer zu verstehen, was es mit dieser spezifischen literarischen Funktion auf sich hat. Ich würde dich gerne einladen noch mehr zur fantastischen Literatur zu sagen. Siehst du das, was du in diesen beispielhaften Erzählungen beschrieben hast auch in anderen Formen fantastischer Literatur, mit ähnlichen Funktionen, die Grenzen der Erfahrbarkeit aufzuzeigen oder sie ins Paradoxale zu überschreiten?

Ich denke es ist nicht nur ein einziger Fall, in der fantastischen Literatur geht es immer um die Grenzen der Erfahrbarkeit und die Literatur kann uns wie gesagt viel mehr anbieten als nur diese Grenzen auszuloten, sie kann auch ein Verständnis über die Lebensprozesse selber geben. Was in den fiktionalen Narrationen immer eine Rolle spielt, ist das Hineinversetzenkönnen in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten. Diese Öffnung der Erlebnissphäre, das Hineinversetzen in das Leben der Anderen, hat auch einen Lehrwert. Man wird durch die Geschichten der anderen auch selbst verstrickt, man ist verstrickt in die Lebensgeschichten der anderen und die anderen haben auch Teil an unserer Lebensgeschichte. Ich glaube, unsere narrative Realität besteht aus dieser Verstrickung der Geschichten. Wenn man dieses Problem der narrativen Identität in Anschluss an Ricoeur untersucht, merkt man, dass die Identität eigentlich aus diesen selben Narrationen besteht. Es gibt also keine wesentliche Struktur, die ewig und unmodifizierbar ist, sondern sie wird innerhalb der Geschichte im stetigen Wandel gebildet.