(1) Frage: Schmid erläutert in seinem Beitrag vier Kritiken an der Annahme von Fakultäten (geistigen Vermögen): dass sie als eigenständige Dinge absurd sind, dass ihre Annahme überflüssig ist, dass ihre Annahme explanatorisch wertlos ist und dass sich Fakultäten letztlich nur kognitiven Wesen zuschreiben lassen. Während sich die letzte Kritik letztlich nur gegen die Annahme von nicht-geistigen Vermögen richtet, ist der Skopus der ersten drei Kritiken unklar. Lassen sie Raum für die Annahme von geistigen Vermögen?
(1) Antwort: Tatsächlich wurde auch die Annahme geistiger Vermögen auf der Basis des zweit- und dritt genannten Kritikpunktes zurückgewiesen. (Thomas Hobbes und Nicolas Malebranche sind gute Beispiele dafür). Verfechter des erst genannten Kritikpunktes fühlten sich oft nicht gezwungen, auf der Basis dieses Kritikpunktes die Annahme von geistigen Vermögen aufzugeben. Ihnen war nur wichtig zu betonen, dass geistige Vermögen keine eigenständigen Dinge (res) sind, wie viele Spätscholastiker glaubten. (Gute Beispiele hierfür sind René Descartes und John Locke).
(2) Frage: Wenn die ersten drei Kritiken eigentlich keinen Raum für geistige Vermögen lassen: Wie lässt sich dann erklären, dass viele frühneuzeitliche Philosophen die Annahme von geistigen Vermögen für gerechtfertigt hielten – und dies trotz der weitgehend geteilten Kritik an Fakultäten?
(2) Antwort: Wie in Antwort auf Frage 1 erwähnt, spricht der erste Kritikpunkt nicht gegen geistige Vermögen, sondern gegen eine bestimmte Konzeption solcher Vermögen: Sie sollten nicht als eigenständige Dinge (oder res) verstanden werden. Es gab also durchaus Raum für die Annahme geistiger Vermögen. Andere Autoren, die sich den anderen Kritikpunkten anschlossen, hielten die Annahme von geistigen Vermögen auch nicht für gerechtfertigt. Was sie für gerechtfertigt hielten, war offenbar die bloße Rede von geistigen Vermögen (und zwar einfach deshalb, weil sie stark in unserem alltäglichen Sprachgebrauch verwurzelt ist). Sie gingen jedoch davon aus, dass sich diese Rede metaphysisch ganz unverfänglich ausbuchstabieren lässt. Z.B. als Rede über körperliche Bewegungen, als Rede über Gottes gesetzesartige Wirkungsweise oder als Rede über Ideenfolgen.
(3) Frage: Korreliert der frühneuzeitliche Realismus über geistige Vermögen womöglich mit der These, dass wir einen besonders sicheren epistemischen Zugang zu unseren geistigen Vermögen haben und wir deshalb ihre Existenz annehmen dürfen?
(3) Antwort: Das ist eine interessante Hypothese, die es genauer zu untersuchen gälte. Ich bin mir aber nicht sicher, wie verbreitet die These des besonders sicheren epistemischen Zugangs zum Mentalen in der frühen Neuzeit tatsächlich war. Sie wird häufig René Descartes unter dem Stichwort „Transparenz des Mentalen“ zugeschrieben. Wie neuere Arbeiten jedoch zeigen, kann diese These kaum Descartes zugeschrieben werden: Descartes war mitnichten der Ansicht, dass uns das introspektive Bewusstsein eines Gedankens unmittelbar ein Wissen von diesem Gedanken vermittelt. Vielmehr bedürfen wir der klaren und deutlichen Einsicht in diesen Gedanken, um Wissen von ihm zu haben (vgl. dazu Elliot Paul, „Descartes’s Anti-Transparency and the Need for Radical Doubt“ in Ergo 5.41 (2018): 1083-1129. dx.doi.org/10.3998/ergo.12405314.0005.041).
(4) Frage: Nach dem durch Spinoza und Hume vertretenen „Klassifikationismus“ bezeichnen Fakultäten nicht die Quellen bestimmter kognitiver Operationen oder Ideen, sondern sie bezeichnen diese Operationen oder Ideen selbst. Geht dann aber nicht die intuitiv einleuchtende Unterscheidung zwischen der Instantiierung und der Manifestation eines Vermögens verloren?
(4) Antwort: Ja, diese Unterscheidung geht verloren. Aber sowohl Spinoza als auch Hume scheinen diese Konsequenz für unproblematisch zu halten, ja sie ist ihnen sogar willkommen. Beide sind nämlich Vertreter der megarischen Ansicht, dass ein Ding X so lange nicht wirklich tun kann, bis es X de facto tut. Das ergibt sich aus Spinozas nezessitaristischer Ansicht, nach der es „[i]n der Natur […] nichts Zufälliges [gibt], sondern alles […] aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt [ist], in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken“ (Ethik, 1p29, übers. Bartuschat). Hume hält in seinem Treatise on Human Nature (2.1.10.4) ganz explizit fest, „that the distinction we sometimes make betwixt a power and the exercise of it, is entirely frivolous, and that neither man nor any other being ought ever to be thought possest of any ability, unless it be exerted and put in action. “