Soziale Macht bildet einen – wenn nicht den – zentralen Gegenstand der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie. Das liegt sicherlich daran, dass die Frage der sozialen Macht auf normative Fragen verweist. Wenn wir konstatieren, dass ein Akteur A soziale Macht über einen anderen Akteur B besitzt, so liegt die Frage nach der normativen Bewertung dieses Sachverhalts nahe.1 Deshalb wird in der politischen Philosophie häufig danach gefragt, ob die soziale Macht von A über B legitim ist. Ist es beispielsweise legitim, dass eine Bundestagsabgeordnete soziale Macht über mich hat, etwa wenn sie das für mich geltende Steuersystem durch ihr Abstimmungsverhalten verändert? Darüber hinaus wurde in letzter Zeit in der politischen Philosophie vermehrt dafür argumentiert, soziale Macht als „erste Frage der Gerechtigkeit“ zu verstehen. Ist es beispielsweise sozial gerecht, dass manche Personen – zum Beispiel Kapitalisten – soziale Macht über andere Personen – zum Beispiel Arbeiter – besitzen?2
Was genau aber ist soziale Macht? Diese Frage hat insbesondere in der analytischen politischen Philosophie bisher überraschend wenig Aufmerksamkeit erfahren. Woran liegt das? Eine erste diesbezügliche Vermutung lautet, dass soziale Macht schlicht ein zu weiter bzw. „soziologisch amorpher“ Begriff ist. Das meinte Max Weber, der darauf verweist, dass „alle denkbaren Qualitäten (…) und Konstellationen“3dazu führen können, dass eine Person Macht über eine andere Person besitzt. Auch Michel Foucaults Arbeiten betonen eher die Allgegenwart sozialer Macht. Foucault versteht soziale Macht produktiv, im Sinne „anonymer Strukturen“ oder gar „strategischer Gesamtsituationen“4, die nicht negativ und von außen auf Personen einwirken, sondern allgegenwärtig sind und Subjekte erst hervorbringen. Ist soziale Macht also ein zu weites Phänomen, als dass es mit den Mitteln einer begrifflichen Analyse erfolgreich beschrieben werden kann?
Die meisten Definitionsversuche sozialer Macht stammen entsprechend aus den Politik- und Sozialwissenschaften. Allerdings überwiegt hier ein Bild sozialer Macht, das ich im Folgenden als „Zwangsverständnis“ bezeichne. Soziale Macht, so die Idee, übt ein Akteur A intentional mit Bezug auf den Willen oder die Handlungen eines zweiten Akteurs B aus. Als Folge sei B in Bezug auf seine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen auf irgendeine Weise schlechter gestellt. Dieser handlungstheoretische Isolationismus versteht soziale Macht – parallel zu Zwang – als äußere Heteronomie und als Einschränkung der Freiheit des Machtunterworfenen.
Damit scheint die Diskussion um die Ontologie sozialer Macht zwischen zwei unattraktiven Polen gefangen zu sein. Wenn wir soziale Macht mit Foucault als eine allgegenwärtige anonyme Struktur bzw. produktive Ordnung auffassen,5 scheint dies zwar ihrem amorphen Charakter gerecht zu werden. Allerdings bleiben mit einem derartig weiten Machtbegriff viele Fragen offen, etwa danach, wer oder was genau hier als handelnder Akteur zu begreifen ist. Wenn wir soziale Macht hingegen in Richtung eines repressiven Zwangshandelns interpretieren – d.h. als Einschränkung der Freiheit des Machtunterworfenen – so können wir (wie ich in diesem Aufsatz noch genauer zeigen werde) viele offensichtliche Machtphänomene nicht als solche erfassen. In diesem Sinne konstatiert beispielsweise Martin Saar, dass sich eine kritische Sozialtheorie zwischen einer Traditionslinie, die dazu tendiere Macht auf Dominierung zu reduzieren und einem von Spinoza inspirierten Foucault’schen Modell produktiver Macht entscheiden müsse.6 David Strecker geht in seinem Buch Logik der Macht gar davon aus, dass das Spannungsverhältnis zwischen einem repressiven und konstitutiven Machtbegriff die Debatte um den Machtbegriff insgesamt „orientierungslos“ zurücklasse.7
Dieses Spannungsverhältnis gilt es aufzulösen. Ich schlage deshalb vor, soziale Macht als Vermögen zu verstehen. Dadurch wird u. a. deutlich, inwiefern soziale Macht auch Zustände beschreibt in denen gerade gar nichts passiert, d.h. A von seiner sozialen Macht über B keinen Gebrauch macht. In diesem Sinne muss das Haben sozialer Macht von ihrer Ausübung klar abgegrenzt werden. Das Haben sozialer Macht verweist auf potentielle Handlungen und Handlungsverläufe, aber nicht notwendigerweise auf tatsächlich ausgeführte Handlungen. Soziale Macht, so mein Vorschlag, bezeichnet stattdessen das Vermögen eines Akteurs, Zustände in der Welt über die Beeinflussung oder Steuerung des Handlungsvermögens anderer Akteure hervorbringen zu können. Soziale Macht ist also ein Vermögen, das sich auf ein weiteres Vermögen – nämlich das Handlungsvermögen eines zweiten Akteurs – bezieht.
Eine wichtige Besonderheit sozialer Macht besteht darin, dass diese fast immer ein situativ oder sozial generiertes Vermögen bezeichnet. Häufig können wir nicht erklären, was es bedeutet, dass A Macht über B hat, ohne auf den sozialen Interaktionskontext, der zwischen A und B besteht, Bezug zu nehmen. Soziale Macht besteht also in einem sozial oder zumindest situationsabhängig generiertem Vermögen. Insofern soziale Macht ein durch soziale Normen generiertes Vermögen ist, beruht sie auch auf der de facto Anerkennung der entsprechenden sozialen Normen durch eine ausreichend große Gruppe von Akteuren und verleiht ihrem Träger einen sozial akzeptierten Status.8
Um die Ontologie sozialer Macht zu untersuchen, gehe ich wie folgt vor: In einem ersten Schritt führe ich die Unterscheidung zwischen einem befähigenden („power to“) und einem sozialen Machtbegriff („power over“) ein (2). Anschließend plädiere ich – gegen solche Ansätze, die Macht als negativen Eingriff verstehen (3) – dafür, soziale Macht als produktiv (4) und im Sinne eines Vermögens zu verstehen (5). Eine Besonderheit sozialer Macht besteht darin, dass diese nicht nur auf intrinsischen Dispositionen beruht, sondern vielmehr als ein sozial konstituiertes Vermögen verstanden werden muss (6). Aus diesen Diskussionen entwickle ich schließlich einen eigenen Unterscheidungsvorschlag zwischen robusten und episodischen Varianten sozialer Macht (7).
In der politiktheoretischen Debatte um den Begriff der Macht hat sich die von Hannah Pitkin getroffene Unterscheidung zwischen einem Begriff befähigender Macht („power to“) und einem Begriff sozialer Macht („power over“) eingebürgert.9 Dabei ist die erste Gebrauchsweise des Machtbegriffs die weitere.10 Mit dem Verweis auf „power to“ wird die Macht bezeichnet, (gewünschte) Zustände herbeiführen zu können. Bereits Hobbes versteht die allgemeine Macht eines Menschen so – als dessen Vermögen subjektiv gewünschte Zustände zu realisieren: „Die Macht eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts“.11 Dieser Definition von „power to” folgen in der zeitgenössischen Diskussion etwa Peter Morriss, Anthony Giddens, Frank Lovett, Keith Dowding und Brian Barry.12 Dabei verstehen fast alle Theoretiker befähigende Macht d.h. „power to“ – im Gegensatz zu Hobbes – von tatsächlichen subjektiven Präferenzen unabhängig, d.h. in „desire-independent terms“13. Befähigende Macht besteht nicht darin, das erreichen zu können, was man zufällig und tatsächlich gerade wünscht, sondern in dem generalisierten Vermögen, das realisieren zu können, was immer man wollen könnte. Ansonsten wäre man mächtig, indem man seine subjektiven Präferenzen den gegebenen Umständen anpasste, was kontraintuitiv ist. Die befähigende Macht eines Akteurs A ist von der Existenz oder den Handlungen weiterer Akteure dabei erstmal unabhängig. Ob es in meiner Macht steht, Kokosnüsse von einer Palme zu pflücken oder nicht, ist erstmal unabhängig davon der Fall, was andere Personen tun. Eher hängt es davon ab, ob ich das Vermögen besitze, auf Bäume klettern zu können oder nicht.
Soziale Macht bzw. „power over“ bezeichnet hingegen ein solches Vermögen, das sich konstitutiv auf die Existenz weiterer Akteure bezieht. Wenn wir davon reden, dass Person A soziale Macht über Person B hat, dann geht es um ein Vermögen, das A mit Bezug auf B hat, beispielsweise um die Frage, ob A B dazu bringen kann, ihr Kokosnüsse von einer Palme zu pflücken. Eine paradigmatische Definition sozialer Macht geht auf Max Weber zurück. Weber bezeichnet als Macht14 die
„Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen, auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“15
Soziale Macht bzw. „power over“ wird häufig auch als „konfliktueller“ Machtbegriff beschrieben. Hier geht es um die Frage, wer Macht über wen hat. Dies schwingt in Webers Definition etwa in dem Bild mit, dass soziale Macht das erfolgreiche Vermögen einer Person bezeichnet, ihren Willen auch gegen Widerstand durchsetzen zu können.
Wie hängen die Begriffe befähigender und sozialer Macht miteinander zusammen? Viele Kommentatoren haben Webers Rede von der Durchsetzung des eigenen „Willens“ gegenüber möglichem Widerstand zu sehr in Richtung eines „Zwangsverständnisses“ von Macht interpretiert. Dagegen möchte ich im Folgenden vorschlagen, soziale Macht, d.h. „power over“, als einen (wichtigen) Unterfall befähigender Macht, d.h. von „power to“, zu rehabilitieren.16 Entsprechend plädiere ich dafür, auch unseren Begriff sozialer Macht an die Rede von Vermögen anzubinden, die im Begriff der „power to“ als eines generalisierten Vermögens zur Hervorbringung von Zuständen enthalten ist.17
Damit richte ich mich gegen drei wichtige Vorschläge, wie das Verhältnis zwischen den Begriffen befähigender und sozialer Macht zu verstehen ist. Eine falsche Antwort auf diese Frage liefern meines Erachtens erstens solche Theoretiker, die den gesamten Machtbegriff auf eine bestimmte Spielart befähigender Macht eng führen, nämlich Macht als das Vermögen zum kollektiven Handeln verstehen. Dies tun etwa Hannah Arendt, die Macht als das Vermögen des „gemeinsamen Handelns” bezeichnet, oder Talcott Parsons, der Macht als die Fähigkeit institutioneller kollektiver Systeme bezeichnet, legitime Regeln und Pflichten durchzusetzen.18 Dies stellt eine zu stark verengte Verwendung des Machtbegriffs dar, die in erster Linie die Frage danach, wer Macht über wen hat, nicht ausreichend abzubilden vermag.
Zweitens wurde der Zusammenhang zwischen beiden Machtbegriffen auch so interpretiert, dass kurzerhand der gesamte Machtbegriff auf den Aspekt sozialer Macht, d.h. von „power over“ reduziert wurde. So behandelt beispielsweise Robert A. Dahl in seinem für die Machtdiskussion zentralen Text The Concept of Power eine Definition sozialer Macht als allgemeinste Version des Machtbegriffs.19 Dass die Frage sozialer Macht in den Politik- und Sozialwissenschaften im Zentrum des Interesses steht, rechtfertigt freilich noch nicht, die Beschäftigung mit „power over“ kurzerhand als eine Analyse des vollständigen Bedeutungsgehalts des Machtbegriffs auszuweisen.
Noch problematischer ist es, wenn eine scheinbar allgemeine Machtdefinition nur normativ ungerechtfertigte Versionen sozialer Macht in den Blick nimmt. In diesem Sinne geht Steven Lukes in der ersten Ausgabe seines Buches Power. A Radical View davon aus, dass soziale Macht bereits begrifflich immer normativ problematisch ist.20 Dagegen verteidige ich im Folgenden einen deskriptiven Begriff sozialer Macht. Ich gehe davon aus, dass soziale Macht nicht per se – d.h. bereits begrifflich – einen normativ problematischen Gehalt besitzen muss. Zwar scheint insbesondere die Rede von sozialer Macht häufig auf einen repressiven Moment bzw. auf einen negativen Befund zu verweisen.21 Wenn wir sagen, dass Person A Macht über B ausübt, so schwingt darin häufig ein kritischer Moment oder die Forderung nach der Legitimation dieses Tatbestands mit.22 Allerdings stellen nicht alle Formen sozialer Macht ein normatives Problem dar: Die Macht von Eltern über ihre Kinder, eines gerechten Staates über seine Bürger oder eines Richters über den Beklagten stellen zwar alle Formen sozialer Macht, d.h. von „power over“ dar, – aber keine solchen Formen, die bereits begrifflich normativ problematisch sein müssen.
Im Folgenden möchte ich mich auf den Begriff sozialer Macht konzentrieren. Dabei gehe ich zu Zwecken der Vereinfachung von einem interpersonalen Fall aus, d.h. von dem Fall, in dem ein Akteur23 A soziale Macht über einen zweiten Akteur B hat. Um solche Konstellationen zu analysieren, lassen sich verschiedene Wege einschlagen. Wir können uns erstens auf A konzentrieren, etwa auf die Frage, welche Art von Vermögen A genau benötigt, um soziale Macht über B zu haben. Wir können beispielsweise danach fragen, woher As entsprechendes Vermögen genau kommt. Wir können uns zweitens auf B konzentrieren, etwa auf die Frage, welche Art von Handlungskapazität oder Freiheit von B durch As soziale Macht wie affiziert wird. Drittens können wir uns auch auf den Prozess oder die Beziehung sozialer Macht zwischen A und B konzentrieren, etwa wenn wir danach fragen, wie genau As soziale Macht dazu führt, dass Bs Handlungsfreiheit affiziert wird.
Viele Theorien sozialer Macht konzentrieren sich auf die Frage, was genau mit B geschieht, wenn B sozialer Macht unterworfen ist. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Theorien implizit oder explizit davon ausgehen, dass soziale Macht evaluativ betrachtet schlecht ist, etwa weil sie den Machtunterworfenen in seiner Freiheit einschränkt.
In diesem Sinne vertritt Robert Dahl in seiner einflussreichen Machtdefinition die Auffassung, dass wir soziale Macht als ein Vermögen auffassen müssen, das sich auf die erfolgreiche Beeinflussung der Handlungen des Machtunterworfenen bezieht: „A has power over B to the extent that he can get B to do something that B would not otherwise do.“24 In Bezug auf unser obiges Beispiel hätte A also dann soziale Macht über B, wenn A Person B dazu bringen kann, ihr eine Kokosnuss vom Baum zu pflücken, obwohl Person B eigentlich nicht vorhatte dies zu tun. Soziale Macht wird hier als Einschränkung der Handlungsfreiheit der machtunterworfenen Partei verstanden: A hat dann soziale Macht über B, wenn A B erfolgreich dazu bringen kann, andere als die ursprünglich geplanten Handlungsoptionen zu wählen.25 Damit wird soziale Macht als Funktion des aktualen Wahlprozesses von Person B mit Bezug auf ein vorliegendes Set von Handlungsoptionen dargestellt. Die soziale Macht von A über B wird allein mit Bezug auf den Gegenstand neuer Handlungen beschrieben – dies blendet allerdings aus, inwiefern A soziale Macht über B auch in Hinblick auf das Nicht-Zustandekommen möglicher Handlungen von B oder durch die Manipulation der Präferenzen von B besitzen kann.
Dagegen haben Bachrach und Baratz in ihrem Text The Second Face of Power betont, dass As soziale Macht über B nicht allein in Hinblick auf mögliche Verhaltensänderungen von B gefasst werden kann, sondern sich auch in „non-decisions“ manifestiert, also beispielsweise in der Tatsache, dass ein Thema erst gar nicht auf die öffentliche Agenda gelangt. Damit erfassen Bachrach und Baratz aber einfach nur mehr Begrenzungstechniken in Bezug auf Bs Set von Handlungsoptionen: Nicht nur die Interferenz mit Bs Auswahl einer bestimmten Handlungsoption aus einem gegebenen Set zählt ihnen zufolge als soziale Macht, sondern auch, wenn A dafür sorgt, dass eine Handlungsoption von B gar nicht erst zustande kommt.26 In Bezug auf unser obiges Beispiel können wir uns beispielsweise vorstellen, dass A auf einer Insel eine Monokultur von Kokosnussplantagen anpflanzt. Als Folge kann B seine Arbeitskraft nur noch als Kokosnusspflanzer verkaufen – nicht jedoch als Maispflanzer. Die Option „Maispflanzer werden“ hat A durch den Ausbau seiner Kokosnussmonokultur erfolgreich aus Bs Optionenset entfernt. Damit identifizieren aber auch Bachrach und Baratz soziale Macht noch als Funktion des primären Handlungsumfelds des Machtunterworfenen B, genauer als Funktion dessen Set von Handlungsoptionen.
Auch Steven Lukes für die Machtdiskussion zentrales Buch Power: A Radical View versteht soziale Macht im Sinne einer Einschränkung der Freiheit des Machtunterworfenen. Lukes verweist darin zwar erfolgreich auf eine „dritte Dimension“ des Machtbegriffs: Macht liegt Lukes zufolge nicht nur dann vor, wenn die Handlungsoptionen von B verändert, verschlechtert oder ganz entfernt würden, sondern auch durch Präferenzmanipulationen, die A in Bezug auf B erwirkt.27 Damit verweist Lukes auf die wichtige Frage, wie es zum Willen und den Präferenzen von B überhaupt kommt. Trotzdem wird soziale Macht auch bei Lukes letztlich als Einschränkung – nur diesmal einer moralisierten – Handlungsfreiheit des Machtunterworfenen verstanden. Das liegt daran, dass Lukes nur solche Veränderungen im Optionenset oder von Präferenzen des Machtunterworfenen als Machtresultat gelten lässt, die den Machtunterworfenen in Hinblick auf seine Interessen schädigen. Soziale Macht liegt Lukes zufolge erst dann vor, wenn „A affects B in a manner contrary to B’s interests“.28 In Bezug auf unser obiges Beispiel reicht es für Lukes Definition sozialer Macht also nicht aus, dass A das Vermögen hat, Bs Präferenzen zu manipulieren – etwa so viel ideologische Werbung zu schalten, dass B sich nun nichts mehr sehnlicher wünscht als endlich als Kokosnusspflücker auf As Plantage anheuern zu dürfen. As Manipulation von Bs Präferenzen gilt erst dann als soziale Macht, wenn diese B in Hinblick auf seine objektiven Interessen schädigt. Dies ist nicht nur begrifflich unplausibel – etwa weil Fälle des wohlmeinenden Paternalismus nicht mehr als Phänomene sozialer Macht gefasst werden können. 29 Auch wird soziale Macht durch diese Definition letztlich als – interpersonale30 – Einschränkung von Bs moralisierter Freiheit erster Ordnung gefasst, d.h. von Bs Freiheit ihre moralisch relevanten Interessen ungestört verfolgen zu können.
Damit ist allen drei Vorschlägen gemeinsam, dass sie soziale Macht letztlich als Einschränkung des primären Handlungsumfelds des Machtunterworfenen konzeptualisieren. Entweder – wie bei Dahl – als Einschränkung in Hinblick auf die deskriptive Baseline des ohnehin geplanten Handlungsverlaufs. Oder – wie bei Bachrach/Baratz – als Einschränkung in Hinblick auf die deskriptive Baseline der ganzen Bandbreite ohnehin gegebener Optionensets. Oder soziale Macht stellt – wie bei Lukes – eine Einschränkung in Hinblick auf ein moralisiertes Freiheitsideal dar, d.h. eine Einschränkung die gegen die Interessen der machtunterworfenen Partei verstößt. Zwar liegt soziale Macht diesen Ansätzen zufolge nicht allein dort vor, wo einzelne Handlungsoptionen einer Person B ganz entfernt oder verschlechtert werden. In allen Konzeptionen wirkt sich As soziale Macht über B aber einschränkend aus: Entweder weil B als Resultat sozialer Macht dazu gebracht wird etwas zu tun, was er eigentlich nicht vorhatte zu tun. Oder weil B als Resultat sozialer Macht aus einem eingeschränkteren als dem ursprünglich vorhandenen Set von Handlungsoptionen auswählen kann. Oder As soziale Macht wirkt einschränkend, weil diese B in Hinblick auf seine Interessen schädigt.
Allerdings weisen Machtontologien, die soziale Macht als Verschlechterung der primären Handlungsfreiheit des Machtunterworfenen verstehen zwei Probleme auf. Erstens einen zu weitreichenden Negativismus. Zweitens einen zu weitreichenden Aktualismus. Ich bespreche beide Probleme nacheinander.
Ein erstes offensichtliches Problem davon, As soziale Macht über B im Sinne einer Einschränkung von Bs Handlungsfreiheit zu verstehen, betrifft den Negativismus dieser Konzeption. Diesen Punkt können wir erstens mit Michel Foucaults Betonung der Allgegenwart und Positivität sozialer Macht machen. Wir können ihn zweitens auch mit Blick auf die Ontologie sozialer Institutionen – etwa der Kooperation – bemerken.
Michel Foucault hat in seinen Arbeiten betont, dass soziale Macht nicht nur repressiv, sondern immer auch produktiv sei. Soziale Macht ist Foucault zufolge nicht etwas, das von außen auf irgendwie bereits vorhandene Subjekte einwirkt, ihnen etwa Handlungsoptionen wegnimmt oder ihre Präferenzen manipuliert. Viel grundlegender bringt Macht Foucault zufolge Körper, Wissen und gar das Subjekt und dessen Subjektivität erst hervor.31 Dabei wendet sich Foucault immer wieder gegen einen verengenden Fokus auf negative32, souveräne33und „juridisch-diskursive“ 34 Macht:
„Man muß aufhören Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur „ausschließen“, „abstrahieren“, „unterdrücken“, „verdrängen“, „zensieren“ (...) würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv, und sie produziert Wirkliches.“35
Nicht der Zwang oder die Privilegien eines souveränen Zentrums – also des Staates, von Gesetzen oder von Herrschaft36 – stehen im Mittelpunkt von Foucaults Denken, sondern ein sehr viel weiteres Machtverständnis. Macht sei keine „Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“37 Macht sei kein hoheitliches Privileg und kein Tauschgegenstand, stattdessen sei sie allgegenwärtig und omnipräsent.38 Macht scheint Foucault zufolge nur in ihrem Vollzug zu existieren, sie ist lokal und instabil.39 Entsprechend versteht Foucault vorherrschende Machttechniken als „viel komplexer und vor allem viel positiver“40, als das Modell einer souveränen Macht suggerierte. Entsprechend fordert Foucault eine solche Analyse der Mikrophysik der Macht ein, mit der wir die „produktive Effizienz, den strategischen Reichtum und die Positivität der Macht“ erfassen können.41 Foucaults Verweise auf die Allgegenwart sozialer Macht können hier nur angerissen werden, scheinen intuitiv jedoch plausibel. Zwar bleiben die sozialontologischen Voraussetzungen bzw. Implikationen von Foucaults Machtanalytik unklar – wer genau hat Intentionen oder handelt, wenn soziale Macht etwas ist, dass eine „strategische Gesamtsituation“ bezeichnet? Wichtig scheint mir jedoch der Hinweis darauf, dass wir uns soziale Macht nicht als durch einzelne Akteure gesteuerte Begrenzung möglicher Handlungsoptionen oder Handlungsverläufe vorstellen dürfen, sondern dass soziale Macht viel grundlegender den Raum der Gründe und Handlungen erst hervorbringt, in dem sich Akteure bewegen. In diesem Sinne lassen sich Foucaults Verweise auf die Produktivität sozialer Macht zumindest als Plädoyer für eine Pluralisierung von Machttechniken verstehen: Soziale Macht wirkt nicht nur auf Personen, indem ihnen mögliche Handlungsverläufe verstellt werden. Stattdessen wirkt soziale Macht auch auf Personen, indem sie diesen ein neues Selbstverständnis, Ideen über anzustrebende Zwecke und Projekte, über „Ordnungen des Sagbaren und des Unsagbaren, ja des Denkbaren und Undenkbaren“42 eingibt und das alles als scheinbar selbstverständlich darstellt. Zumindest in dieser Hinsicht kann soziale Macht also auch produktiv und damit positiv sein.
Gegen die Vorstellung, dass soziale Macht allein als Einschränkung der deskriptiven oder moralisierten Handlungsfreiheit des Machtunterworfenen zu verstehen ist, lassen sich weitere Argumente anführen: Erstens können wir uns solche sozialen Machtverhältnisse denken, in denen die Machtunterworfenen in Bezug auf ihr primäres Handlungsumfeld nicht begrenzt werden, wir es aber trotzdem mit sozialer Macht zu tun haben. In diesem Sinne würden wahrscheinlich die meisten Eltern zugeben, soziale Macht über ihre Kinder zu besitzen – aber abstreiten, dass sie diese lediglich zur Begrenzung möglicher Handlungen oder Interessen ihrer Kinder einsetzen. Erziehungsmaßnahmen setzen das freie Entscheidungs- und Handlungsvermögen des Kindes nicht nur voraus; vielmehr zielen diese darauf ab, die Handlungsvermögen der Kinder zu fördern und in eine bestimmte Richtung zu lenken, zum Beispiel das Kind dazu zu befähigen, langfristig selber vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Auch ein mächtiger Staat begrenzt nicht einfach nur unsere Handlungsfreiheiten – etwa wenn er uns dazu zwingt Steuern zu zahlen. Stattdessen sorgt er auch dafür, dass sich uns eine große Bandbreite neuer Handlungsvermögen eröffnen – etwa wenn der Staat die Institution des Geldes oder von Eigentumsrechten sichert und uns als Folge die Tauschwirtschaft, die Arbeitsteilung oder die dauerhafte Bewirtschaftung von Feldern überhaupt erst ermöglicht. Die meisten sozialen Institutionen und Praktiken – etwa Geld, Eigentum oder die Ehe – geben uns neue Handlungsvermögen, vor allem indem sie unser Handeln mit dem Handeln anderer Personen verlässlich koordinieren.43 Dies gilt auch dann, wenn solche sozialen Institutionen und Praktiken von kollektiven Akteuren – wie beispielsweise dem Staat – aufrechterhalten werden, die soziale Macht über uns besitzen.
Aus diesen Beispielen können wir schließen, dass soziale Macht allein als Begrenzung des primären Handlungsumfelds des Machtunterworfenen – etwa dessen Freiheit zwischen vorhandenen Handlungsoptionen ungestört wählen zu können – nicht ausreichend gut beschrieben ist. Wie Wartenberg bemerkt bestehe die durch Macht eingeschränkte Freiheitsform „not simply (..) in the possibility to have done otherwise“44. Soziale Macht als Einschränkung zu verstehen, geht nicht zuletzt davon aus, dass wir auch in Bezug auf Phänomene sozialer Macht alternative Handlungsverläufe bestimmen könnten. Dies setzt aber die Vorstellung eines vollkommen machtfreien Raums voraus, was eine unter irdischen Bedingungen zumindest nicht unproblematische Annahme ist, da diese eine sehr weitgehende Abstraktion von allgemein-menschlichen Umständen darstellt. Soziale Macht in Hinblick auf die Einschränkung oder Begrenzung von – ohnehin problematisch zu bestimmenden – Baselines zu theoretisieren, greift aufgrund des produktiven Charakters von Machtverhältnissen also zu kurz.
Ein zweites gewichtiges Problem, dass sich aus einer Ontologie sozialer Macht als Einschränkung von Bs Handlungsfreiheit ergibt, betrifft den Aktualismus solcher Konzeptionen. Wird soziale Macht mit einer Einschränkung gleichgesetzt, kann sie nur dort identifiziert werden, wo in Bezug auf das Handlungsumfeld des Machtunterworfenen etwas passiert – etwa Bs Präferenzen oder Verhalten geändert werden, Bs Optionenset verschlechtert wird oder B in Hinblick auf ihre Interessen geschädigt wird. Zumindest im Umkehrschluss suggeriert dies, dass auch die mächtige Partei A eine Handlung oder beobachtbare Einwirkungen in Hinblick auf B vorgenommen haben muss. In diesem Sinne muss beispielsweise Dahls Aussage interpretiert werden, dass „for the assertion `C has power over R‘, one can substitute the assertion, `Cs behavior causes R’s behavior’”45.
Dagegen scheint jedoch häufig der Fall zu sein, dass wir Phänomene sozialer Macht beobachten, in denen überhaupt nichts passiert. Stellen wir uns beispielsweise vor, dass Person A ein mächtiger Ehemann im viktorianischen England ist und Person B eine von A ökonomisch und sozial abhängige Ehefrau.46 Auch wenn beide Eheleute nun friedlich vor dem Kamin sitzen und wir überhaupt keine Handlungen (von A und B), Präferenz- bzw. Handlungsveränderungen (auf Seiten des Machtunterworfenen B) oder Interessenseinschränkungen von B beobachten können (möglicherweise ist A ein großartiger Ehemann mit starken egalitären Präferenzen und B schätzt sich sehr glücklich mit ihm verheiratet zu sein), scheint hier doch der Fall zu sein, dass der Ehemann soziale Macht über seine Frau besitzt: Wenn er wollte, so könnte der Ehemann das Handlungsvermögen seiner Ehefrau entscheidend beeinflussen.47 Dies können solche Machttheorien, die soziale Macht als Einschränkung bzw. Begrenzung verstehen, nicht erklären.
Dies verweist auf eine wichtige ontologische Besonderheit sozialer Macht: Soziale Macht lässt sich nicht allein mit einem Fokus auf tatsächliche Handlungen oder tatsächliche Einschränkungen erfassen, sondern bedarf des Fokus auf Potentialitäten. Genauer, so werde ich argumentieren, muss soziale Macht im Sinne eines Vermögens gefasst werden, dass sich wiederum auf ein Vermögen der machtunterworfenen Partei bezieht. Während die sozialwissenschaftliche Literatur zum Begriff sozialer Macht bisher zu stark dazu tendiert, soziale Macht auf aktuale Eingriffe oder Momente ihrer Ausübung zu reduzieren, hat sich die wichtige Einsicht zur Potentialität sozialer Macht bisher höchstens lose in der Rede von „strukturellen“ Machtverteilungen Bahn gebrochen – d.h. in der Betonung des zeitlich gestreckten und handlungstheoretisch generalisierten Beziehungscharakters sozialer Macht.
Können wir die Potentialität sozialer Macht etwas konkreter fassen? Zu dieser Frage besteht in der zeitgenössischen philosophischen Diskussion um soziale Macht eine überraschend große Lücke. Die einzige Ausnahme bildet Peter Morriss, der in seinem Werk Power. A Philosophical Analysis den dispositionalen Charakter sozialer Macht betont. Eine dispositionale Eigenschaft, so Morriss, hat der mächtige Akteur A inne, ohne dafür besondere Handlungen in Bezug auf den Machtunterworfenen B ausführen zu müssen.48 Zur Erläuterung einer dispositionalen Eigenschaft gibt Morriss folgendes Beispiel: Die gesundheitsschädigende Eigenschaft von Whisky ist eine dispositionale Eigenschaft. Der Whisky besitzt sie auch dann, wenn er harmlos in seiner Flasche vor sich hin lagert und nicht erst, wenn er in der Leber seines Abnehmers verheerende Wirkung entfaltet.49 Ähnlich dazu kann der Ehemann im viktorianischen England soziale Macht über seine Ehefrau besitzen, wenn beide gerade friedlich vor dem Kamin sitzen und gar nichts tun. Dispositionale Eigenschaften können existieren, ohne jemals zu bestimmten Ereignissen zu führen.50 Die Potentialität sozialer Macht sollte allerdings besser mit der Rede von Vermögen – und nicht von Dispositionen – beschrieben werden. Denn die Rede von Dispositionen ist nicht auf willensbegabte oder handelnde Akteure beschränkt – auch eine Vase kann die Disposition zur Zerbrechlichkeit besitzen. Während eine Disposition also eine passive Eigenschaft auch unbelebter Dinge sein kann, setzt die Rede von Vermögen willensbegabte Akteure voraus. Dabei glaube ich – contra Morriss – nicht, dass Vermögen notwendigerweise auf einen bewussten oder intentionalen Willensakt oder eine bewusste Entscheidung verweisen.51 Soziale Macht als Vermögen zu verstehen, soll einfach nur ausdrücken, dass diese typischerweise bzw. zumindest potentiell dem Willen einer Person unterstehen.
Menschliche Vermögen verweisen auf einen Möglichkeitsraum: Sie haben etwas mit möglichen Handlungsverläufen in möglichen Szenarien zu tun.52 Ein Vermögen muss nicht aktualisiert werden, um tatsächlich vorhanden zu sein. Beispielsweise besitze ich das Vermögen Klavier spielen zu können auch dann, wenn ich gerade durch den Park laufe anstatt am Klavier zu sitzen. In der zeitgenössischen Metaphysik ist umstritten, wie genau Vermögen beschrieben werden sollten: Wir können beispielweise sagen, dass ein Akteur A ein Vermögen zu der Handlung φ dann besitzt, wenn er in möglichen, alternativen Handlungsverläufen tatsächlich φ ausführt53 oder aber wenn er die Disposition hat zu φ-en54 oder wenn er in einer ausreichenden Menge möglicher Situationen φ ausführt, wenn er dazu motiviert wäre.55
Für unsere Zwecke reicht es erstmal darauf zu verweisen, dass soziale Macht in einem Vermögen besteht: Wenn ein Akteur A soziale Macht über B besitzt, so muss diese soziale Macht eben nicht in tatsächlichen Handlungen von A ausgedrückt sein. Trotzdem muss A das Vermögen besitzen, B auf eine noch näher zu bestimmende Art und Weise beeinflussen oder lenken zu können, um soziale Macht über B zu besitzen. Hier liegt ein zentraler Unterschied zwischen sozialer Macht und Zwang. Während Zwang immer eine aktuale Handlung – zumindest die kommunikative Androhung einer Zwangshandlung – des zwingenden Akteurs bezeichnet, kann soziale Macht auch dort vorliegen, wo der Mächtige gar nichts tut.
An dieser Stelle ist es hilfreich eine Unterscheidung zwischen dem „Haben“ sozialer Macht und der „Ausübung“ sozialer Macht einzuführen. Das Haben sozialer Macht bezeichnet eben ein Vermögen, das nicht aktualisiert werden muss, um vorhanden zu sein. Zu sagen, dass A soziale Macht über B hat, verweist auf mögliche oder potentielle Handlungsverläufe, die sich aus diesem Tatbestand erklären lassen, aber nicht auf tatsächliche Handlungen von A (oder B). Das Haben von Macht mit der Ausübung von Macht gleichzusetzen, bezeichnet Morriss zum Beispiel als „exercise-fallacy“.56 Diese Unterscheidung betont auch John Searle: „Power has to be distinguished from its exercise. Power, in short, does not name an event but names a capacity, or ability.“57 Searle betont weiter:
„It is important to emphasize that power can exist even when it is never exercised and even when the subject, over whom power could be exercised, wants to do the action anyway. Power does not, in short, necessarily involve getting people to act against their desires and inclinations, but rather is the ability to get them to do so. It is only an exercise of power if the agent gets the subject to do something whether or not the subject wants to do it.“58
Überraschend viele zeitgenössische Konzeptionen sozialer Macht setzen den Besitz sozialer Macht noch immer mit deren Ausübung gleich. Wie ich oben aufgezeigt hatte, ist dies insbesondere bei solchen Konzeptionen der Fall, die soziale Macht als Einschränkung der Handlungsfreiheit der machtunterworfenen Partei B verstehen. Die Potentialität sozialer Macht lässt sich hingegen besser mit neueren Vorschlägen zum kognitivistischen Charakter sozialer Macht fassen. Dies hat damit zu tun, dass soziale Macht hier nicht mehr als Einschränkung des Handlungsspielraums der Machtunterworfenen, sondern produktiv, als die Beeinflussung autoritativer Handlungsgründe verstanden wird. In diesem Sinne versteht beispielsweise Frank Lovett soziale Macht als ein Vermögen von A, Bs subjektive Handlungsstrategie mit Bezug auf die Auswahl von Optionen über eine interdependente Beziehung verändern zu können.59 Auch in Rainer Forsts Skizze einer „noumenalen“ Machtkonzeption, wird As soziale Macht als Vermögen beschrieben „den Raum der Gründe für B so zu beeinflussen, dass B auf eine Weise denkt oder handelt, die auf As Einfluss zurückgeht, der intentionaler Natur sein muss, sonst spräche man nur von Wirkung und nicht von Macht“60. Auch wenn Forsts Konzeption an einigen Stellen zu aktualistisch klingt61 – wenn As soziale Macht über B nicht in der tatsächlichen Einschränkung von Bs Handlungsspielraums besteht, sondern in der Restrukturierung von Bs Handlungsgründen, so haben wir einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Denn diese Reformulierung der Art und Weise des Freiheitseingriffes, dem B unterworfen ist, erlaubt es auch, soziale Macht als ein Vermögen und nicht als aktualen Eingriff oder tatsächliche Verschlechterung zu verstehen. Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, ist es dabei wichtig, die Art und Weise von Bs Freiheitsvermögen, das durch soziale Macht beeinflusst wird, umfassend genug darzustellen: Dieses kann nicht nur in der subjektiven Reaktivität auf Gründe bestehen. Stattdessen wirkt soziale Macht auf Bs Handlungsvermögen. Soziale Macht beeinflusst nicht nur die Handlungsgründe von B, sondern bereits Bs Vermögen Zwecke und Projekte ausbilden und mit den vorhandenen Mitteln verfolgen zu können.62
Eine Besonderheit sozialer Macht besteht darin, dass Personen soziale Macht über andere häufig eher aufgrund sozialer und äußerer Gegebenheiten, denn aufgrund ihrer intrinsischen Dispositionen besitzen. In diesem Sinne ist soziale Macht den gesundheitsschädigenden Eigenschaften des Whiskeys eben nicht analog. Whiskey besitzt die Disposition, gesundheitsschädigend zu sein, weil dies eine intrinsische Eigenschaft seiner Zusammensetzung ist. Aber besitzt unser Ehemann im obigen Beispiel soziale Macht über seine Ehefrau ebenfalls aufgrund seiner intrinsischen Eigenschaften? Beruht seine soziale Macht über seine Ehefrau auf intrinsischen Dispositionen oder auf internen Ressourcen – wie körperlicher und ökonomischer Überlegenheit, Charme, Schönheit oder Witz?
Viele Theoretiker haben den Besitz sozialer Macht auf den Besitz von Ressourcen (etwa von Geld) oder intrinsischer Dispositionen (etwa von Charme) zurückgeführt. Eine solche Position weist aber Probleme auf. Erstens kann bezweifelt werden, inwiefern der Besitz bestimmter Ressourcen – etwa von Geld – sich überhaupt jemals ohne Bezug auf den situativen oder sozialen Kontext zu Aussagen über den Besitz sozialer Macht in Bezug auf andere Personen nutzen lässt. Wenn ich mit einem Sack Gold auf einer einsamen Insel sitze, so besitze ich als Folge noch keine soziale Macht über Dritte. Der Bedeutungsgehalt der Ressource Geld ist – wie derjenige der meisten Ressourcen – gar nicht wirklich intrinsisch, sondern hochgradig sozial.63Zweitens legt der Verweis auf intrinsische Dispositionen und Ressourcen nahe, dass diese Quellen sozialer Macht kommensurabel sind, d.h. dass sich Ressourcen wie Geld, Schönheit oder Witz über einen einzigen Index miteinander vergleichen lassen. Frank Lovett hat solche Ansätze als „indexikalisch“ bezeichnet, betont jedoch auch, dass solche Ansätze zu Problemen führen, etwa weil sie Macht-Intransivitäten nicht erklären können.64
Daher muss festgehalten werden, dass soziale Macht möglicherweise überhaupt nicht im Sinne einer intrinsischen Dispositionen des mächtigen Akteurs verstanden werden kann. Sinnvoller scheint es, soziale Macht als ein strukturell generiertes Vermögen zu verstehen, das auf Akteure erst durch eine bestimmte Anordnung sozialer Verhältnisse oder Situationstypen übertragen wird. In diesem Sinne ist der Ehemann im viktorianischen England nicht deshalb mächtig, weil er bestimmte intrinsische Vermögen besitzt – etwa körperlich stärker, witziger oder reicher ist als seine Ehefrau – sondern weil die Institution der Ehe sowie soziale Konventionen bezüglich des normativen Status unverheirateter65 und verheirateter Frauen in sexistischen Gesellschaften Frauen eine Männern untergeordnete und von ihnen abhängige Rolle zuschreiben.66 Ändert sich beispielsweise das Eherecht – und wird etwa Frauen die Scheidung oder die ökonomische Selbstständigkeit zugestanden– verliert der Ehemann aus unserem obigen Beispiel einen entscheidenden Teil der Macht über seine Ehefrau. An den intrinsischen Dispositionen und Ressourcen des Ehemanns, etwa an seiner finanziellen Ausstattung oder seinem Charme und Witz, hat sich dann zwar nichts geändert. Trotzdem verliert er durch die entsprechende Gesetzesänderung soziale Macht über seine Frau. Diese Veränderung seiner sozialen Macht erklärt sich also allein über Veränderungen desjenigen sozialen Interaktionskontextes, der die Interaktion zwischen Ehemann und Ehefrau strukturiert.
Dass soziale Macht auf Akteure erst durch die Anordnung ihres sozialen Interaktionskontextes übertragen wird, deckt sich gut mit der Beobachtung, dass soziale Macht ein solches Vermögen bezeichnet, das zwar auf potentielle Handlungen verweist, aber noch keine aktualen Handlungen voraussetzt. Diese Potentialität lässt sich besser erfassen, indem wir unseren Blick nicht auf einzelne Interaktionen, sondern auf zeitlich gestreckte und inhaltlich umfassende Verhältnisse und Beziehungen zwischen Personen lenken. Viele Theoretikerinnen haben vorgeschlagen dies mit der Rede von „Strukturen“ zu fassen. Die Ontologie sozialer Macht, darin sind sich viele einig, hat einen irgendwie „strukturellen“ Charakter.67 Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, darf dies freilich nicht so verstanden werden, als ob Strukturen direkt Träger sozialer Macht sind, d.h. als ob Strukturen Macht „haben“68. Insbesondere macht eine solche Redeweise Strukturen zu ziemlich mysteriösen Entitäten.69 Sinnvoller scheint hingegen, soziale Strukturen als Grund oder Quelle sozialer Macht zu verstehen, d.h. davon zu sprechen, dass erst Strukturen soziale Macht auf Akteure übertragen, indem sie deren Vermögen mit Bezug aufeinander generieren und organisieren. Soziale Regeln und Praktiken – etwa ein sexistisches Eherecht, das Frauen die Scheidung verbietet – generieren und organisieren erst das Vermögen von Personen, die Handlungsfähigkeit anderer Personen auf eine nicht-triviale Art und Weise beeinflussen zu können.
Soziale Regeln und Praktiken werden wiederum durch das Handeln einer Menge personaler Akteure geschaffen und aufrechterhalten. In diesem Sinne, so hat beispielsweise Thomas E. Wartenberg in seiner „Feldtheorie“70 sozialer Macht betont, ließe sich die Frage, ob ein Akteur A soziale Macht über B besitzt, auf keine „dyadische”71 Art und Weise beantworten. Stattdessen müssten wir uns immer auch die Rolle „peripherer” sozialer Akteure, d.h. scheinbar unbeteiligter Dritter, die soziale Regeln und Praktiken aufrechterhalten, vor Augen führen.72 Denn erst das „soziale Feld“73, in dem periphere Akteure gegenüber einer Machtdyade ausgerichtet sind, verleiht einem Akteur soziale Macht über einen anderen.74 Folglich sei soziale Macht nicht „interventional” als das Ergebnis einzelner Handlungen zu konzeptualisieren, sondern „strukturell” als „a feature of the ongoing structure of the relationship between agents”.75 Eine solche „strukturelle“ Machtontologie kann überzeugend erklären, inwiefern Personen auch dann soziale Macht über andere Personen inne haben können, wenn sich diese nicht aus ihren intrinsischen Dispositionen oder Ressourcen ergibt, etwa wenn unser Ehemann im viktorianischen England ein gänzlich uncharmanter, humorloser und darüber hinaus armer Typ ist. Trotzdem besitzt er soziale Macht über seine Ehefrau, weil soziale Regeln und Praktiken ihm das Vermögen übertragen, ihr verbieten zu dürfen, eigenes Geld zu verdienen oder das Haus zu verlassen.
Im Folgenden möchte ich die Einsichten zur Produktivität, Potentialität und Strukturalität sozialer Macht aufnehmen und zu einem Differenzierungsvorschlag in Hinblick auf zwei verschiedene Typen sozialer Macht zusammenführen. Ich schlage vor, in Bezug auf interpersonale soziale Macht zwischen robusten und episodischen Varianten zu unterscheiden.76 Diese Unterscheidung ergibt sich aus dem verschiedenen Grund bzw. den verschiedenen Quellen beider Varianten sozialer Macht. Bisher habe ich argumentiert, dass soziale Macht nicht mit Bezug auf die Einschränkung des primären Handlungsumfelds der machtunterworfenen Personen oder allein im Sinne einer intrinsischen Disposition oder Ressource der mächtigen Partei verstanden werden darf. Auf der anderen Seite scheint es aber ebenfalls zu kurz gegriffen, Verteilungen sozialer Macht ausschließlich als Resultat der sozialen Strukturen, Regeln und Praktiken einer Gesellschaft zu verstehen: Wenn eine Bankräuberin einen Bankangestellten mit ihrer Pistole bedroht, so scheint die Quelle ihrer sozialen Macht über den Bankangestellten nicht in sozialen Regeln und Praktiken, sondern in ihrer Pistole zu liegen. Diese Komplikation versucht der folgende Definitionsvorschlag abzubilden.
Verschiedene Quellen sozialer Macht, so werde ich argumentieren, sind vor allem in Bezug auf die Robustheit von As Vermögen, Bs Handlungsvermögen beeinflussen oder steuern zu können, entscheidend. Soziale Macht, die Akteur A als Resultat sozialer Regeln und Praktiken besitzt, erlaubt es A, das Handlungsvermögen von Akteur B über eine große Bandbreite von Situationstypen und möglichen Handlungsverläufen hinweg zu beeinflussen. Dies bezeichne ich mit der Rede von „robuster“ sozialer Macht. Akteure erhalten robuste soziale Macht als Resultat des Verhaltens peripherer Akteure sowie norm- und handlungsstrukturierender Regeln und Praktiken. Davon unterscheide ich Fälle episodischer sozialer Macht. Episodische soziale Macht bezeichnet Fälle, in denen Akteuren soziale Macht situationsabhängig zukommt – etwa aufgrund einer Ressource, intrinsischer Disposition oder auch einfach einer bestimmten Handlungskonstellation. Ich schlage folgende Definitionen robuster und episodischer sozialer Macht vor:
A hat robuste soziale Macht über B, genau dann wenn…
… A und B in einer zeitlich gestreckten, umfassenden sozialen Beziehung zueinander stehen,
… die durch soziale Regeln und Praktiken generiert und aufrechterhalten wird,
… die A eine hohe Chance verleiht, Bs Handlungsvermögen über eine große Bandbreite verschiedener Situationstypen und Handlungsverläufe hinweg auf eine nicht-triviale Art und Weise beeinflussen oder steuern zu können.
Robuste interpersonale Macht wird Akteuren durch soziale Regeln und Praktiken verliehen. Sie lässt sich also nicht ohne Bezugnahme auf den sozialen Interaktionskontext von A und B identifizieren. As Vermögen, Bs Handlungsvermögen auf eine nicht-triviale Art und Weise beeinflussen oder gar lenken zu können, ist dann robust, wenn es in Bezug auf eine große Bandbreite verschiedener Situationstypen, möglicher Handlungsverläufe und Einflusstechniken besteht. In diesem Sinne scheint mir die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen robuster und episodischer sozialer Macht die Unterscheidung zwischen der Rede von „allgemeinen“ und von „spezifischen“ Vermögen in der Metaphysik widerzuspiegeln. Allgemeine Vermögen bezeichnen „what an agent is able to do in a large range of circumstances”. Dagegen bezeichnen spezifische Vermögen „what the agent is able to do now, in some particular circumstances”77. Ein allgemeines Vermögen, so Barbara Vetter, ist „retained through great changes in circumstances”78. Dies bezeichnet Vetter mit der Rede von der „Robustheit” solcher Vermögen.79 Ein robustes Vermögen könnte beispielsweise so dargestellt werden, dass es seiner Trägerin nicht nur in unserer tatsächlichen Welt zur Verfügung steht, sondern dass das entsprechende Vermögen ihrer Trägerin auch in einer großen Reihe alternativer (physisch und sozial) möglicher Welten zufällt.80
Wenden wir uns den einzelnen Bestandteilen der vorgeschlagenen Definition zu: Damit A robuste soziale Macht über B hat, müssen A und B also erstmal in einer sozialen Beziehung zueinander stehen. Dabei verstehe ich „soziale Beziehung“ in einem äußerst schmalen Sinne. Diese bezeichnet hier lediglich diejenige soziale Interdependenz, die dafür notwendig ist, dass Akteur A das Handlungsvermögen von Akteur B beeinflussen kann. Akteure müssen sich nicht darüber bewusst sein, dass sie in einer sozialen Beziehung zu anderen stehen.81 In Bezug auf Formen robuster sozialer Macht muss diese soziale Beziehung freilich tiefer gehen. Dies wird in der vorgeschlagenen Definition erstens durch das Zusatzkriterium einer zeitlich gestreckten sozialen Beziehung angezeigt. Zweitens wird hier eine solche soziale Beziehung vorausgesetzt, die – mit Rawls gesprochen – „umfassend und tiefgreifend“ ist – d.h. eine große Bandbreite verschiedener Situationstypen, möglicher Handlungsverläufe und Einwirkungsmöglichkeiten betrifft.
Ein wichtiges Merkmal robuster sozialer Macht ist, dass die relevante soziale Beziehung durch soziale Regeln und Praktiken generiert wird. Dabei geht es hier also nur um diejenigen sozialen Regeln und Praktiken, die zeitlich gestreckte und umfassende soziale Beziehungen generieren. Soziale Praktiken wie diejenige, dass wir uns an der Supermarktkasse nicht in einem ungeordneten Haufen, sondern in einer Schlange anstellen oder diejenigen sozialen Praktiken, die einer Moderatorin soziale Macht lediglich für die Dauer eines Abends und für den begrenzten Raum einer Moderation übertragen82, sind hier also ausgeschlossen. Stattdessen geht es um solche soziale Regeln und Praktiken, die uns beispielsweise in verschiedene Staaten, soziale Gruppen, Klassen oder berufliche Rollen aufteilen. In diesem Sinne ist robuste soziale Macht beispielsweise besonders wirkmächtig entlang unserer Zugehörigkeit zu bestimmten politisch konstituierten Verbänden, etwa Staaten, verteilt. Die zeitlich gestreckte und umfassende soziale Beziehung einer bestimmten Staatsbürgerschaft wird dabei durch ein ganzes Geflecht sozialer Regeln und Praktiken – etwa der Geltung des internationalen Völkerrechts und des internationalen Systems souveräner Staatlichkeit, den Gesetzen des entsprechenden Landes, bi- und multilateralen Verträgen etc. gestiftet und aufrechterhalten. Soziale Gruppen und Klassen – etwa die soziale Gruppe der Weißen, der Männer oder der Kapitalisten – werden durch ein dichtes Geflecht sozialer Normen – etwa Rechtsnormen oder soziale Normen zur Ontologie von Geschlechtszugehörigkeiten, Praktiken – etwa der kapitalistischen Produktionsweise – und Schemata – also kollektiven Mechanismen der Sinnstiftung und Sinnerschließung – konstituiert und aufrechterhalten. Nicht zuletzt kann robuste soziale Macht entlang der Zugehörigkeit zu politisch ausgewiesenen Autoritäten – etwa Bundestagsabgeordneten, der Bundeskanzlerin oder Polizisten – oder entlang sozial wirkmächtiger Rollen – etwa der sozialen Rolle von Eltern, Mentoren oder Vermietern – verteilt sein. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass soziale Gruppen, aber auch Staaten, politische Autoritäten und die Träger sozialer Rollen keine prä-politisch bestehenden Einheiten sind, die sich durch einen ontologisch feststehende Eigenschaften oder Charakter auszeichnen. Im Gegenteil, häufig werden soziale Gruppen durch soziale Praktiken und soziale Regeln der Machtverteilung erst konstituiert und geschaffen. Trotzdem stellt die Rede von sozialen Gruppen eine hilfreiche Kategorie zur Verfügung, um robuste interpersonale Machtverhältnisse sinnvoll beschreiben zu können.
Die Robustheit sozialer Macht wird dabei maßgeblich von dem Charakter derjenigen sozialen Regeln und Praktiken abhängen, die sie stiften. Grundsätzlich scheint mir hier der Fall zu sein: Zwangsbewehrte soziale Regeln – also beispielsweise staatliche Gesetze, die die Schlagkraft und Letztverantwortung eines staatlichen Gewaltmonopols hinter sich haben – verteilen soziale Macht auf eine besonders robuste Art und Weise. Wenn beispielsweise ein formales Eherecht, das durch eine staatliche Sanktionsandrohung gestützt wird, ein Scheidungsverbot für Frauen festschreibt, macht das die Chance von Ehemännern das Handlungsvermögen ihrer Ehefrauen beeinflussen zu können höher und robuster als wenn sie diese soziale Macht „nur“ aufgrund informeller sozialer Normen – etwa zur häuslichen Rolle von Ehefrauen – haben.
Ich schlage vor, die Robustheit von As Chance, Bs Handlungsvermögen beeinflussen zu können, entlang der Bandbreite verschiedener Situationstypen, Handlungsverläufe und Einwirkungstechniken zu bestimmen, in Bezug auf die eine Person A soziale Macht über eine Person B besitzt. So ist beispielsweise die soziale Macht von Kapitalisten, Männern oder Eltern in kapitalistischen, sexistischen oder familiär organisierten Gesellschaften deshalb robust, weil sich diese Formen sozialer Macht erstens auf eine große Bandbreite möglicher Situationstypen beziehen: Ein Kapitalist könnte nicht nur den bestehenden Arbeitsvertrag mit seinem Arbeiter beenden, sondern kann diesem auch unbezahlte Überstunden aufbürden, ihn loben oder ihm während dessen Elternzeit wichtige Projekte entziehen. Robuste interpersonale Macht wirkt zweitens in Bezug auf eine große Bandbreite beeinflussbarer Handlungsverläufe: Beispielsweise können Eltern nicht nur entscheiden, auf welche Schule ihr Kind geht, sondern auch was es anzieht, was es isst und mit wem es spielt. Und nicht zuletzt zeichnet sich robuste soziale Macht dadurch aus, dass diese über eine große Bandbreite verschiedener Arten und Weisen der Einwirkungsmöglichkeiten und -techniken besteht. Beispielsweise verfügen Männer in sexistischen Gesellschaften über eine große Bandbreite solcher Techniken, die das Handlungsvermögen von Frauen beeinflussen können.83 Die Chance der Beeinflussung, die Kapitalisten, Eltern und Männern in den genannten Fällen besitzen, ist deshalb robust, weil diese in Bezug auf eine große Bandbreite möglicher Situationstypen, möglicher Handlungsverläufe und möglicher Einwirkungstechniken – wir könnten auch sagen: in Bezug auf eine große Menge naher möglicher Welten – besteht.
Mit der Forderung nach einer nicht-trivialen Beeinflussung sollen schließlich solche Vermögen aus dem Begriff sozialer Macht ausgeschlossen werden, die sich in ihrem möglichen Einfluss auf einen zu unwichtigen Inhalt beziehen, etwa die Entfernung oder Verteuerung einzelner, trivialer Handlungsoptionen.
Eine Besonderheit, die aus der sozialen Konstitution robuster interpersonaler Macht durch soziale Regeln und Praktiken folgt, liegt darin, dass soziale Macht immer einem sozialen Anerkennungsmoment aufruht: Ein Kapitalist, ein Mann oder ein Polizist besitzen nur deshalb robuste interpersonale Macht über Arbeiter, Frauen oder den Verkehrssünder, weil diejenigen sozialen Praktiken, die ihnen ihre soziale Macht verleihen, von einer Mehrheit der betroffenen Personen in ihrem gesellschaftlichen Kontext anerkannt, aufrechterhalten und reproduziert werden. Dies bezeichne ich mit der Rede von sozialen Normen. Wichtig für die Geltung einer sozialen Norm ist erstens, dass Personen diese kennen und auch wissen, dass andere Personen diese Norm kennen sowie zweitens, dass Personen sich dieser Norm entsprechend verhalten und auch wissen, dass andere Personen sich (mehrheitlich) dieser Norm entsprechend verhalten. Diesbezüglich weist die Untersuchung robuster sozialer Macht Überschneidungen mit der Untersuchung praktischer Autoritätsverhältnisse auf. In diesem Sinne rekurriert robuste soziale Macht notwendigerweise auf einen auch normativ bestimmten sozialen Status. Robuste soziale Macht verleiht ihrem Träger die – freilich erst sozial de facto anerkannte, aber noch nicht normativ gerechtfertigte – Kompetenz, das Handlungsvermögen der machtunterworfenen Partei verändern zu dürfen.
Wenden wir uns nun der zweiten Form sozialer Macht zu, die ich in Hinblick auf ihren Grund bzw. ihre Quellen unterscheiden möchte. Wenn A soziale Macht über B nicht aufgrund sozialer Regeln und Praktiken besitzt, sondern aufgrund eines einmaligen Situationstypus, so schlage ich vor von episodischer sozialer Macht zu sprechen. Als Definition episodischer sozialer Macht schlage ich die Folgende vor:
A hat episodische soziale Macht über B genau dann, wenn….
… A und B in einer situationsspezifischen sozialen Beziehung zueinanderstehen,
… A über intrinsische Dispositionen oder individuelle Ressourcen verfügt, die ihr aufgrund des Situationstypus
… eine hohe Chance verleihen, Bs Handlungsvermögen in Bezug auf einen bestimmten Situationstypus oder einen bestimmten Handlungsverlauf auf eine nicht-triviale Art und Weise beeinflussen oder steuern zu können.
Ein Passant besitzt beispielsweise dann episodische soziale Macht über einen Ertrinkenden, wenn er zufälligerweise die einzige Person ist, die an dem einsamen Strand vorbeikommt, an dem sich die ertrinkende Person zu tief ins Wasser gewagt hat. Ebenso besitzt eine Bankräuberin lediglich episodische soziale Macht über den Bankangestellten, weil sie gerade eine Pistole in der Hand hält, bereit ist, diese auf den Bankangestellten zu richten und weil kein Polizist in der Nähe ist. Dagegen besitzt ein Polizist, der diese Szene stürmt, deshalb robuste soziale Macht, weil er durch soziale Regeln grundsätzlich dazu autorisiert ist, Bankräuber immer und überall verhaften zu dürfen.
Auch für episodische Formen sozialer Macht scheint es hilfreich kurz durch die Elemente der vorgeschlagenen Definition zu gehen. Erstens muss auch für das Vorhandensein episodischer sozialer Mann eine situationsabhängige soziale Beziehung – im oben vorgeschlagenen, d.h. schmalen Sinne – bestehen. Eine potentielle Bankräuberin, die sich beispielsweise die Pistole für ihren geplanten Banküberfall schon besorgt hat, aber noch damit hadert, ob das tatsächlich so eine super Idee ist eine Bank zu überfallen, besitzt in Bezug auf ihre potentiellen Opfer noch keine situationsabhängige soziale Beziehung. Dazu muss sie sich erst in eine Beziehung zu partikularen Opfern begeben, etwa indem sei eine bestimmte Bank mit dem Vorsatz des Banküberfalls betritt.84
Episodische soziale Macht beruht zweitens auf solchen Vermögen, die Personen durch ihre intrinsischen Dispositionen zukommen – etwa ihrem Vermögen, zu schwimmen, oder die auf den Ressourcen einer Person beruhen – etwa auf ihrem Geld oder dem Besitz einer Pistole oder einer Wasserflasche. Die Frage, inwiefern solche intrinsischen Dispositionen und individuellen Ressourcen zum Besitz episodischer sozialen Macht führen, ist dabei immer kontext- und situationsabhängig: Wenn ich in der Wüste an einer verdurstenden Person vorbeikomme, dann kann mir eine überflüssige Flasche Wasser extrem viel soziale Macht über das Handlungsvermögen der verdurstenden Person verleihen: ich kann dieser beispielsweise anbieten, ihr die Wasserflasche für sehr viel Geld oder im Gegenzug zur Unterzeichnung eines ausbeuterischen Arbeitsvertrags zu verkaufen. Hingegen wird mir eine Flasche Wasser unter den meisten anderen Umständen keine soziale Macht über andere Personen verleihen. Daher spreche ich in diesem Zusammenhang auch von situationsabhängiger bzw. eben episodischer sozialer Macht.
Weil episodische soziale Macht ihre Quelle also in Situationstypen und nicht in dauerhaften Beziehungen, Praktiken oder sozialen Rollen findet, ist sie nicht robust – sie verleiht ihrer Trägerin Einfluss über einen wesentlich kleineren modalen Möglichkeitsraum der machtunterworfenen Person B als dies im Falle robuster sozialer Macht der Fall ist. Während beispielsweise Eltern das Handlungsvermögen ihrer Kinder über eine große Bandbreite verschiedener Zwecksetzungen, möglicher Handlungsverläufe und Einwirkungstechniken hinweg beeinflussen können, ist episodische Macht viel begrenzter: Diese erstreckt sich zum Beispiel häufig nur auf einen zeitlich begrenzten Ausschnitt des Handlungsvermögens der machtunterworfenen Person. So kann die Bankräuberin oder die Passantin in der Wüste das Handlungsvermögen der machtunterworfenen Person B nur für einen vergleichsweise geringen zeitlichen Ausschnitt deren Lebens beeinflussen oder steuern. Meist kann sie dies auch nur in Hinblick auf einen einzigen – nicht aber eine große Bandbreite verschiedener – potentieller Handlungsverläufe (wobei dieser in Nothilfesituationen natürlich besonders gewichtig ist, da von diesem das Leben des machtunterworfenen Akteurs abhängt) und häufig nur durch eine ganz bestimmte Einwirkungstechnik (auch wenn diese aufgrund ihres besonderen – etwa zwanghaften – Charakters besonders tiefgreifend sein mag).
Auch für episodische Varianten sozialer Macht ist schließlich wichtig, dass diese das Handlungsvermögen der machtunterworfenen Person nicht nur auf eine triviale Art und Weise beeinflussen dürfen: Wenn A beispielsweise das Vermögen hat, B den letzten Keks vom Teller wegzuessen, so bezieht sich dieses Eingriffsvermögen nur auf eine ganz bestimmte Handlungsoption von B. Auch ist der Inhalt der Handlungsoption (den Keks essen) auf den ersten Blick trivial. Die Schwelle für Trivialität ist dabei wiederum kontextabhängig: Wenn B gerade am Verhungern ist oder ihr persönliches Glück davon abhängt, diesen letzten Keks einer ganz besonderen Sorte essen zu können, dann besitzt Person A in diesen Szenarien doch soziale Macht über B, allerdings nur episodische und keine robuste.
Abschließend bleibt es von besonderer Bedeutung, mit Bezug auf beide Formen sozialer Macht – robuste und episodische – die Potentialität von Machtverhältnissen zu betonen. Das „Haben“ sozialer Macht kann eben nicht mit Blick auf aktuale Eingriffe durch A oder mit Bezug auf einzelne Verhaltensänderungen des Machtunterworfenen B bestimmt werden: Wenn ein Kapitalist soziale Macht über einen Arbeiter besitzt, so besitzt er diese ganz unabhängig davon, ob er seine soziale Macht jemals ausübt (möglicherweise bietet Kapitalist A dem Arbeiter B niemals einen Arbeitsvertrag in seiner Fabrik an – entscheidend ist aber, dass er das Vermögen dazu hätte). Der Kapitalist besitzt seine soziale Macht über den Arbeiter auch ganz unabhängig davon, auf welche Art und Weise er seine Macht ausübt – also beispielsweise unabhängig von der moralischen Frage, ob er sein Vermögen dazu nutzt, dem Arbeiter einen ausbeuterischen oder aber einen fairen Arbeitsvertrag anzubieten. Aber auch die Bankräuberin, die lediglich episodische soziale Macht über den Bankangestellten besitzt, hat eine situationsabhängiges Vermögen – etwa die Handlungsgründe des Bankangestellten verändern zu können – die von deren Ausübung – also der Frage, ob sie dem Bankangestellten nun wirklich droht oder doch noch einen Rückzieher macht – erstmal zu unterscheiden ist.