Q&A – Potentialität in der Ethik Spinozas

Kerstin Andermann0000-0003-1731-8886

(1) Frage: In Andermanns Auseinandersetzung mit Spinoza scheint der Immanenzbegriff eine zentrale Rolle zu spielen. Wie ist der Immanenzbegriff hier genau zu verstehen? Eine in der Frühen Neuzeit geläufige Erläuterung läuft über die Unterscheidung zwischen immanenter und transienter Verursachung. Immanente Ursachen, wie beispielsweise der Intellekt, bringen demnach etwas hervor, das in ihnen selbst inhäriert. Fängt diese Erläuterung den Immanenzbegriff, wie er von Andermann eingesetzt wird, ein? Oder ist Andermanns Immanenzbegriff weiter gefasst?

(1) Antwort: Philosophiegeschichtlich ist das immanente Denken vor allem mit den monistischen Entwürfen von Spinoza und Leibniz verbunden. Ich verstehe den ersten Lehrsatz des ersten Teils von Spinozas Ethica, also den Einsatzpunkt der ontologischen Darstellung der elementaren Strukturen der Wirklichkeit, als systematischen Ausgangspunkt seines immanenten Denkens. Die voraussetzungskritische Setzung einer Substanz, die Ursache ihrer selbst ist und aus sich selbst hervorgeht, erlaubt es Spinoza, die menschliche Lebensform innerhalb einer Natur zu erläutern, die aus sich selbst hervorgeht und durch nichts überstiegen wird. Die Bestimmung einer univoken Ganzheit ist die absolute Grundlage der „immanenten Kausalität“ (causa immanens), die die Verhältnisse des Denkens und des Seins bestimmt. Immanenz wird so zum einzigen und umfassenden Horizont der menschlichen Lebenszusammenhänge, und in einer immanenztheoretischen Perspektive zeigt sich, dass die Orientierungen der Menschen, ihre souveränen Instanzen und Autoritäten, ihre Werte und ihre Normen, ihre Ideen und ihre Gefühle aus der immanenten Kausalität ihres Seinszusammenhangs herzuleiten sind. Yirmiyahu Yovel nennt es eine „Vorbedingung menschlicher Emanzipation“, diese Immanenz zu verstehen und anzuerkennen, und in diesem Sinne ist die Frage der Immanenz eine Frage der Aufklärung und des emanzipatorischen Durchbruchs zur Moderne.

Das kritische Potential immanenten Denkens besteht aber keineswegs nur in dem Anspruch, metaphysische Transzendenzbezüge zu überwinden und etwa theologische Autorität abzuwehren. Es reicht viel weiter, denn mit der Annahme der Immanenz wird eine Kontinuität des Seins vorausgesetzt, in der es keine privilegierten Einheiten gibt, sondern nur differenzielle Verbindungen der Entitäten. Etienne Balibar hat treffend festgestellt, dass Spinoza und Leibniz an der Schwelle zu einer modernen Auffassung von Differenz stehen und einerseits auf vormoderne Ideen zurückgehen, während sie andererseits das postmoderne Denken von Differenz antizipieren. So lassen sich die Orientierungen des Denkens und des Handelns in immanenten Wirkungsverhältnissen beschreiben, und mit der Schließung dichotomischer Hierarchisierungen zu differenziell operierenden Einheiten ist der Umbau von einer vertikalen zu einer horizontalen Konstitutionsordnung verbunden. Paradigmatisch deutlich wird diese immanente Anlage an Spinozas Konzeption des Parallelismus von Körper und Geist, die in einem Verhältnis der Gleichursprünglichkeit stehen und differenziell aufeinander bezogen sind. Aber auch andere Unterscheidungen, wie etwa die von Aktivität und Passivität, von Macht und Ohnmacht oder von Gut und Böse lassen sich in einer immanenzphilosophischen Perspektive als differenzielle Einheiten ausweisen. Ihre Elemente sind nicht absolut zu setzen, sondern stehen in reversiblen Verhältnissen, aus denen sich eine graduelle Intensität ihrer Wirkung, also ein Mehr oder Weniger derselbsen, ergibt. Ein immanent bestimmter Seinszusammenhang ist dementsprechend nicht finalistisch an übergeordneten Zwecken und Idealen oder an fundierenden Gründen zu orientieren. In ihm steht vielmehr die Pluralität der Seinsverhältnisse gegen die Annahme ihrer Einheitlichkeit, ihre Heteronomie gegen die Vorstellung unbeeinflusster Identitäten und ihre Kontingenz gegen die Annahme fundamentaler Gründe. Daraus ergibt sich, dass die Modi der Existenz in ihrer Potentialität ausgewiesen werden können, also in ihrem Vermögen, sich zu erhalten, zu verändern und, um mit Nietzsche zu sprechen, zu werden, was sie sind.

(2) Frage: Was ist genau darunter zu verstehen, dass bei Spinoza Potentialität ein Individuationsprinzip ist, und wie genau verläuft der Individuationsprozess?

(2) Antwort: Potentialität ist nach meiner Interpretation eine Bedingung von Individuation und zwar insofern sie einen Möglichkeitsraum eröffnet, der eine gegebene Aktualität überschreitet. Ein Individuationsprinzip im engeren Sinne ist für mich etwa die Macht (potentia), wie Martin Saar sie für den Bereich der politischen Theorie Spinozas untersucht hat. Viel grundlegender noch ist in meiner Interpretation aber das Prinzip der Affektion (affectio), denn in seinem ontologischen Strukturmodell der Substanz, der Attribute und der Modi werden die Modi von Spinoza als Affektionen von Substanz ausgewiesen. Modi werden also erst in übergreifenden Affektionsverhältnissen individuiert und durch Affektionswirkungen als etwas Einzelnes innerhalb der Substanz des Ganzen erkennbar. Sie sind damit durch heteronome Wirkungen determiniert, aus denen sie hervorgehen und durch die sie überhaupt erst begreifbar werden. Potentialität ist aber auch im weiteren Verlauf der Ethica wichtig, wenn es um das Vermögen menschlicher Individuen geht, sich selbst zu erhalten oder zu verändern und die Freiheitsspielräume, die aus ihrer Erkenntnisfähigkeit und ihrer Affektfähigkeit entstehen, zu nutzen.

(3) Frage: Nach der Standardinterpretation von Spinoza ist dieser Nezessitarist. Der Nezessitarismus schließt nach allgemeinem Verständnis ein megarisches Verständnis von Vermögen bzw. Fähigkeiten ein: man kann nur genau das tun, was man tatsächlich tut. Damit ist die Möglichkeit zum Andershandeln ausgeschlossen, die auf den ersten Blick eine Voraussetzung für Freiheit ist. Inwiefern können wir dann immer noch davon reden, dass Spinozas metaphysisches Modell „Freiheitsspielräume der Individuation“ (S. 9) offenlässt? Welcher Begriff von „Freiheit“ liegt dieser Aussage zugrunde?

(3) Antwort: Der Nezessitarismus Spinozas ist längst umstritten und wird durch einen starken Perspektivismus relativiert, der sich aus den verschiedenen Einsatzpunkten innerhalb der Ethica ergibt. So hat etwa Wolfgang Bartuschat gezeigt, wie Spinoza durch einen doppelten Einsatz von Gott und vom Menschen her deutlich machen kann, dass der Mensch zwar ein Teil der Natur ist, aber eben kein unselbstständiger Teil. Die Potentialität, die sich aus seiner Erkenntnisfähigkeit ergibt, ermöglicht es ihm, sich selbst zu erhalten und seine Freiheit zu erfahren. Versteht man die Ethica in ihrem Aufbau als eine Ethik, also als einen Beitrag zur Frage nach dem gelingenden Leben, und folgt dem, was über das strenge geometrische System hinaus deutlich wird, so zeigt sich ein Möglichkeitsdenken, das die starre Determination menschlicher Individuen überschreitet. Bereits in der Erkenntnistheorie des zweiten Teils (und noch viel stärker in der Affektenlehre des dritten und der Freiheitslehre des fünften Teils) wird deutlich, dass Spinoza in der Macht des menschlichen Geistes auch das Vermögen sieht, zu einer Freiheit in der Natur (nicht gegen die Natur) des Ganzen zu gelangen. Menschliche Individuen gehen also aus der Natur hervor und können ohne diese nicht begriffen werden, doch gleichwohl sind sie nicht darauf zu reduzieren, nur ein endlicher Teil des unendlichen Ganzen zu sein. Den menschlichen Individuen ist etwas eigen, das die Notwendigkeit der unendlichen Substanz überschreitet, und würde die Ethica nicht von der Möglichkeit der Freiheit durch das Vermögen der Erkenntnis handeln, hätte Spinoza sein Werk mit dem Abschluss der Ontologie des ersten Teils beenden können.

(4) Frage: Wie kann man Spinozas Potentialitätsbegriff mit dem modernen Potentialitätsbegriff – z. B. in der zeitgenössischen Metaphysik – in Beziehung setzen? Handelt es sich bei der potentia um eine genuin modale Eigenschaft, vergleichbar mit Dispositionen oder Fähigkeiten?

(4) Antwort: Die Übersetzung der dargestellten Auffassung von Potentialität in die zeitgenössische analytische Metaphysik scheint mir nur unter der Voraussetzung einer enormen Reduktion möglich. Potentialität spielt in den unterschiedlichen Teilbereichen des spinozanischen Systems eine wesentliche Rolle, ist aber wohl lediglich als ein ontologisches Problem mit der analytischen Metaphysik in Verbindung zu bringen. Um den Vergleich herzustellen, muss die Frage der Potentialität aus der einzigartigen Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie in Spinozas Ethik herausgelöst werden. Auf diese Weise isoliert könnte der Vergleich mit modalen Eigenschaften oder Dispositionen dahin gehen, dass die Modi, in denen die potentia ebenso wirksam ist, wie im Ganzen der Natur, selbst als Dispositionen der Substanz zu verstehen sind. Sie wären in diesem Sinne nicht als kategorische und tatsächlich manifeste Charaktere anzusehen, sondern nur in Abhängigkeit von dispositionalen Affektionen erkennbar. Als Dispositionen wären die Modi also nur indirekt zu erfassen und zudem immer nur in der Perspektivierung durch die Attribute erkennbar, die für Spinoza über das dualistische Schema von res cogitans und res extensa hinaus unendlich sind und einen potentiell unendlichen Erkenntniszusammenhang eröffnen.