Mein Beitrag versteht sich im Rahmen des 1. Philosophischen Symposiums der DFG als eine historisch-systematische Klärung des Potentialitätsbegriffs, insbesondere seiner ontologisch-handlungstheoretischen Voraussetzungen und seiner moralphilosophischen Konsequenzen. Es sei daran erinnert, dass es sich hierbei um einen nicht schwerpunktmäßig der Philosophie des Mittelalters gewidmeten, sondern allgemein philosophischen Kontext handelt – worin ja gerade der Reiz des Symposiums liegt! Dies hat jedoch zur Folge, dass bestimmte fachspezifische Hintergründe und Diskussionen, etwa zur scotischen Metaphysik oder Willenstheorie, nicht vertieft dargestellt werden können. Die Anmerkungen bieten hierfür entsprechende Hinweise.
Als Gegenbegriff zur Aktualität ist die Potentialität in der antiken und frühmittelalterlichen Philosophie immer als die ontologisch defizitäre Stufe des Noch-nicht, als Prinzip der Bestimmungsbedürftigkeit und als Störfaktor, der der berechenbaren Ordnung des Notwendigen entzogen ist, bestimmt worden. Dies ändert sich im ausgehenden 13. und im 14. Jahrhundert, als unter dem Einfluss eines theologischen Voluntarismus die Frage nach der Freiheit und Allmacht Gottes neu aufbricht, weil dessen einseitige Metaphysizierung in Gestalt eines zuhöchst guten und vernünftigen Weltschöpfers oder eines unbewegt Bewegenden, wie die Philosophie des 12./13. Jahrhunderts sie aus der Antike übernommen hatte, in die Kritik gerät. Denn diese Zuschreibungen scheinen nicht hinreichend mit dem christlichen Gottesbild vereinbar, da sie zu verzerrenden Nezessitarisierungen Gottes führen, die nicht mehr mit der Vorstellung eines Gottes der Liebe, Freiheit und Gnade vereinbar sind; kurzum: eines Gottes, dem prinzipiell alle Möglichkeiten offenstehen.1
Diese Debatten mögen auf den ersten Blick nur eine spezifisch theologische Relevanz haben, doch dieser Blick trügt; insofern die Klärung des Problems genuin philosophisch ausgefochten wird, handelt es sich um eine philosophische Debatte mit weitreichenden philosophischen Konsequenzen. Betroffen ist – an der Schnittstelle von Ontologie und Moralphilosophie – das Verständnis von Potentialität, Kontingenz und Freiheit. Betroffen ist aber auch keineswegs nur Gott allein, sondern der Mensch und seine durch das Können ausgezeichnete Willensfreiheit, die – so macht es die handlungstheoretische Analyse deutlich – gleichfalls keiner Notwendigkeit untersteht. Die Philosophie des Johannes Duns Scotus, die diesen Zusammenhängen gewidmet ist2 und hier im Zentrum stehen soll, stellt in der philosophischen Analyse von Potentialität, Wille und Freiheit wichtige Weichenstellungen bereit, die bis heute für unser neuzeitliches Verständnis maßgebend sind.
Johannes Duns Scotus (1266-1308)3 zählt deshalb zu den wichtigsten Vertretern dieser Auseinandersetzungen, weil er die Potentialität zum Ausgangspunkt nimmt und gegen das traditionelle Verständnis dadurch philosophisch wieder hoffähig macht, dass er sie mit Kontingenz und Freiheit verbindet und von dort her neu denkt: Kontingent ist das, „dessen Gegenteil geschehen könnte, wenn es geschieht“ (cuius oppositum posset fieri quando illud fit), so die scotische Definition.4 Damit vertritt Scotus ein Konzept synchroner Kontingenz, das ein zeitgleiches Vorhandensein alternativer Möglichkeiten im Weltverlauf vorsieht.
Scotus gewinnt dieses positive Verständnis von Kontingenz in seiner Metaphysik, die vornehmlich erkenntniskritisch motiviert ist, d.h. von dem Gedanken getragen wird, dass eine wissenschaftlich begründete Rede von einer transempirischen Wirklichkeit nur dadurch erfolgreich sein kann, dass sie mit einer Kritik des menschlichen Vernunftvermögens verbunden wird, in der Grenzen und Reichweite der Vernunft (im Lateinischen überwiegend intellectus) reflektiert werden. Diese Kritik führt zu einer genauen Bestimmung dessen, was der Mensch überhaupt zu erkennen imstande ist, und wie sich ein höchster und zugleich allgemeinster Erkenntnisgegenstand finden lässt, dem er sich in der Metaphysik wissenschaftlich widmen kann. Für Scotus ist dies der transzendentale Begriff des Seienden, insofern es seiend ist (ens inquantum ens), nicht die Vorstellung Gottes als eines transzendenten Seienden im Sinne einer höchsten, immateriellen Substanz. Nur am Leitfaden eines transzendentalen (= transkategorialen) Begriffs des Seienden kann Gott Gegenstand der natürlichen menschlichen Erkenntnis werden, und zwar als ens infinitum. Dies führt dazu, dass Scotus den Gedanken der Analogie des Seienden zugunsten der Univokation aufgibt und damit in der Geschichte der Metaphysik einen Paradigmenwechsel einläutet: Alle Gegenstände unserer Erkenntnis lassen sich univok als seiend aussagen.5
Diese Neubestimmung führt zu einem Konzept von Metaphysik als Ontologie, d.h. als der begrifflichen, nicht mehr an der hylemorphistisch verstandenen Substanz bzw. der (aristotelischen) Physik orientierten Analyse des Sinngehalts von „seiend“. Scotus greift dabei auf das Lehrstück von den Transzendentalien, d.h. den transzendentalen Bestimmungen des Seienden zurück. Gemeint sind jene Bestimmungen, die jedem Seienden, insofern es seiend ist, zukommen und insofern mit dem Begriff des Seienden austauschbar sind: Jedes Seiende zeichnet sich dadurch aus, eines (unum), ein Etwas (res/aliquid), erkennbar (verum) usw. zu sein.
Da Scotus sich in besonderer Weise dem transzendentalen Seienden zuwendet, widmet er den Transzendentalien besondere Aufmerksamkeit und erweitert die Liste der klassischen konvertiblen Transzendentalien ens, aliquid, res, unum, bonum um die so genannten disjunktiven Transzendentalien, d.h. einander ausschließende Bestimmungen, die aber zugleich eine Einheit bewirken, also Transzendentalien, die nur paarweise zusammengenommen denselben Begriffsumfang wie „seiend“ haben. Neben kontradiktorischen disjunktiven Transzendentalien wie etwa ‚endlich – unendlich‘ kennt Scotus auch korrelative transzendentale Bestimmungen wie ‚möglich – wirklich‘ oder ‚notwendig – kontingent‘. Dabei handelt es sich um aufeinander verweisende oder einander zugeordnete Bestimmungen, die logisch miteinander zusammenhängen: Wenn etwa durch Rückgriff auf das Erfahrungswissen festgestellt werden kann, dass es wirkliches Seiendes gibt, ist es möglich zu folgern, dass es auch mögliches Seiendes gibt, also Seiendes, das auf die jeweils andere Bestimmung zutrifft. Hannes Möhle erläutert die Bedeutung dieser korrelativen disjunktiven Transzendentalien wie folgt: „Die Anwendbarkeit des einen Begriffs auf ein Seiendes zieht die Anwendbarkeit des anderen auf ein weiteres Seiendes notwendig nach sich. Das Eigentümliche solcher korrelativen Begriffe besteht gerade darin, dass der Inhalt des einen, wenn er auf ein Seiendes zutrifft, es erfordert, dass es auch ein Seiendes gibt, von dem der Inhalt des anderen Begriffs prädizierbar ist. So hat es etwa keinen Sinn, von der Existenz eines Verursachten zu sprechen, ohne mit dieser Rede implizit auch die Existenz einer Ursache einzuräumen.“6 „Mit dieser Konzeption“, so resümiert Joachim Söder treffend, „ist das Kontingenz-Problem auf eine ganz andere Ebene gehoben: Kontingenz ist nicht mehr eine abgeleitete, defizitäre Seinsweise, sondern steht transzendental-logisch auf derselben Stufe wie der Modus der Notwendigkeit.“7
Mit diesen metaphysischen Grundannahmen im Hintergrund entwickelt Scotus nun ein Verständnis von synchroner Kontingenz als „das, dessen Gegenteil geschehen könnte, wenn es geschieht“. Auf die modallogischen Implikationen dieses Lehrstücks kann hier nicht näher eingegangen werden.8 Mit Blick auf unser Ausgangsthema gilt es vielmehr zu berücksichtigen, wie Scotus betont, welche zentrale Funktion Kontingenz als metaphysische Entstehungsbedingung für Freiheit und damit für menschliches Handeln hat. Denn wenn alles der Notwendigkeit unterstünde, wären planvolles Abwägen und Handeln ebenso überflüssig wie die Annahme einer Tugendordnung oder unsere moralischen Bewertungsmaßstäbe von Belohnung und Strafe. All diese Momente nämlich sind nur sinnvoll anzunehmen unter der Voraussetzung, dass eine freie Handlung unter dem Prinzip der alternativen Möglichkeit steht und nicht aus unvermeidbarem Zwang oder Instinkt geschieht; anders nämlich wäre sie einem Urheber nicht zurechenbar und fiele nicht in seine Verantwortung:
„Denn wenn es keine Kontingenz gäbe, bräuchte man weder planvoll zu handeln noch abzuwägen. Denn dass es Kontingenz in den Dingen gibt, ist allen Menschen ebenso bekannt oder sogar noch bekannter, als dass man abwägen und planvoll handeln muss. Kontingenz lässt sich demnach a posteriori beweisen, denn ohne sie wäre eine Orientierung an Tugenden ebenso unnötig wie an Geboten, an Verdiensten, an Belohnungen, an Strafen, an Ehrungen, und in kurzer Zeit würden jegliche politische Ordnungen und jedes menschliche Miteinander zerstört werden.“9
Dass Kontingenz in ihrer aposteriorischen Erfahrbarkeit grundsätzlich zu den Bedingungen des menschlichen Lebens zählt, erläutert Scotus an einem etwas drastischen Beispiel, das er in Anlehnung an Avicenna ausführt:
„Den Leugnern von Kontingenz aber müsste man mit Folterwerkzeugen, mit Feuer und dergleichen zu Leibe rücken und sie so sehr traktieren, bis sie zugeben, dass es möglich ist, sie nicht zu quälen. Damit würden sie eingestehen, dass sie kontingenter Weise und nicht notwendig gequält würden. So macht es Avicenna mit denen, die das erste Prinzip [= das Widerspruchsprinzip] leugnen: Ihm zufolge müssen solche Leute so lange Misshandlungen ausgesetzt werden, bis sie wüssten, dass Gefoltertwerden und Nicht-Gefoltertwerden, Gebranntwerden und Nicht-Gebranntwerden nicht dasselbe sind.“10
Wo liegt aber der erste Grund für Kontingenz, wodurch wird Kontingenz verursacht? Nur der Wille, nicht die Vernunft, so macht Scotus deutlich, kommt als Verursacher von Kontingenz in Frage, denn nur er ist in der Lage, eine von synchron vorliegenden alternativen Möglichkeiten zu verwirklichen. Dies gilt zum einen für den göttlichen Willen. Damit schafft Scotus die Bedingung, Schöpfung als freien Willensakt und die geschaffene Welt als kontingentes Produkt des göttlichen Willens zu denken, d.h. auf die Priorität der göttlichen Vernunft und der ihr zukommenden Notwendigkeit zu verzichten, ohne die göttliche erste Ursache damit in ihrer Wirkweise herabmindern zu müssen. Zum anderen aber ist auch der menschliche Wille betroffen. Auch diesem kommt nämlich das Vermögen zu, sich auf Gegensätzliches beziehen zu können (potentiam esse ad opposita). Dieses Vermögen kann zweifach verstanden werden:
„entweder so, dass das Vermögen sich für denselben Augenblick zugleich (simul) auf Entgegengesetztes bezieht, oder so, dass es sich nacheinander (successive) und für verschiedene Augenblicke auf Entgegengesetztes bezieht. Das Vermögen, sich nacheinander auf Entgegengesetztes zu beziehen, findet sich nur im Bereich des Veränderlichen bzw. dient dazu, sich von einem Zustand in einen anderen zu verändern, wie es etwa bei Umwandlungsprozessen evident ist. Das andere Vermögen zu Entgegengesetztem ist unser Wille, der sich gegenüber beiden Gegensätzen je für sich (aber für denselben Augenblick) unentschieden verhält – freilich nicht in dem Sinn, dass die Gegensätze zugleich für denselben Augenblick zusammengenommen Bezugspunkt des Willens sind; das würde ja logisch Widersprüchliches implizieren.“ 11
Die hier beschriebene Simultaneität sieht – in Abhebung von einer sukzessiv vorgehenden Verwirklichung – eine Ausrichtung auf entgegengesetzte Alternativen vor, die zu ein und demselben Zeitpunkt synchron bestehen und denen gegenüber der Wille sich zunächst unentschieden (indistincte) verhält. Sie können zwar nicht gleichzeitig zusammengenommen (coniunctim), wohl aber je für sich (divisim) zur Verwirklichung gewählt werden.
Die Konsequenz liegt auf der Hand:
„Unser Wille aber will in dem Augenblick, in dem er sein Wollen hervorruft bzw. verursacht, auf kontingente Weise, und er könnte in demselben Augenblick, da er Ursache seines Wollens ist, das Gegenteil wollen, denn sonst würde er in jenem Augenblick mit Notwendigkeit verursachen.“12
Der Begriff der synchronen Kontingenz erlaubt also zu denken, dass in jedem Können eine alternative Möglichkeit angelegt ist: „Wer kann, der kann auch anders!“ (Thomas Buchheim)13Quelle oder Grund der Kontingenz kann jedoch nur der Wille, nicht die Vernunft sein, weil nur dem Willen das Vermögen zukommt, aus möglichen Alternativen eine auszuwählen und zur Verwirklichung zu bestimmen: „Und deshalb ist er [sc. der Wille] ein Vermögen, denn er selbst vermag etwas; er kann sich nämlich selbst bestimmen.“ (Et ideo est potentia, quia ipsa aliquid potest, nam potest se determinare.)14
Die Argumentation, dass nur der Wille – göttlicher wie menschlicher! – in der Lage sei, Kontingenz zu bewirken, also jenes Vermögen zu sein, das in der Lage ist, aus sich heraus einen neuen Anfang zu setzen, ist in einen Kontext eingebettet, der für die mittelalterliche Diskussion um die Willensfreiheit zentral ist, nämlich ob Freiheit auf seiten des Willens oder des Intellektes zu verorten sei. Sachlich gesehen ist damit die Frage nach dem Verhältnis des Willens zur Rationalität betroffen. Die komplexen Debatten um Intellektualismus versus Voluntarismus beherrschten die akademische Welt des ausgehenden 13. und des frühen 14. Jahrhunderts.
Für Scotus gehört der Intellekt in den Bereich der Natur und somit der Notwendigkeit. Er gewinnt diese Einsichten in seinem Metaphysikkommentar aus der Analyse einer Stelle aus dem 9. Buch der aristotelischen Metaphysik, in dem Aristoteles zwischen irrationalen und rationalen aktiven potentiae und ihren unterschiedlichen Wirkweisen unterscheidet. Irrationale Vermögen wirken determiniert, sofern sie nur eine Wirkung hervorrufen können. Die Wärme beispielsweise kann nicht anders als wärmen. Rationale Vermögen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gegenteiliges bewirken können: Die Arzneikunde etwa, so das aristotelische Beispiel, kann sowohl Gesundheit als auch Krankheit hervorrufen. Sich von der aristotelischen Vorlage lösend überträgt Scotus diese Differenz auf die Unterscheidung von naturnotwendigem Wirken und freiem willentlichen Handeln bzw. von Natur und Wille – und somit von Naturkausalität einerseits und Kausalität aus Freiheit andererseits:
„Zum ersten Punkt muss man wissen, dass die grundlegendste Unterscheidung zwischen aktiven Vermögen verschiedene Weisen betrifft, wie sie ihre Tätigkeit ausüben. […] Die Ausübung der eigenen Tätigkeit kann grundsätzlich nur auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Entweder ist ein Vermögen (potentia) von sich daraufhin bestimmt, tätig zu sein, so dass es von sich aus nicht fähig ist, untätig zu sein, wenn es von außen unbehindert ist; oder es ist von sich aus nicht bestimmt, sondern kann diesen Akt oder den gegenteiligen Akt hervorbringen, beziehungsweise handeln oder nicht handeln. Das erste Vermögen wird gewöhnlich ‚Natur‘ genannt, das zweite ‚Wille‘.“15
Im Versuch, diese Unterscheidung in eine notwendige oder kontingente Wirkweise an die aristotelische Rede von rationalen und irrationalen Vermögen rückzubinden, bringt Scotus im Folgenden den Intellekt als dasjenige Vermögen ins Spiel, das Aristoteles mit seiner Rede vom rationalen Vermögen meinte. Scotus deutet diese Zuordnung jedoch anders. Denn die Analyse der Wirkweisen hat gezeigt, dass der Intellekt in den Bereich der Natur, also der irrationalen Vermögen fällt, da er sich notwendig auf seinen Gegenstand richtet:
„Dementsprechend fällt der Intellekt in den Bereich der ‚Natur‘. Er ist nämlich von sich aus determiniert zu verstehen, und er verfügt nicht darüber (non habet in potestate sua), zu verstehen oder nicht zu verstehen, und was Sätze betrifft, wo er zwar konträre Akte haben kann, verfügt er dennoch nicht über sie, nämlich ob er zustimmt oder nicht.“16
Für den Willen hingegen gilt, was bereits oben erwähnt worden war: Er verhält sich „zur Ausübung seines eigenen Akts auf gegenteilige Weise (opposito modo) […].“17 Damit bestätigt sich die Annahme, dass der Wille das eigentlich rationale Vermögen ist:
„Wenn man aber unter ‚rational‘ ‚mit Vernunft‘ versteht, dann ist der Wille im eigentlichen Sinn das rationale Vermögen. Er bezieht sich nämlich auf Gegenteiliges, sowohl hinsichtlich seines eigenen Akts als auch in Bezug auf die Akte der untergeordneten Vermögen. Er bezieht sich auf Gegenteiliges nicht auf naturhafte Weise (modo naturae), wie der Intellekt, der sich nicht selbst auf eine von zwei alternativen Möglichkeiten festlegen kann, sondern in freier Weise (modo libero), da er sich selbst bestimmen kann (potens se determinare). Und daher ist er ein Vermögen (potentia), denn er selbst vermag etwas; er kann sich nämlich selbst determinieren. Der Intellekt ist aber im eigentlichen Sinn kein Vermögen bezüglich der äußeren Wirkungen, denn selbst wenn er mit Gegenteilen zu tun hat, so kann er sich doch nicht selbst [auf eine Alternative] festlegen, und sofern er nicht determiniert wird, hat er nicht die Fähigkeit, nach außen hin tätig zu sein.“18
Systematisch betrachtet führt die Nichtdeterminiertheit des Willens freilich zu einem Problem, das maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass der Voluntarismus des Scotus und der nach ihm folgenden Autoren in Misskredit geraten ist. Denn wie sollen sich unter diesen Bedingungen eines sich selbst determinierenden Willens die Rationalität des Wollens und die Gründe für das Gewollte aufrecht erhalten? Ist der Intellekt somit für die Erklärung des Zustandekommens des Willensaktes überflüssig?
Scotus ist sich der beiden Extremmeinungen in dieser Frage bewusst – und aus historischen Gründen wissen wir, dass die hier zum Ausdruck kommende Kontroverse zu den zentralen Debatten an der Universität Paris zählte. Ist es der Intellekt – so die These des Gottfried von Fontaines –, der allein für das rechte Verständnis von Freiheit zentral ist, da er die Handlung bestimmt, während der Wille nicht mehr als nur das ausführende Organ ist? Oder – so Heinrich von Gent – ist der Wille allein ausschlaggebend, so dass der Intellekt nur noch als die causa sine qua non fungiert, nämlich den Erkenntnisgegenstand anzuzeigen, insofern nichts gewollt werden kann, das nicht vorher erkannt ist?19
In seiner Kritik an beiden Extremmeinungen macht Scotus deutlich, dass und wie eine einseitige Intellektualisierung des Willensaktes dazu führt, Freiheit nicht mehr gewährleisten zu können.20 Eine einseitige Voluntarisierung ließe hingegen keinerlei Möglichkeit mehr zu, Willensakte aufgrund ihrer Objekte formal zu unterscheiden.21 Vor einem solchen Hintergrund, so Scotus,
„könnte es genauso viel Glückseligkeit bedeuten, eine Fliege zu lieben, wie Gott zu lieben, denn nach dieser Theorie ist der Willensakt nicht vollkommener, weil er sich auf ein vollkommeneres Objekt bezieht, sondern weil er vom Willen als Totalursache mit mehr oder weniger Anstrengung ausgeht. Daher würde folgen, dass der Willensakt und die Liebe der Fliege vollkommener ist [als die Liebe Gottes], wenn der Akt intensiver ist.“22
Um diese Unsinnigkeiten zu vermeiden, d.h. weil damit jeglicher Versuch obsolet wird, die über den Gegenstand definierten Gründe des Handelns in irgendeiner Weise wirksam werden zu lassen, entscheidet sich Scotus für einen Mittelweg und geht von einem komplexen Zusammenspiel von Intellekt und Wille bei der Verursachung eines Willensaktes aus.23 Wille und Intellekt bilden als jeweilige Teilursachen eine vereinte Totalursache (una causa totalis) des Willensaktes: Der vom Intellekt erkannte und dem Willen vorgestellte Handlungsgegenstand motiviert also den Willen zur Realisierung einer bestimmten Handlung. Aber er ist – wie in der Bestimmung des Willens als des eigentlichen rationalen Vermögens bereits deutlich geworden ist – nicht dessen determinierende oder nezessitierende Ursache, denn der Wille bleibt frei, dieser Handlungsoption zu folgen oder nicht. In diesem Zusammenspiel fungiert der Intellekt also als Teilursache des Willensaktes: der Intellekt zeigt auf und motiviert, während der Wille befiehlt. Damit wird jedoch ersichtlich, dass sich Intellekt und Wille in ein Hierarchieverhältnis bringen lassen, in dem der Wille die maßgebendere Ursache (causa principalior) darstellt.
„Deshalb vertrete ich einen Mittelweg, nämlich dass sowohl der Wille als auch das Objekt bei der Verursachung des Willensaktes zusammenwirken, so dass der Willensakt vom Willen und vom erkannten Objekt als Wirkursache herstammt. [...] Dennoch ist eines [von ihnen] das maßgebendere Wirkende und das andere weniger maßgebend, zum Beispiel der Vater und die Mutter bei der Zeugung des Nachkommens, der Griffel und die Feder beim Schreiben und der Mann und die Frau bei der Führung des Haushaltes.24 So hat im vorliegenden Fall der Wille in Bezug auf den Willensakt die Rolle einer Ursache, nämlich einer Teilursache (causa partialis), und die Natur, die aktuell das Objekt erkennt [= der Intellekt], die Rolle einer anderen Teilursache, und beide zugleich sind eine Totalursache (causa totalis) hinsichtlich des Willensakts. Der Wille ist aber die maßgebendere Ursache (causa principalior) und die erkennende Natur die weniger maßgebende, denn der Wille bewegt frei, und entsprechend dieser Bewegung bewegt er etwas anderes und determiniert es insofern zu dessen Tätigkeit. Die Natur, die das Objekt erkennt, ist aber ein naturhaft Tätiges, das – was seinen Beitrag betrifft – immer tätig ist. Es kann allerdings nie hinreichend zur Ausübung des Akts sein, wenn der Wille nicht zusammenwirkt, und insofern ist der Wille die maßgebendere Ursache.“25
Somit zeigt sich, dass die Potentialität des sich selbst determinierenden Willens keine völlig unbegrenzte ist, sondern angewiesen bleibt auf Gründe des Wollens, die die grundsätzliche Rationalität des Gewollten aufrecht erhalten – für welche Gründe auch immer der Wille sich entscheidet. Ein bindenderes Maß an Rationalität als dieses ist ob der Freiheit willen philosophisch nicht annehmbar. Es findet sein Echo in der scotischen Naturgesetzlehre, in der Scotus versucht, die dem Willensakt inhärierenden Bedingungen der Möglichkeit aufzudecken und auf den Willen selbst als den unbedingt begründenden Grund des Wollens zurückzuführen.26
„Freiheit und Ethik beginnen nach Scotus dort, wo Natur aufhört.“ – so bringt es Tobias Hoffmann auf den Punkt.27 Denn Natur impliziert deterministische Kausalität und Notwendigkeit. Für die Begründung des Moralischen hat das zur Konsequenz, dass eine dem aristotelischen Modell entsprechende Orientierung an teleologischen Handlungsmustern, die den Willen als rationales Streben auffassen, das durch eine natürliche Zielausrichtung geprägt ist, nicht länger tragfähig ist. Sie wird ersetzt durch die mittels der Annahme der synchronen Kontingenz ermöglichte Vorstellung, dass dem Willen das Vermögen zukommt, sich den Gegenstand seines Wollens allein um dieses Gegenstandes willen selbst zu setzen.28 Nicht dort, wo man auf rationale Weise das natürliche Streben nach Glück verwirklicht, insofern man naturhafte Gegebenheiten des Guten berücksichtigt, sondern nur da, wo das Gute in freier Entscheidung um seiner selbst willen, gegebenenfalls sogar unabhängig vom natürlichen Streben, verfolgt wird, kann von Freiheit und Moral die Rede sein.
In meinem Beitrag ging es darum, die enge Verbindung von Potentialität, Kontingenz und Freiheit am Beispiel der Philosophie des Johannes Duns Scotus zu analysieren. Auf der metaphysischen Ebene steht dabei im Hintergrund, dass eine theologische Kritik am Notwendigkeitsdenken zu einer ontologischen Neubewertung der Kontingenz und damit zu einer gewissen Gleichwertigkeit des Potentiellen und des Wirklichen führt. Veranlasst durch die Frage nach der Ursache von Kontingenz arbeitet Scotus den Willen als dasjenige Vermögen heraus, das in der Lage ist, unter alternativen Möglichkeiten zu wählen und sich frei für eine zu entscheiden. Von einem metaphysischen Blickwinkel aus wird die Welt somit zum kontingenten Produkt eines freien göttlichen Schöpferwillens, der auch eine andere mögliche Welt hätte erschaffen können.
Diese ontologischen Zusammenhänge haben in ihrer Übertragung auf den menschlichen Willen Voraussetzungen in der Handlungstheorie und daraus folgende moralphilosophische Konsequenzen. Sie betreffen zum einen die menschliche Willensfreiheit, die darin besteht, keiner Naturnotwendigkeit unterworfen zu sein, sondern die sich aufgrund ihres Potentialitätscharakters dadurch auszeichnet, im Sinne einer Akteurskausalität Ereignisse ganz von selbst anfangen zu können. Teleologische Erklärungsmuster, die von einem natürlichen rationalen Streben ausgehen, werden in der spätmittelalterlichen Philosophie zunehmend durch Modelle ersetzt, in denen die willentliche Selbstbestimmung im Zentrum steht.29
Zum anderen tangiert die Neubewertung des Potentiellen und Kontingenten moralische Begründungsfragen, die durch die Annahme der Kontingenz der Welt und somit auch der moralischen Ordnung hervorgerufen werden. Denn dass die freie Selbstsetzung des Willens die Ausrichtung auf teleologisch gedeutete natürliche Neigungen des Menschen ersetzt, geht Hand in Hand mit der Vorstellung, dass auch moralische Werte und Normen nicht länger unter Rekurs auf ihre Natur zu gewinnen sind, sondern ihrerseits kontingent durch einen Willen gesetzt worden sind. Dies mag eine Annahme sein, die zunächst nur dem göttlichen Willen zugeschrieben werden darf, doch diese Offenheit lässt Rückschlüsse für den menschlichen Willen zu, insofern sie auch ihm eigene Möglichkeitsräume in der Setzung moralischer Werte und Normen eröffnet.