Fiktion und Erkenntnis

Christoph Demmerling

Fiktion und Erkenntnis

Christoph Demmerling

Leisten fiktionale Texte einen Beitrag zur Erkenntnis? Falls ja, worin besteht dieser Beitrag und unterscheiden sich durch die Lektüre fiktionaler Literatur gewonnene Erkenntnisse von solchen, die wir durch lebensweltliche Erfahrungen, Schul- und Universitätsbesuch sowie das Studium von Sachbüchern oder wissenschaftlichen Theorien erwerben? Dies sind die Fragen, denen ich im Rahmen meiner Überlegungen nachgehen möchte. Zur Einleitung skizziere ich mein Verständnis von Fiktion bzw. fiktionalen Texten (I). Im Anschluss gebe ich einen Überblick über einige der in der laufenden Debatte zum Thema Fiktion und Erkenntnis maßgeblichen Fragen, die insbesondere die Begriffe der Wahrheit und des Wissens bzw. der Erkenntnis betreffen (II). Im dritten Teil frage ich, ob und inwiefern die Lektüre fiktionaler Literatur auch dann einen Erkenntniswert haben könnte, wenn man sie weder als Wahrheits- noch als Wissensvermittlerin begreift (III). Im letzten Teil folgen Überlegungen zur Frage nach dem nicht-propositionalen Wissen in der Literatur (IV).

I. Der Begriff der Fiktion

Es ist viel über die Frage nachgedacht worden, was die maßgeblichen Kennzeichen fiktionaler Texte sind und wodurch sich fiktionale und nicht-fiktionale Texte voneinander unterscheiden. Auch wenn man sich darüber streiten kann, ob sich die Kategorie des fiktionalen Textes durch die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen auf eine Weise definieren lässt, die alle relevanten Fälle erfasst und alle nicht-relevanten Fälle ausschließt, so lassen sich doch Merkmale oder Kriterien angeben, mit Hilfe derer paradigmatische oder prototypische Fälle von fiktionalen Texten im Großen und Ganzen von nicht-fiktionalen Texten unterschieden werden können. Dabei reicht es allerdings nicht aus, sich lediglich auf die Eigenschaften von Texten zu konzentrieren, vielmehr müssen neben der Text- auch die Autor- sowie die Leserseite berücksichtigt werden. Fiktionalität ist das Ergebnis des Zusammenspiels von drei Faktoren: Textmerkmalen, Autorintentionen oder Leserhaltungen. Keiner dieser Faktoren reicht für sich genommen aus, um die Besonderheiten fiktionaler Texte zu erfassen.

Ohne mich auf die feinen Verästelungen einlassen zu können, die sich vor allem in der jüngeren Diskussion ergeben haben, skizziere ich im Folgenden mit Blick auf die Rolle von Text, Autor und Leser drei Merkmale, von denen sich zwei aus verschiedenen Beiträgen gewinnen lassen, welche in der analytischen Philosophie der Literatur eine wichtige Rolle gespielt haben und zum kanonischen Bestand in der Diskussion gehören.

Gottlob Frege hatte in einigen Nebenbemerkungen im Rahmen seiner Überlegungen zu Sinn und Bedeutung sprachlicher Ausdrücke darauf hingewiesen, dass Eigennamen in fiktionalen literarischen Texten keine Bedeutung in seinem Sinne haben (müssen) und ihren Sätzen kein Wahrheitswert als Bedeutung zugeschrieben werden kann (besser: zugeschrieben werden können muss), sie also weder wahr noch falsch sind bzw. sein müssen. Gleichwohl besitzen Aussagen über fiktive Figuren bzw. Eigennamen und Kennzeichnungen in fiktionalen Texten einen Sinn. Sie präsentieren Gegenstände in einer bestimmten Perspektive und bringen Gedanken zum Ausdruck. Freges Bemerkungen sollten folgenreich werden, wobei er sich nicht ausführlich mit dem Problem der fiktionalen Literatur beschäftigt hat, sondern vor allem durch seine Beispiele zum Impulsgeber einer weit verzweigten Diskussion über semantische Fragen der Literatur geworden ist. Im Rahmen der Überlegungen Freges scheint zunächst zwar lediglich der Text als solcher im Mittelpunkt zu stehen, aber Frege geht durchaus bereits auf die Rolle der Autoren bzw. Urheber von fiktionalen Äußerungen ein und formuliert die Auffassung, dass bei einer fiktionalen Äußerung die für den Vollzug eines Sprechaktes normalerweise geltenden Regeln beiseitegelassen werden. Sätze in fiktionalen literarischen Texten, so macht Frege geltend, besitzen keine behauptende Kraft.1 Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, S. 32 f. Frege, „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung“, S. 63 ; mein Frege-Verständnis folgt in dieser Sache Gabriel, „Science and Fiction. A Fregean Approach“. Damit nimmt er im Grunde bereits die zentrale Idee des in der Philosophie der Literatur vieldiskutierten Versuchs von John R. Searle vorweg, der sich ausführlich mit fiktionalen Sprechakten und der Rolle der Produzenten von fiktionaler Rede auseinandergesetzt hat. Searle hat die fiktionale Rede unter anderem dadurch charakterisiert, dass die mit dem Vollzug von Sprechakten im Normalfall verbundenen Ansprüche nicht wirklich erhoben werden, sondern lediglich vorgegeben wird, sie zu erheben.2 Vgl. Searle, „The Logical Status of Fictional Discourse“. Autoren fiktionaler Texte, so Searle, treffen keine Feststellungen, sondern geben vor, Feststellungen zu treffen, wenn sie Sätze formulieren, die wie Behauptungen aussehen. Die Aussagen in fiktionalen Texten, welche die Form von Behauptungen haben, unterscheiden sich dadurch von echten Behauptungen, dass mit ihnen nicht der Anspruch erhoben wird, wahr zu sein. Die in ihnen verwendeten Ausdrücke beziehen sich nicht auf Gegenstände in der Wirklichkeit, sie besitzen keine echte Referenz. Analoges gilt für andere Typen von illokutionären Akten: Versprechen auf der Theaterbühne sind keine wirklichen Versprechen, die Trauung in einem Roman führt nicht zu einer Eintragung beim Standesamt. Freges und Searles Überlegungen haben der neueren Debatte über den Begriff der Fiktion zweifellos wichtige Impulse gegeben, auch wenn sie in verschiedenen Hinsichten modifiziert worden sind.3 Ich denke insbesondere an Gottfried Gabriels breit gefächerte Arbeiten zur Philosophie der Literatur. Gabriel, Fiktion und Wahrheit, S. 125 ff. Gabriel hat Freges Überlegungen auf behutsame Weise weiterentwickelt und einen eigenständigen Ansatz zum Begriff der Fiktion sowie zum Erkenntniswert der Literatur entwickelt. Dass Eigennamen in fiktionalen literarischen Texten keine Bedeutung haben, sich nicht auf einen existierenden Gegenstand beziehen, dass Sätze in der Literatur nicht wahrheitsfähig sind und dass Autoren von fiktionalen Werken in einem bestimmten Sinne keine Wahrheitsansprüche erheben, trifft sicher auf viele Texte zu. Und es dürften vorrangig diese Eigenschaften gewesen sein, die dazu geführt haben, fiktionalen Texten keine Wahrheits-, Wissens- oder Erkenntnisrelevanz zuzusprechen. Keine der angeführten Eigenschaften ist jedoch in einem strengen Sinn als notwendige Bedingung dafür anzusehen, dass ein Text als fiktionaler Text klassifiziert werden kann. Schließlich können fiktionale literarische Texte einzelne Wahrheiten enthalten und sie können sich auch auf reale Gegenstände oder Sachverhalte beziehen. Ich denke aber, mit dem Hinweis darauf, dass sie dies nicht müssen, ist schon einmal ein wichtiger Schritt zur Charakterisierung des Fiktionalen getan.

Entscheidender jedoch als semantische und pragmatische Fragen, welche den Text und den Textgebrauch durch den Autor betreffen, sind aus meiner Sicht die Leserhaltungen, die gegenüber den Texten eingenommen werden und die mitunter ganz unterschiedlich sein können. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist dieser Aspekt ausführlich diskutiert worden. So hat beispielsweise Kendall Walton die Lektüre fiktionaler Literatur leserseitig als Teilnahme an einem Spiel des Glauben-Machens rekonstruiert.4 Vgl. Walton, Mimesis as Make-Believe; eine ausführliche Diskussion von Ansätzen, welche die Rezeption literarischer fiktionaler Texte in den Mittelpunkt stellen, findet sich bei Wettstein, Fiktive Geschichten – Echte Emotionen, S. 75 ff. Fiktionale Texte werden als Requisiten in einem ‚So-tun-als-ob-Spiel‘ verwendet und laden Leser dazu ein, eine bestimmte Haltung gegenüber den Texten an den Tag zu legen. Selbstredend können die Haltung, die Leserinnen und Leser gegenüber einem Text einnehmen, und der Modus, in dem sie sich auf einen Text einlassen, durch Autoren gesteuert und provoziert werden. Wichtig aber ist, wie Leserinnen und Leser die Texte auffassen, die sie lesen, wichtig ist, als welche Art von Texten sie diese lesen und was sie aus ihnen machen.

Rezeptionshaltungen, die sich einem Text gegenüber einnehmen lassen, können auf fließende Weise ineinander übergehen, sie können wechseln, gleichwohl lassen sie sich auf prototypische Weise voneinander unterscheiden. Was macht jemand, der einen fiktionalen Text, beispielsweise einen Roman liest, im Vergleich mit jemandem, der ein Sachbuch liest? Leser von Romanen suchen keine Informationen über die Welt, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem dies Leserinnen von Sachbüchern tun. Der Grund dafür lässt sich zunächst einmal recht einfach im Rückgriff auf die vorausgegangenen Überlegungen explizieren. Mit den Sätzen in einem Stadtführer oder in einem Geschichtsbuch werden Behauptungen getätigt, die Autoren der entsprechenden Texte legen sich auf die Wahrheit ihrer Äußerungen fest. Genau das ist es auch, was die Leserinnen erwarten. Für einen Roman (andere literarische Formen lasse ich außer Acht) gilt das nicht, jedenfalls nicht in einem einfachen oder direkten Sinn. Man kann zwar hoffen, aus einem Roman etwas über die Stadt Wien oder die Imperialkriege in Nordamerika zu erfahren, aber es ist nicht der primäre Zweck der Lektüre, ein Wissen über die betreffenden Angelegenheiten zu erwerben. Als Leser ist man sich schließlich bewusst, dass es sich in der Regel um erfundene Geschichten handelt, die zwar in vielerlei Hinsicht und mehr oder weniger lose mit der Welt verbunden sein können, in die reale Personen, Begebenheiten und Schauplätze einfließen können, dies aber nicht müssen. Deshalb glaubt man nicht einfach, was in einem fiktionalen Text steht. Die Weise des Nichtglaubens, die sich in diesem Zusammenhang einstellt, ist allerdings eine andere als die, die sich einstellt, wenn man am Wahrheitsgehalt eines Tatsachenberichts zweifelt. Anders als zweifelhaften Tatsachenberichten billigt man fiktionalen Texten in der Regel eine Relevanz zu, wenn man sich schon mit ihnen beschäftigt. Man bezieht fiktionale Texte durchaus auf die Welt, freilich nicht in der Weise, dass man für bare Münze nimmt, was in Ihnen steht. Die Leser stellen sich während (oder auch nach) ihrer Lektüre die Personen, Begebenheiten und Schauplätze im Roman vor, sie führen sich deren Inhalte vor Augen, ohne (notwendig) an deren Existenz zu glauben, billigen ihnen aber trotzdem Bedeutsamkeit für die Belange in der realen Welt zu. Mir reicht es einstweilen, wenn man mir zugesteht, dass fiktionale Texte für ihre Leserinnen und Leser Bedeutsamkeit aufweisen. Ist diese Bedeutsamkeit im weitesten Sinne kognitiver Art und in welchem Sinn könnte die Beschäftigung mit fiktionalen Texten für die Philosophie relevant sein?

Bevor ich zum zweiten Teil meines Beitrags komme, sollte ich klarstellen, was ich bislang einfach gemacht habe, nämlich dass ich dann, wenn ich von „fiktionalen Texten“ spreche, primär an literarische fiktionale Texte denke. An einer Definition von Literatur möchte ich mich nicht versuchen, es mag der Hinweis genügen, dass es ebenso nicht-fiktionale literarische Texte wie nicht-literarische fiktionale Texte gibt. Texte, die faktive Ereignisse auf kunstvolle Weise erzählen, sind literarisch, aber nicht-fiktional, die anspruchslose Erzählung oder Nacherzählung fiktiver Ereignisse („Winnetou und Old Shatterhand haben Blutsbrüderschaft geschlossen.“) ist nicht notwendigerweise Literatur, aber fiktional. Dies möchte ich nun nicht vertiefen. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen jedenfalls literarische fiktionale Texte.

II. Wahrheit und Wissen in der Literatur

Die Diskussion unter den Autorinnen und Autoren, die behaupten, dass die Literatur Erkenntnisse vermittelt und Wissen enthält, konzentriert sich häufig auf den Begriff der Wahrheit bzw. auf die Frage danach, ob, inwieweit und in welchem Sinne literarische Texte wahr sein können. Dass die Literatur Wahrheiten enthalten kann, wird oft eingeräumt. Eine kontrovers diskutierte Frage lautet, ob Wahrheiten in einem literarischen Werk zu dessen ästhetischem Wert beitragen und wie sich die Rede von der Wahrheit in der Literatur zu dem in den Wissenschaften üblichen Verständnis der Wahrheit verhält. So gestehen beispielsweise Peter Lamarque und Stein H. Olsen zu, dass literarische Werke Erkenntnis vermitteln und Wahrheit enthalten können, allerdings bestreiten sie, dass diese Eigenschaften für Texte als literarische Texte konstitutiv sind oder einen Einfluss auf deren ästhetischen Wert haben.5 Lamarque und Olsen, Truth, Fiction, and Literature, S. 5 ff. Daneben finden sich Autorinnen und Autoren, die davon ausgehen, dass die Vermittlung von Erkenntnis und Wissen, und damit ggf. auch die Eigenschaft wahr zu sein, zu den zentralen Charakteristika literarischer Texte gehören und bei einem Urteil über deren ästhetischen Wert Berücksichtigung finden müssen.6 Vgl. Gabriel, Fiktion und Wahrheit; Reicher, „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis“; Vendrell Ferran, Die Vielfalt Der Erkenntnis. Aber selbst wenn man sich darauf verständigt hat, dass Wahrheit zum literarischen Text gehören kann, auch wenn nicht unbedingt als für literarische Texte wesentliches Merkmal, bleibt eine Vielzahl von Streifragen offen. Zentral dürfte die Debatte darüber sein, ob es tatsächlich Wahrheit ist, die von Belang ist, oder ob es nicht vielmehr andere Arten von epistemischen Gütern sind, die durch die Lektüre von Literatur erworben oder verbessert werden können, solche, die zwar einen Bezug zu Wahrheitsfragen aufweisen mögen, zum Teil auch begrifflich mit der Wahrheit zusammenhängen, ihrerseits aber von der Frage nach der Wahrheit als solcher zu unterscheiden sind. Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Klarheit, Pointiertheit, Trefflichkeit, Nachvollziehbarkeit oder Plausibilität sind beispielsweise Kandidaten, die sich in diesem Zusammenhang nennen lassen.

Etwas Wahres kann ein literarischer Text auf recht unterschiedliche Weise sagen und so lautet eine kontrovers diskutierte Frage in der Diskussion um den Erkenntniswert der Dichtung, in welchem Modus Wahrheit zur Sprache kommt und welche Form von Wissen oder Erkenntnis in und von der Literatur thematisiert werden.

Mit der Rede vom Modus der Wahrheit beziehe ich mich auf die Frage, ob eine Wahrheit auf direkte und explizite Weise zur Darstellung gelangt, wie das beispielsweise in wissenschaftlichen Texten der Fall ist, oder ob sie in indirekter oder impliziter Form eine Rolle spielt und nicht ausgesprochen, gleichwohl aber mitgeführt wird. Ein Satz wie „Es war eine Besonderheit der Kolonialkriege in Nordamerika, dass, ehe die feindlichen Heere aufeinandertreffen konnten, es den Widrigkeiten und Gefahren der Wildnis zu trotzen galt“ (mit diesem Satz beginnt James Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner. Ein Bericht aus dem Jahre 1757) könnte sich im Prinzip auch in einer historischen Arbeit über die Kolonial- bzw. Imperialkriege in Nordamerika finden. Wenn der gerade zitierte Satz wahr ist, dann, so möchte man sagen, ist er es in derselben Weise, in der er es in einer historischen Arbeit wäre. Gleiches gilt für Beschreibungen, beispielsweise von den geographischen Gegebenheiten in einer bestimmten Region oder einer Stadt, wie sie in literarischen Texten häufig vorkommen. In literarischen Texten finden sich allerdings nicht nur Sätze, die etwas in direkter und expliziter Weise auf der Ebene der Beschreibung sagen. Um mich einer beinahe schon klassischen Unterscheidung zu bedienen: Fiktionale Texte sagen nicht nur etwas, oftmals zeigen sie auch etwas, sie machen etwas auf indirekte Weise zum Thema.7 Zur Unterscheidung von „sagen“ und „zeigen“ im Kontext der Philosophie der Literatur vgl. Lamarque und Olsen, Truth, Fiction, and Literature, S. 287 f.

Mit dem Problem des Modus der Wahrheit verbunden sind auch in der Diskussion verbreitete Unterscheidungen wie die zwischen These und Thema, zwischen Behauptung und Vergegenwärtigung, zwischen dem semantischen Gehalt und dem thematischen Gehalt eines Textes. Literarische Texte können etwas zum Thema machen, ohne auf das betreffende Thema bezogene Behauptungen aufzustellen. Ein Roman oder eine Erzählung können die Unaufhaltbarkeit der Macht des Schicksals, das entfremdete Leben in der modernen Großstadt oder die Vergänglichkeit des Glücks thematisieren, ohne darauf bezogen explizite Thesen zu vertreten, indem sie etwa behaupten, dass das Glück vergänglich ist. Thesen werden mit dem Anspruch vertreten, wahr oder falsch zu sein, was für Themen nicht gilt.8 Vgl. Lamarque und Olsen, Truth, Fiction, and Literature, S. 286 f.; vgl. auch die pointierten Bemerkungen bei Gabriel, Fiktion und Wahrheit, S. 99 ff. Themen sind interessant und wichtig, oder langweilig und ermüdend. Die Themen, die in einem Text zur Sprache kommen und sich durch Interpretationen ermitteln lassen, sind nicht nur von Thesen zu unterscheiden, die im Rahmen eines Themas selbstredend vertreten werden können, sie sind auch auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die Beschreibungen, die ein Text liefert, welche die Handlungen, die Personen, den Ort und die Zeit eines Geschehens betreffen. Die Aspekte, die mit Blick auf literarische Texte in der Regel als besonders relevant gelten, werden häufig nicht auf der Ebene der einzelnen Beschreibungen verortet, die ein Text von seinen Figuren, deren Lebensumständen und Verhaltensweisen zeichnet, sondern auf der Ebene eines thematischen Gehalts höherstufiger Ordnung. Letzterer wird von den Lesern ‚entdeckt‘ und dann ggf. im Lichte der Wahrheitsfrage erörtert.9 Vgl. Misselhorn, „Literatur, Wahrheit und Philosophie“; zur Unterscheidung zwischen ‚buchstäblichem’, semantischem und thematischem Gehalt vgl. Lamarque und Olsen, Truth, Fiction, and Literature, S. 282 ff. Wer geltend macht, dass die Unaufhaltbarkeit der Macht des Schicksals Thema eines Romans ist, behauptet nicht, dass der Autor des betreffenden Textes dies behauptet oder dass die Schicksalsmachtunaufhaltbarkeit als These in einem Roman vertreten wird. Er behauptet lediglich, dass sich ein Text in dieser Perspektive interpretieren lässt.

Unterscheidungen wie die zwischen „explizit“ und „implizit“, „sagen“ und „zeigen“, „behaupten“ und „vergegenwärtigen“, „These“ und „Thema“, „semantischem“ und „thematischem“ Gehalt eines Textes sind miteinander verzahnt, ohne aufeinander reduziert oder auseinander abgeleitet werden zu können. Alle diese Unterscheidungen betreffen die Art und Weise, auf die in der Literatur etwas zur Darstellung gelangt. Bezogen auf die Frage nach dem Modus der Wahrheit sehe ich keinen Grund, der gegen eine pluralistische Sicht sprechen würde, der zufolge in der Literatur von allen Modi der Thematisierung Gebrauch gemacht werden kann und je nach Text auch Gebrauch gemacht wird. Die Literatur sagt und zeigt, behauptet und vergegenwärtigt, verfährt mal explizit, mal implizit; in manchen Texten regiert das Vergegenwärtigen über das Behaupten, in anderen Texten verhält es sich umgekehrt. Dieser Befund mag theoretisch unbefriedigend sein, entspricht aber der Vielfalt und dem Formenreichtum literarischer Texte.

Unter den Autorinnen und Autoren, für die Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur relevante Faktoren sind, wird nicht nur über den Modus der Wahrheit, sondern auch kontrovers über die Frage diskutiert, welche Form von Wissen oder Erkenntnis in bzw. von der Literatur thematisiert wird. Einem verbreiteten Verständnis der Wahrheit zufolge ist Wahrheit im Sinne ihrer Definition als Übereinstimmung einer Überzeugung oder Behauptung mit der Wirklichkeit aufzufassen. Einem kanonischen Verständnis des Wissens zufolge handelt es sich bei einer Überzeugung oder Behauptung dann um Wissen, wenn die betreffende Überzeugung bzw. Behauptung für wahr gehalten wird, wenn sie tatsächlich wahr ist und wenn sie gerechtfertigt ist. Als möglicher Kandidat für Wissen kommt unter dieser Voraussetzung lediglich das häufig so genannte propositionale Wissen in Frage, ein Wissen, welches aussageförmig und begrifflich strukturiert ist.

Eine Strategie, den Erkenntniswert der Literatur zu verteidigen besteht nun darin, die Begriffe des Wissens und der Erkenntnis in einem weiteren Sinne zu verstehen, in einem Sinne, der insbesondere auch das so genannte nicht-propositionale Wissen oder die nicht-propositionale Erkenntnis mit umfasst. Die Literatur sei, so wird gelegentlich in Form einer Komplementaritätsthese geltend gemacht (so u. a. von Gottfried Gabriel), vor allem ein für die Vermittlung nicht-propositionalen Wissens geeignetes Medium, während die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften in erster Linie propositionales Wissen vermitteln würden.10 Vgl. dazu u.a. Gabriel, Logik Und Rhetorik Der Erkenntnis, S. 67 . Bevor ich auf das Problem zurückkomme, ob und in welchem Sinne die Literatur nicht-propositionales Wissen vermittelt, möchte ich im nächsten Abschnitt zunächst der grundsätzlicheren Frage nachgehen, ob sich die Rede von einer epistemischen Relevanz der Literatur nicht auch dann retten lässt, wenn man sich nicht unmittelbar auf deren Wahrheit oder auf eine besondere Form des durch die Literatur vermittelten Wissens bezieht.

III. Erkenntniswert ohne Wahrheit und Wissen? (Zur epistemischen Relevanz von Literatur 1)

Von einer epistemischen Relevanz der Literatur zu sprechen, ohne sich auf Wahrheit und Wissen zu beziehen, mag auf den ersten Blick eigenartig klingen. Plausibel machen lässt sich die Idee im Anschluss am Catherine Elgin. Elgin macht geltend, dass wir nach der Lektüre fiktionaler Werke in einem kognitiven Sinne besser dastehen, was heißt, dass wir durch diese Lektüre etwas lernen.11 Vgl. Elgin, „Die kognitiven Funktionen der Fiktion“. Ihr zufolge lernen wir etwas, ohne dass dies mit einer Erweiterung oder Vertiefung unseres Wissens im üblichen Sinne zu tun hat.

Elgin schlägt vor, das Verständnis von Wissen im Sinne der Aufnahme einer Menge von voneinander getrennten Einheiten von Informationen um eine auf die Erkenntnis des Ganzen gerichtete Komponente zu ergänzen.12 Die Begriffe des Wissens und der Erkenntnis werden häufig synonym verwendet, auch wenn Vorschläge kursieren, sie voneinander zu unterscheiden. So macht beispielsweise Gabriel, Erkenntnis, S. 57 geltend, dass es Erkenntnisse gibt, die weder wahr noch falsch sind und er verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf Definitionen, Erkenntnis durch Bekanntschaft und phänomenales Wissen. Zur Erkenntnis in diesem Sinne gehören nicht nur auf einzelne Tatsachen oder Sachverhalte gerichtete Überzeugungen und andere einzelne Überzeugungen, die sich auf etwaige Zusammenhänge zwischen den fraglichen Sachverhalten beziehen, sondern auch Einsichten in die Feinstruktur der betreffenden Zusammenhänge, in die Orte, welche die verschiedenen Glieder in einem Zusammenhang jeweils einnehmen sowie ein Gespür dafür, was wichtig und unwichtig ist, wie sich die Zusammenhänge zwischen einzelnen Tatsachen genau gestalten und welche Faktoren die jeweils entscheidenden Merkmale in einem Zusammenhang darstellen. Literarische Texte vermögen dadurch, dass Lebenszusammenhänge in ihnen häufig auf eine besonders pointierte Form zur Darstellung gelangen, solche Merkmale hervorzuheben und unseren Blick für sie zu schärfen. Sie können uns helfen, Dinge, die von Wichtigkeit sind, von solchen zu unterscheiden, die vernachlässigt werden können. Ein Begriff, der sich anbietet, um die in diesem Zusammenhang relevanten kognitiven Veränderungen zu charakterisieren, ist derjenige des Verstehens. Die Lektüre fiktionaler Literatur kann uns helfen, etwas besser zu verstehen. Etwas (besser) zu verstehen, ist ein Fall von Erkennen, der nicht notwendigerweise mit dem Sammeln von Wahrheiten einhergeht und auch nicht umstandslos mit Wissen identifiziert werden kann.13 Über das Verhältnis von Verstehen und Wissen wird in der Philosophie kontrovers diskutiert. Aus meiner Sicht gibt es prima facie plausible Gründe dafür davon auszugehen, dass möglich ist, jemandem ein Verstehen zuzuschreiben, auch wenn bei der betreffenden Person keine wahren und gerechtfertigten Überzeugungen im Spiel sind.

Fiktionale literarische Texte führen uns Lebenssituationen unter Laborbedingungen vor, so dass sich ein Vergleich zwischen der Funktionsweise literarischer Texte mit der Rolle von Experimenten in den Naturwissenschaften aufdrängt.14 Vgl. Elgin, „Die kognitiven Funktionen der Fiktion“, S. 84 f. Experimente sind schließlich auch nicht als Verfahren zu begreifen, mit deren Hilfe ein Gegenstandsbereich einfach und vollständig zu einer Abbildung gebracht wird. Vielmehr werden im Experiment bestimmte Aspekte eines Geschehens besonders hervorgehoben, indem auf der Grundlage der Handlungen (Planen, Konstruieren, Präparieren, einen Ablauf starten) eines Experimentators Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, ein Geschehen mit technischen Mitteln so zu kontrollieren, dass bestimmte Phänomene bzw. Merkmale eines Ablaufs in herausgehobener Form vor Augen treten.15 Eine kurze Darstellung und Rechtfertigung dieser Sicht der Dinge findet sich in Janich 1997, 97–104; ausführlich zur Rolle von Experimenten siehe Hacking 1996 (zuerst 1983), 249–453, v.a. 364 ff. Experimente exemplifizieren bestimmte Aspekte von Phänomenen.16 Elgin, „Die kognitiven Funktionen der Fiktion“, S. 81 f. Die Funktionsweise literarischer Texte lässt sich in enger Anlehnung an diese Charakterisierung des Experimentes beschreiben. Auch literarische Texte bilden einen Gegenstandsbereich nicht einfach ab, vielmehr werden in ihnen bestimmte Aspekte eines Geschehens hervorgehoben, etwas wird mit ästhetischen Mitteln so gestaltet, dass bestimmte Phänomene besonders deutlich hervortreten, und der Blick sich auf die im Rahmen eines Geschehens besonders relevanten Merkmale richten kann. So kann es nicht überraschen, dass die Werke der fiktionalen Literatur gelegentlich nicht nur mit Experimenten verglichen, sondern ihrerseits als Gedankenexperimente angesehen wurden.17 Vgl. Carroll, „The Wheel of Virtue: Art, Literature, and Moral Knowledge“, S. 7 ff. Elgin, „Die kognitiven Funktionen der Fiktion“, S. 81 ; die Diskussion reicht allerdings weiter zurück: vgl. Davenport, „Literature as Thought Experiment (On Aiding and Abetting the Muse“.

Gedankenexperimente sind in den Wissenschaften, insbesondere aber in der Philosophie verbreitet. Ein philosophisches Gedankenexperiment stellt – bei allen Unterschieden und aller Vielfalt, die für das Verfahren mit oder in Gedanken zu experimentieren, kennzeichnend sind – in der Regel ein recht knapp gehaltenes Szenario dar, in dem eine Situation vorgestellt wird, die so nicht der Fall ist.18 Zu Gedankenexperimenten in der Philosophie vgl. Cohnitz, Gedankenexperimente in der Philosophie; im Anschluss daran auch Bertram, „Einleitung“, deren Überlegungen ich z.T. folge. Elemente der uns vertrauten Wirklichkeit werden variiert, um philosophischen Aufschluss über eine bestimmte Problemlage zu erhalten. Das Gedankenexperiment im philosophischen Text hat eine kognitive Funktion, auch wenn in ihm keine wahren Überzeugungen zum Ausdruck kommen oder kein Wissen im engeren Sinne vermittelt wird. Man denke an die Mühle von Leibniz, an Putnams Zwillingserde oder Davidsons Sumpfmenschen. Gedankenexperimente dienen häufig dazu, den Inhalt eines Begriffs zu klären, manchmal auch dazu, ihn zu verändern. An Putnams Szenario von der Zwillingserde beispielsweise schließt sich ein Vorschlag zum Verständnis des Bedeutungsbegriffs an. Es liefert ein Beispiel, an welches mit philosophischen Argumenten angeschlossen werden kann. Das Gedankenexperiment als solches enthält keine Argumente, es stellt auch keine Theorie dar und mit ihm muss keine These verbunden sein. Gleichwohl spricht es unsere kognitiven Fähigkeiten im weitesten Sinne an. In der Philosophie sind die Gedankenexperimente in eine philosophische Fragestellung eingebettet und es wird mit philosophisch relevanten Unterscheidungen und Schlussfolgerungen an das im Gedankenexperiment vorgestellte Szenario angeschlossen. Mit Vorschlägen zur Begriffsklärung oder Veränderung eines Begriffsverständnisses können Gedankenexperimente auch das Ziel verfolgen, uns eine neue Sicht der Dinge nahe zu bringen.

Sicher gibt es Unterschiede zwischen literarischen Texten und Experimenten oder Gedankenexperiment im skizzierten Sinn. Die meisten von ihnen dürften allerdings eher gradueller als substantieller Art sein. Eine Differenz zwischen fiktionalen Texten und Gedankenexperimenten in der Philosophie besteht darin, dass die Anordnungen von Figuren und Situationen in literarischen Texten mitunter sehr ausführlich sind und eine Vielzahl von Aspekten umfassen. Die Anordnungen von Figuren, Handlungen und Situationen in einem fiktionalen literarischen Text sind komplexer und facettenreicher als in einem philosophischen (oder wissenschaftlichen) Gedankenexperiment. Ein weiterer Unterschied lässt sich wie folgt explizieren: Im philosophischen Gedankenexperiment geht es zumeist um ein einziges Problem oder um einen einzelnen Begriff, zum Beispiel den Bedeutungsbegriff, oder mit dem Begriff der Identität verbundene Probleme. In fiktionalen literarischen Texten stehen dagegen häufig ganze Lebenssituationen oder -entwürfe zur Diskussion, die eine Vielzahl von Begriffen betreffen können. Viele, zum Teil ganz unterschiedliche Problemlagen werden ineinander verschachtelt. Zwar ist es auch im Roman so, dass bestimmte Sachverhalte im Vordergrund des Erzählten stehen, während andere Gesichtspunkte vernachlässigt werden, aber die Konzentration auf einen einzigen Aspekt dürfte eher selten sein, wenn sie überhaupt vorkommt. Ein literarischer Text dient für gewöhnlich nicht dazu, sich eines einzigen Problems anzunehmen. Aber – und nun komme ich zu den Gemeinsamkeiten – wie beim philosophischen Gedankenexperiment kann es zu den Wirkungen der Lektüre eines literarischen Textes gehören, dass sich ein Begriff klärt, dass sich der Inhalt eines Begriffs verändert oder sich bezogen auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eine neue Sicht der Dinge entwickelt. Und zweifellos lässt sich auch an literarische Texte, zumindest an einzelne ihrer Teile oder Passagen mit philosophischen Unterscheidungen und Schlussfolgerungen anschließen.

Wenn man Gedankenexperimenten in philosophischen Texten einen kognitiven Wert zubilligt, dann ist nicht einzusehen, warum man diesen den Konstellationen, die ein literarischer Text bietet, absprechen sollte, zumal sich literarische Texte in ähnlicher Form wie Gedankenexperimente verwenden lassen. Auch wenn es literarische Texte gibt, in denen explizit argumentiert wird, so enthalten die Anordnungen von Personen, Handlungssträngen und Begebenheiten in einem literarischen Text in der Regel keine Argumente, Theorien oder Thesen, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem dies in einem wissenschaftlichen Text der Fall ist. Anders ausgedrückt: Während man es als Defizit eines philosophischen oder wissenschaftlichen Textes ansehen würde, wenn für die in ihm vorgetragenen Überzeugungen nicht argumentiert wird, spielt das für einen literarischen Text keine Rolle. Ein literarischer Text stößt nicht deshalb auf Kritik, weil er keine guten Argumente präsentiert. Literarische Texte aber bereits aus diesem Grund als kognitiv belanglos anzusehen, hieße einzig und allein Fähigkeiten wie das Argumentieren für oder Rechtfertigen von Überzeugungen, Fähigkeiten, die in den Wissenschaften eine besonders wichtige Rolle spielen, als epistemisch relevant anzusehen. Aber worin könnte die epistemische Relevanz literarischer Texte bestehen, wenn Argumentieren und Rechtfertigen, Wahrheit und Wissen nicht in einem direkten Sinne eine Rolle spielen?

Die Auseinandersetzung mit fiktionalen literarischen Texten besitzt bereits aus dem einfachen Grund einen epistemischen Wert, weil man mit argumentativen und an Wahrheit und Wissen orientierten Diskursen an sie anschließen kann (wie an das philosophische Gedankenexperiment), auch wenn die betreffenden Texte ihrerseits nicht den Anspruch erheben, Wahrheiten zu enthalten oder Wissen zu vermitteln. Literarische Texte bzw. ihre Inhalte können jedoch zum Gegenstand eines Gesprächs werden, welches auf Wahrheit und Wissen zielt. Man könnte einwenden, dass sich an beinahe jede Erfahrung philosophisch und mit an Wahrheit und Wissen orientierten Diskursen anschließen lässt und es sich nicht um eine spezifische Eigenschaft der Literatur handelt. Grob betrachtet ist dieser Einwand nicht von der Hand zu weisen. Aber da es sich bei literarischen Texten um sprachliche Gebilde handelt, die eine mehr oder weniger komplexe Struktur besitzen, scheinen sie – anders als Spaziergänge oder Zoobesuche – geradewegs darauf zugeschnitten zu sein, unsere kognitiven Fähigkeiten anzusprechen und Verständigungen über Wahrheit und Wissen anzuregen.

Die Literatur spricht unsere kognitiven Vermögen aber vor allem in dem Sinne an, dass sie unsere Wahrnehmungen verfeinert, unsere Aufmerksamkeit bildet und den Blick für Unterschiede schärft, wobei in diesem Zusammenhang weder argumentative Fähigkeiten im Spiel sein, noch auch Wahrheit oder Wissen im unmittelbaren Sinne eine Rolle spielen müssen. Einen Wert besitzt die Literatur also auch dort, wo sie nicht in direkter Form Wahrheiten mitteilt oder uns unmittelbar mit einer Art von Wissen versorgt. Bei den Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeitsbildung handelt es sich zweifellos um Fähigkeiten, die im Zusammenhang mit der Suche nach Wahrheit und Wissen relevant sind.

Die Auseinandersetzung mit der Literatur bildet das Vorstellungsvermögen bzw. die Einbildungskraft und schult die Phantasie. Hier handelt es sich um Fähigkeiten, die dem Denken im Sinne des Schlussfolgerns insofern an die Seite gestellt werden können, als das Vorstellungsvermögen und die Phantasie zu den Fähigkeiten gehören, die auf Erkenntnis zielen bzw. Erkenntnisprozesse fördern. Was das Vorstellungsvermögen und die Phantasie betrifft, so könnte man meinen Überlegungen entgegenhalten, dass Vorstellungen oder Produkte der Phantasie anders als Überzeugungen keinen Abgleich mit der Wirklichkeit erfordern und deshalb in erkenntnistheoretischer Perspektive irrelevant sind. Dass Phantasiegebilde nicht mit der Wirklichkeit korrespondieren müssen, mag richtig sein, was aber nicht heißt, dass sich auf ihrer Grundlage keine Einsichten gewinnen lassen, die für das menschliche Leben relevant sind. Die Auseinandersetzung mit der Literatur, das Spiel der Phantasie kann uns dazu bringen, bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit neu zu sehen und zu beurteilen. Neben der Phantasie und der Einbildungskraft sind auch weitere Vermögen von Nutzen, die in diesem Zusammenhang eine Erwähnung verdienen und die bereits in der Tradition, u.a. von Alexander Gottlieb Baumgarten als Elemente einer cognitio sensitiva angesehen wurden: Witz, Scharfsinn, Gedächtnis usw. Alles in allem handelt es sich um Vermögen, die eine erkenntnistheoretische Relevanz besitzen, ohne dass die betreffenden Vermögen als solche bereits zur Ausbildung von Wissen oder zur Kenntnis von Wahrheiten führen würden.

Abschließend möchte ich die oben bereits angesprochene Frage aufgreifen, ob und in welchem Sinne die fiktionale Literatur auf direkte Weise Wissen vermittelt und nicht nur die Ausbildung von Fähigkeiten befördert, die im Zusammenhang mit der Suche nach Wahrheit und Wissen relevant sind. Ich hatte bereits angeführt, dass literarische Texte durchaus propositionales Wissen enthalten und vermitteln können, sofern diese Texte Sätze enthalten können, die sich in derselben Form beispielsweise in Reiseführern oder Geschichtsbüchern finden. Aber ich möchte nun fragen, ob und in welchem Sinne fiktionale Literatur ggf. nicht-propositionales Wissen vermittelt und was es mit dieser Form bzw. mit diesen Formen des Wissens auf sich hat.

IV. Formen des Wissens. (Zur epistemischen Relevanz von Literatur 2)

Der Begriff des nicht-propositionalen Wissens ist leider kein besonders klarer Begriff. Den Ausdruck „propositional“ kann man im Sinne von »urteilshaft« verwenden. Propositionen werden in der Regel als begrifflich strukturierte Träger von Wahrheitswerten aufgefasst, die vermittels einer Struktur der Form „dass p“ repräsentiert werden können und aus Begriffen bestehen.19 Zum Begriff des Nichtpropositionalen Schildknecht, Aspekte des Nichtpropositionalen sowie ; Schildknecht, Sense and Self, an deren Überlegungen ich anschließe. Propositionen stehen überdies in inferentiellen Zusammenhängen. Mit dem Begriff des nicht-propositionalen Wissens hingegen werden beispielsweise die vielfältigen Arten des (praktischen) Wissens oder Könnens bezeichnet. Man denke an den Fußballspieler, dem ein formvollendeter Freistoß gelingt. Man scheint es hier mit Kenntnissen, Arten des Wissens oder Denkvorgängen in einem weiteren Sinn zu tun zu haben, die ohne propositionale Strukturen und scheinbar auch ohne Begriffe auskommen. Ob und in welchem Sinne bei der angeführten Art des Könnens nicht vielleicht doch Begriffe am Werk sind, ist umstritten. Das ist eine Frage, der ich in diesem Text nicht nachgehen kann.20 Diese Frage wurde in den vergangenen Jahren viel diskutiert und ist zum Gegenstand einer weit verzweigten Debatte geworden. Wichtige Protagonisten sind Hubert L. Dreyfus und John McDowell; vgl. Dreyfus, „Overcoming the Myth of the Mental“; Dreyfus, „Response to McDowell“; Dreyfus, „The Return of the Myth of the Mental“; McDowell, „Response to Dreyfus“ sowie; McDowell, „What Myth?“ Als weitere Art des nicht-propositionalen Wissens gilt das Kennen im Sinne einer direkten Vertrautheit oder Bekanntschaft mit etwas. Man kann an die Kenntnis eines Weges, einer Landschaft oder einer Stadt denken, auf dem oder in der man sich zurechtfindet, aber auch an Wahrnehmungen und das phänomenale Wissen von den eigenen Bewusstseinszuständen, welches häufig mit der Wendung „wie es ist“, zum Beispiel einen Kaffee zu schmecken, zum Ausdruck gebracht wird, die sich auf die Qualität eines Zumute-Seins bezieht. Auch diese Fälle sind umstritten. Dreht sich im Fall von Wahrnehmungen die Diskussion um die Frage, ob nicht doch bereits Begriffe in sie eingelas­sen sind und wahrnehmungsbasiertes Erfahrungswissen als propositional anzusehen ist, oder ob Wahrnehmungen gänzlich ohne Begriffe auskommen, aber gleichwohl als Wissen angesehen werden müssen, so wird anlässlich des phänomenalen Wissens häufig bestritten, dass dies ein in irgendeinem Sinne relevanter Bereich ist und ob hier überhaupt von „Wissen“ geredet werden sollte. Neben dem (praktischen) Können, dem Kennen von etwas, dem Wissen, welches sich auf (eigene) Bewusstseinszustände bezieht, dem Gehalt wahrnehmungsgebundener Erfahrungszustände sind es gelegentlich auch Formen des ‚natürlichen Erkennens‘ (die Ahnung) und ästhetische Erkenntnisse (auf eine besondere Weise mit sinnlichen Fähigkeiten verbundene Urteile), die als typische Fälle von nicht-propositionalem Wissen angesehen werden.

In der neueren erkenntnistheoretischen Diskussion wurde die These vertreten, dass verschiedene Formen des nicht-propositionales Wissen auf propositionales Wissen zurückgeführt werden können. Dies zumindest ist die These der so genannten Intellektualisten, die sich um den Nachweis bemühen, dass sich Können und Kennen auf propositionales Wissen reduzieren lassen.21 Eine vieldiskutierte Variante des Intellektualismus vertritt Stanley, Know How; einen Überblick über die Debatte gibt Löwenstein, „›Wissen, dass‹ und ›Wissen, wie‹“; vgl. auch Brendel, Wissen, S. 18 ff., die auch auf das phänomenale Wissen bezogen eine Reduktionsthese vertritt. Soweit ich sehe, zeigen die Reduktionsversuche zwar, dass es möglich ist, syntaktische Konstruktionen, die auf ein Können oder Kennen hindeuten, in syntaktische Konstruktionen zu überführen, die ein Wissen-dass anzeigen. Aber das ist für sich genommen sicher noch kein verlässliches Indiz dafür, dass auch die betreffenden Wissensformen aufeinander zurückgeführt werden können. Hierfür im Einzelnen zu argumentieren, wäre aber Gegenstand eines anderen Beitrags.

Ich habe nun auf verschiedene Formen des nicht-propositionalen Wissens hingewiesen und ich unterstelle für den Augenblick, dass ein maßgeblicher Faktor, der die Lektüre von fiktionaler Literatur als epistemisch wertvoll erscheinen lässt, darin besteht, dass die Literatur nicht-propositionales Wissen vermittelt. Unter dieser Voraussetzung stellt sich die Frage, ob dies für alle Formen des nicht-propositionalen Wissens gilt bzw. welche Formen des nicht-propositionalen Wissens denn von ihr vermittelt werden können. Genau betrachtet handelt es sich ja um eine Gruppe von Wissensformen, die vergleichsweise heterogen ist und allein durch die Opposition zum propositionalen Wissen zusammengehalten wird.

Eine Vermittlung von nicht-propositionalem Wissen im Sinne des praktischen Könnens kann die fiktionale Literatur nicht leisten. Die Lektüre fiktionaler literarischer Texte ist in der Regel nicht hinreichend dafür, dass man lernt (besser) zu tanzen oder (besser) Klavier zu spielen. Es mag zwar durchaus sein, dass die Lektüre eines Romans, in dem ein Tänzer oder eine Pianistin eine wichtige Rolle spielen, den Leser mit neuen Erkenntnissen versorgt, die sich auf den Tanz oder das Klavierspiel beziehen, sie können auch sein Verständnis für bestimmte Schritte oder Musikstücke schärfen und generell das Urteilsvermögen mit Blick auf Tänze oder Musikstücke verbessern. Aber praktisches Wissen in einem engeren Sinne vermitteln sie nicht. Da sitzt die fiktionale Literatur im selben Boot wie Sachbücher oder wissenschaftliche Abhandlungen, die beispielsweise Aspekte des Tanzes oder des Klavierspiels thematisieren.

Vielmehr als Formen des Könnens scheinen es solche des Kennens und der Vertrautheit zu sein, die von der Literatur auf eine besondere Weise vermittelt werden. Zwar macht die Literatur ihre Leser nicht direkt mit einem Ort, der Qualität und dem Inhalt eines Bewusstseinszustands oder einer Wahrnehmung bekannt. Etwas über eine Stadt zu lesen, ist etwas anders als sich in dieser Stadt aufzuhalten, aber Leser können vermöge ihrer Phantasie und Einbildungskraft durch die Beschreibungen von Landschaften oder Orten etwas über diese lernen oder an den Erfahrungen der handelnden Figuren partizipieren und auf diese Weise mit einer Erfahrung vertraut werden, die sie selber nicht oder noch nicht in direkter Form gemacht haben. Freilich hängt hier vieles daran, wie man die Rede davon, dass eine Erfahrung gemacht wird, versteht. In einem bestimmten Sinne machen Leser im Augenblick der Lektüre schließlich keine Erfahrungen außer derjenigen, ein Buch zu lesen. Jedoch gilt es zu differenzieren. Literarische Texte vergegenwärtigen im besten Falle in einem allgemeineren Sinne Erfahrungen fiktiver Personen. Auf diese Weise führen die Texte maßgebliche Aspekte der menschlichen (Grund-)Situation vor Augen, die sie uns zugänglich werden lassen und verständlich machen. Durch die imaginative Konfrontation mit solchen Erfahrungen können wir etwas Neues lernen und zu einem anderen Menschen werden, indem Perspektiven vor Augen geführt werden, die uns so bislang nicht vertraut waren. Entscheidend ist, dass die Imagination durch die Auseinandersetzung mit der Perspektive einer anderen, uns fremden Subjektivität in Gang gesetzt wird und die Prozesse des Erfahrungserwerbs durch Fremderfahrungen vermittelt sind. Weil die Dimension des Subjektiven eine so entscheidende Rolle spielt, erscheint es angemessen, das in diesem Zusammenhang einschlägige Wissen als ein nicht-propositionales Wissen aufzufassen bzw. als ein Wissen, welches sich auf ein nicht-propositionales Erkenntnisobjekt bezieht.22 Eine detaillierte Argumentation für diese Position findet sich bei Vendrell Ferran, Die Vielfalt Der Erkenntnis, S. 215 ff., an deren Überlegungen ich anschließe; die Erfahrungen in der Literatur, so macht sie geltend, sind durch eine phänomenale Qualität, eine epistemische Funktion und eine existentielle Dimension gekennzeichnet. Streiten kann man sich freilich darüber, ob und inwieweit Leserinnen und Leser mit den fiktiven Figuren bestimmte Erfahrungshorizonte teilen müssen, um die in einem fiktionalen Szenario geschilderten Begebenheiten überhaupt als für das eigene Leben relevant ansehen zu können.

Als Ergebnis meiner Überlegungen lässt sich festhalten: Die epistemische Dimension von (Lektüre-)Erfahrungen besteht zum einen darin, Fähigkeiten anzusprechen, die zu unserer epistemischen Gesamtausstattung gehören. So kann die Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur die Wahrnehmung verfeinern und die Aufmerksamkeit bilden. Zum anderen kann die imaginative Konfrontation mit einer Situation dazu führen, neue Aspekte sehen zu lernen und die eigene Sicht der Welt unter Umständen zu modifizieren, wenn man mit fremden Perspektiven konfrontiert wird. Wie auch immer man die Reichweite und die transparente Qualität der Erkenntnisse, die literarische Kunstwerke vermitteln, im Einzelnen beurteilt, klar scheint zu sein, dass die Auseinandersetzung mit der fiktionalen Literatur zu Wissen führt, mithin also eine erkenntnistheoretische Relevanz besitzt.

Literatur

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