Q&A – Kant und Hegel über Vermögen und Möglichkeit

Dina Emundts0009-0000-1224-3390

(1) Frage: Zum Verhältnis von Vermögen und Prinzipien: Nach Kants Vermögensbegriff werden Vermögen durch Prinzipien bestimmt, die uns in unserem Handeln und Denken anleiten. Verhalten wir uns zu diesen Vermögen wie zu Prinzipien? Für Prinzipien scheint zu gelten, dass wir Vermögen brauchen, um sie anzuwenden (was übertragen auf den Vermögensbegriff zu einem Regress führen würde), und weiterhin, dass wir sie anwenden können oder auch nicht. Wie nah ist Kants Vermögensbegriff also an dem Begriff der Prinzipien?

(1) Antwort: Ich habe in meinem Text versucht, Kants Theorie der Vermögen so zu rekonstruieren, dass er Vermögen nicht als Instanzen einführen will, die Aktionen durchführen können, bei denen Prinzipien eine Rolle spielen, sondern dass für ihn „Vermögen“ der Begriff dafür ist, dass wir Tätigkeiten spontan anhand einheitlicher Prinzipien ausführen. Das heißt: Die Prinzipien sind dafür verantwortlich, was die Tätigkeit ist, und auch dafür, dass sie erfolgreich sein kann etc. Darüber hinaus ist hier von Vermögen die Rede, weil Kant deutlich machen will, (1) dass diese Prinzipien spontan angewendet werden und das heißt auch, dass sie angewendet werden können, aber nicht immer angewendet sind. (2) Außerdem will Kant Einheiten und Identitäten von Prinzipien durch ihre Zuweisung zu Vermögen deutlich machen. Ich verstehe diese Rede von Vermögen so, dass Kant sich damit auf möglichst wenig (metaphysisch) festlegen will. Ich verstehe daher, dass der Eindruck entsteht, dass Kant am Ende zum Vermögen – im Unterschied zu Prinzipien – gar nicht viel sagen kann. Der Grund dafür, dass hier nicht viel gesagt werden kann, ist genau der, dass der Vermögensbegriff keine metaphysische Dimension haben soll.

Bei der Frage, wie wir uns zu diesen Vermögen verhalten, muss man aus diesem Grund meines Erachtens sagen, dass sie schief gestellt ist. Wir verhalten uns zu Prinzipien, wenden die an etc. Die Weise, wie wir dies tun, legt es (für Kant) nahe, dass wir den Begriff des Vermögens hier einführen. Aber Vermögen sind nichts, zu dem wir uns verhalten oder was wir irgendwie ‚vor uns‘ haben.

(2) Frage: Zum Zusammenhang von Prinzipien und Aktivitäten: Warum gelten bei Kant bestimmte Prinzipien für bestimmte Aktivitäten? Entsteht hier nicht ein Anwendungsproblem? Salopp gesagt: Warum könnte man nicht auch ganz anders denken? Ist Kants Antwort auf dieses Problem eventuell, dass die Prinzipien für die Aktivitäten konstitutiv sind?

(2) Antwort: Ich würde sagen, dass die Frage, warum bei Kant bestimmte Prinzipien für bestimmte Aktivitäten gelten, eine der Kernfragen der KrV ist. Denn dass wir die Grundsätze als Prinzipien für Erkenntnisgewinnung annehmen müssen und dürfen, soll ja in der Deduktion gezeigt werden. Und ja, die Antwort soll wohl lauten, dass diese Prinzipien dafür, dass wir überhaupt erkennen können, konstitutiv sind und dass sie auch gültig sind, weil sie schon dafür verantwortlich sind, dass wir uns überhaupt als etwas als Gegenstand beziehen können – was wir in Erkenntnis immer tun müssen.

Bei dieser Frage könnte man allerdings auch die verschiedenen Prinzipien durchgehen und jeweils überlegen, ob und ggfs warum sie alternativlos sind (die Prinzipien des Schließens zum Beispiel oder auch Raum und Zeit als Prinzipien alles Gegebenen). Das ist interessant, führt aber hier zu weit.

(3) Frage:Zu Kants Projekt überhaupt: Deleuze kritisierte Kant dafür, dass in seiner Erkenntnistheorie die Möglichkeit von Erfahrung und Denken zu stark durch die Vermögen eingeschränkt würde. Kants eigene Meta-Reflexionen etwa sollten nach seiner Erkenntnistheorie eigentlich gar nicht möglich sein. Ist dieser Einwand gerechtfertigt? Wie könnte Kant darauf reagieren?

(3) Antwort: Ich werde die beiden Fragen nacheinander beantworten. Schränkt Kant die Möglichkeit von Erfahrung und Denken durch die Vermögen zu stark ein? Tatsächlich kann man Kant darin kritisieren, dass er festlegt, was Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Dies wird durch die transzendentalen Bedingungen bestimmt. Zu diesen Bedingungen gehört Kausalität als Prinzip, und dies macht die Frage dringlich, ob und wie Ereignisse, die nicht kausal zu erfassen sind, erfahren werden können. Zu diesen Ereignissen würden Wunder gehören, aber vielleicht auch Naturereignisse, die nicht kausal-deterministisch sind. Wenn man an Kants Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft denkt, in der er die Erfahrungen von schönen Gegenständen und von Organismen behandelt, so scheint er selbst nicht anzunehmen, dass durch seine Philosophie die Erfahrung ausschließlich durch diese transzendentalen Prinzipien bestimmt gedacht werden muss. Wir können beispielsweise etwas überraschend als zweckmäßig erfahren, und wir können auch Erfahrungen von Eigenschaften von Dingen machen, die wir nicht erklären können. Vielleicht könnte man sagen, dass die Transzendentalphilosophie für diese Erfahrungen den Rahmen bieten müssen, oder aber auch, dass man Gegenstände zumindest auch und zunächst auf basaler Ebene kausal erfassen können muss, bevor man auf Gesichtspunkte aufmerksam wird, die mit den transzendentalen Prinzipien nicht zu erfassen sind. Bei all dem, was ich hier ausgeführt habe, ist meines Erachtens nicht entscheidend, dass Kant eine Vermögenstheorie vertritt. Entscheidend ist vielmehr, dass er bestimmte Prinzipien als konstitutiv meint ausweisen zu können.

Die andere Frage verstehe ich so, dass sie die These, dass Kant die Bedingungen für das Denken zu sehr einschränkt, spezifischer als einen Einwand über Kants eigene Methode formuliert. Der Einwand lautet, dass Kant selbst sich bei seinen philosophischen Analysen an seine eigene dort gegebene Grenzziehung nicht hält. (Dieser Einwand ist übrigens, wie auch der soeben behandelte, beinahe so alt wie die Kritik der reinen Vernunft selbst.) Zu bedenken ist hier unter anderem, dass die Grenzen des Denkens für Kant nicht mit denen der Erkenntnis zusammenfallen und dass die Gültigkeit philosophischer Sätze sich auch einem indirekten Erfahrungsbezug verdanken können soll. Mit Blick auf das Thema der Vermögen würde ich hier Folgendes sagen: Kant beschreibt (wie ich ja auch ausgeführt habe) seine philosophische Tätigkeit der Kritik auch so, als würde er unsere Vermögen („die Vernunft“) untersuchen. Gemeint ist damit, dass er untersucht, welche Tätigkeiten zu welchem Ergebnis führen und welche Prinzipien dabei anleitend sind. Um es im Bild zu sagen: Kant wendet sich nicht in einer inneren Betrachtung dem Vermögen zu, sondern er richtet sich auf die Tätigkeiten oder Handlungen, die nicht (nur) innerlich sind, die wir als vernünftig oder rational ansehen. Aufgrund dieser Orientierung auf diejenigen Handlungen, die für Erkenntnis verantwortlich sind, aber nicht nur innerlich stattfinden, kann man meines Erachtens zumindest nicht sagen, dass Kant dadurch, dass er Vermögenstheorie betrieben hat, seine eigenen Grenzen möglicher Erfahrung überschritten hat.

(4) Frage: Zur Funktion von Vermögen bei Kant: Kant zufolge sind Vermögen scheinbar keine echten Eigenschaften. Aber was in der Welt soll etwa die Aussage wahr machen, dass ein Individuum über Verstand verfügt, wenn nicht eine bestimmte Eigenschaft des Individuums? Weiterhin: Vermögen sollen bei Kant Einheit stiften, indem sie verschiedene Prinzipien und ihre Aktivitäten bündeln. Wie aber sollen sie diese Einheit stiften, wenn sie keine echten Eigenschaften sind und entsprechend nicht zu einer Substanz gehören?

(4) Antwort: Meiner Interpretation nach zeichnet sich Kant mit Blick auf die Themen Vermögen und Möglichkeit gerade dadurch aus, dass er zeigen will, dass wir einen positiven und funktionierenden Gebrauch von diesen Begriffen haben können, ohne dass wir alle metaphysischen Fragen, die man mit diesen Begriffen zu Recht verbindet, beantworten können. Dass ein Individuum über einen Verstand verfügt, ist anzunehmen, wenn er zu bestimmten Tätigkeiten in der Lage ist: Tätigkeiten wie urteilen, erkennen, Begriffe verwenden, die wiederum im intersubjektiven Raum stattfinden. Die Weise, wie diese Tätigkeiten verrichtet werden – spontan, intentional, geregelt, rational, etc. -, spricht dafür, hier den Begriff des Verstandes einzuführen. Natürlich kann man sagen, dass Individuum hat die Eigenschaft der Spontaneität etc., aber darüber hinaus ist es nicht nötig, den Verstand als Eigenschaft anzunehmen. Weiterhin würde ich nicht sagen – wie in der Frage unterstellt -, dass die Vermögen „Einheit stiften“. Ich wollte stattdessen gesagt haben, dass die Einheit durch die Zweckgerichtetheit der Handlung gegeben ist und dies den Begriff des Vermögens rechtfertigt. Was den Punkt mit der Substanz angeht, so ist das ein großes Thema, weil es mit Kants Auffassung des Selbstbewusstseins (Apperzeption) zu tun hat. Im Grunde geht das aber meines Erachtens in dieselbe Richtung: Wir können nach Kant viel über das Ich und seine Funktion für das Denken sagen, ohne dass wir dafür metaphysische Fragen zum Wesen des Ichs beantworten können müssen. Kant behauptet also nicht, dass der Ausdruck „ich“ sich nicht auf ein rein denkendes Wesen beziehen kann, sondern er behauptet nur, dass diese Referenz nicht die Bedingung dafür ist, dasjenige über den Ich-ausdruck zu sagen, was ich in meiner Urteils- und Erkenntnistheorie darüber sagen muss.