Diskussionsfragen zu Jakob Huber (Berlin): „Zum Status von Intuitionen in Gedankenexperimenten“

Frage: Im Grunde haben alle von Ihnen vorgestellten Ansätze Probleme und produzieren Instabilitäten. Man könnte sagen, dass diese Varianz eben zeigt, dass Intuitionen fallibel sind, dass sie anfechtbar sind, und manchmal sogar falsch. Aber das raubt ihnen natürlich nicht automatisch die epistemische Kraft. Wenn man sagen würde, es raubt ihnen die epistemische Kraft, dann kann man sich fragen, ob das nicht zu einem generellen Skeptizismus führt. Die von Ihnen vorgestellten Varianzen und Effekte zur Kontextsensitivität von Beurteilungen beziehen sich ja nicht nur auf Intuitionen, sondern auf alle möglichen epistemisch relevanten Wahrnehmungen und Beurteilungen. Das scheint mir aber eine völlige Überreaktion zu der Feststellung zu sein, dass Intuitionen fallibel sind und manchmal falsch. Können sie nicht beides sein: Grundsätzlich fallibel und anfechtbar und trotzdem eine epistemische Kraft besitzen, so wie beispielsweise Wahrnehmungen ja auch?

Selbst wenn wir nur sagen, dass einige moralische Intuitionen fallibel sind, und andere stabil, dann haben wir ja das Problem, dass wir nicht angeben können, wie wir diese unsicheren Intuitionen herausfiltern können. Woher wissen wir, welche Intuitionen problematisch sind?

Zwischenfrage: Könnte man dann Stabilitäten nicht messen? Das ließe sich doch empirisch untersuchen. Manche Intuitionen sind ja sehr stabil.

Dann ist es sicherlich auch wichtig zu differenzieren, über welche Arten von Intuitionen wir reden und welche Arten von Prinzipien aus ihnen abgeleitet werden sollen? Es gibt wahrscheinlich einen moralischen Kernbereich, wo diese Stabilität am größten ist, krosskulturell und krosstemporal, aber wenn es jetzt nicht etwa um das Tötungsverbot geht, sondern zum Beispiel im Kontext der Politischen Philosophie um die Gestaltung politischer Institutionen und spezifische Verteilungsprinzipien, dann scheint es mir doch sehr plausibel, dass es eine größere Kontingenz in Bezug auf die Intuitionen gibt einfach dadurch, dass die Leute in unterschiedlichen Diskursen sozialisiert worden sind. Je spezifischer das theoretische Modell ist, dass durch Intuitionen gestützt werden soll, desto größer wird die Instabilität bei den Intuitionen.

Ich würde gerne auch nochmal rückfragen, was es eigentlich heißen soll, dass Intuitionen anfechtbar sein können. Intuitionen sind ja keine begründeten Propositionen. Sie sollen einfach Gründe sein, ohne selbst noch begründet zu sein. Was hieße es also, eine Intuition anzufechten?

Antwort auf Rückfrage: Mir scheint es hier zwei Möglichkeiten zu geben. Entweder man sagt, widerstreitende Intuitionen heben sich auf, oder man sagt, es gibt spezifische Gründe um anzunehmen, dass eine Intuition unzuverlässig ist und dann verliert sie auch ihren Begründungscharakter. Ich würde das in Analogie zu Wahrnehmungen betrachten. Unterschiedliche Wahrnehmungen haben erstmal einen gleichwertigen Begründungscharakter. Aber sobald wir herausfinden, dass es sich bei einer Wahrnehmung um eine Halluzination handelt, haben wir einen Grund, ihr diesen Begründungscharakter abzusprechen. Außerdem ließen sich in diesem Sinne auch schwächere Intuitionen durch stärkere Intuitionen anfechten. So, wie eine schwache Wahrnehmung (z.B. wenn man etwas nur von sehr weit weg sieht) durch eine stärkere Wahrnehmung begründet angefochten werden kann.

Mir scheint das aber im intersubjektiven Kontext eher selten zu funktionieren. Die wenigsten Menschen werden ja in Bezug auf eine moralische oder politische Streitfrage sagen: „Ich habe da nur eine schwache Intuition, deine scheint stärker zu sein, dann muss sie richtig sein“. Und dann bleibt natürlich die Frage, ob wir auch diese starken Intuitionen mit irgendwelchen Gründen angehen können. Mit der Wahrnehmungsanalogie kommen wir schon einen Schritt weiter, aber das Problem scheint zu sein, dass wir Intuitionen eben nicht wie Wahrnehmungen an der äußeren Wirklichkeit abgleichen können.

Frage: Ich habe einen ähnlichen Punkt. Ich denke, die Frage, welche epistemische Kraft von Intuitionen ausgehen, hängt einmal sehr stark vom Gegenstandsbereich ab, aber auch von der Natur und Genese der Gedankenexperimente, durch die sie hervorgebracht werden. In der Ethik scheinen jetzt Intuitionen manchmal sinnvoll eingesetzt werden zu können, aber wenn man jetzt an die Mathematik oder Logik denkt, dann spielen dort Intuitionen eher eine schädliche Rolle. Wir haben allemöglichen starken Intuitionen, etwa zur Unendlichkeit, die begründetermaßen falsch sind und eindeutig zu Widersprüchen führen. Niemand würde da natürlich sagen, „jetzt ändern wir mal die mathematische Theorie, weil unsere Intuitionen so stark sind“. Man kann auch erklären, warum in diesem Bereich unsere Intuitionen so schädlich sind: sie werden ja häufig in der Alltagserfahrung ausgebildet und anhand von alltagssprachlichen Beispielen, die dann eben kläglich versagen, wenn wir sie anwenden auf Dinge, die wir im Alltag nicht erfahren, wie etwa die Unendlichkeit.

Ich schaue mir jetzt hier nur Beispiele zur Praktischen Philosophie an, aber selbst innerhalb der Praktischen Philosophie gibt es Vertreter aller drei Methoden und die Methoden werden je nach spezifischen Erkenntnisinteresse ausgewählt. Ich finde Ihren Punkt aber sehr interessant, weil ich eigentlich erwartet hätte, dass in den meisten Kontexten der Theoretischen Philosophie Intuitionen, welche durch ein Gedankenexperiment evoziert werden sollen, unproblematischer sind, als in der Praktischen Philosophie, weil es dort ja häufiger darum geht, einen Begriff zu klären oder auf Widersprüche aufmerksam zu machen, oder ähnliches. Es also eher um analytische Erkenntnisse als moralische Einsichten geht. Ich würde daher alles in allem immer noch eher davon ausgehen, dass die Funktion von Intuitionen in der Theoretischen Philosophie unproblematischer ist, als in der Praktischen Philosophie, da hier die moralischen Intuitionen deutlich stärker in Abhängigkeit zu bestimmt Kontextbedingungen evoziert zu werden scheinen.

Frage: Ich denke, es wäre immer noch wichtig genauer zu klären, was Intuitionen eigentlich genau sind. Sie sagten zu Beginn Ihres Vortrags einmal, Intuitionen seien wahrnehmungsähnliche Einsichten. Können aber Prinzipien so etwas wie wahrnehmungsähnliche Einsichten hervorrufen? Ich hatte den Eindruck, dass der Begriff der Intuitionen in vielen Fällen einfach durch den Begriff „Eindruck“ ersetzt hätte werden können. Wie sehen Sie das? Ist der Begriff nicht viel zu vieldeutig und wird selbst im Kontext ein und derselben Debatte zu unterschiedlich verwendet?

Ja, das ist eine wichtige Frage und eine, mit der ich auch selber im meinen Beitrag zu kämpfen hatte. Den Begriff der Intuition als „wahrnehmungsähnlicher Einsicht“ schreibe ich ja schon einer bestimmten Methode zu, nämlich der Methode der Intuitionisten. Andere Methoden operieren eben mit anderen Definitionen von Intuitionen. Ich denke, es ist aber trotzdem sehr wichtig, dass man für diesen schillernden, grundlegenden Begriff zumindest so etwas wie eine Minimaldefinition hat, oder sich zumindest darüber im Klaren ist, was er nicht ist. In diesem Sinne ist es immerhin wichtig festzuhalten, dass Intuitionen propositionale Urteile sind, also Urteile über etwas, und es scheinen aber Urteile zu sein, die nicht selbst begründet sind, sondern Urteile, die einfach hervorgerufen werden angesichts bestimmter Szenarien. Das ist natürlich jetzt keine vollständige Definition sondern eher eine negative Bestimmung, und ich stimme Ihnen zu, dass es eine sehr schwierige Aufgabe ist, den Begriff näher auszufüllen.

Frage: Ich möchte eine Frage stellen, die sich auf die Plastizität von Intuitionen als Wahrnehmungen bezieht, wenn man denn die Intuitionen als wahrnehmungsanalog deutet. In der Wissenschaftsphilosophie ist es ja relativ verbreitet, davon auszugehen, dass Wahrnehmungen plastisch sind. Die Müller-Lyersche Täuschung kann ich nicht aufheben, selbst wenn ich nachmesse, dass beide Linien gleich lang sind, bei anderen Täuschungen, wie etwa der Hasen-Ente von Wittgenstein kann ein Hinweis dazu führen, dass der Wahrnehmungszustand sich ändert. Es gibt also vielleicht Wahrnehmungen, die resistent gegenüber Umdeutungen sind, und Wahrnehmungen, die plastisch sind. Kant würde nun vermutlich darauf bestehen, dass wenn ich die Nazihäscher an der Tür anlüge, ich darin einer Intuition folge, die ich besser umdeuten müsste. Und es scheint ganz allgemein in der Moralphilosophie oft darum zu gehen, dass wir Leute umerziehen sollen und sie dazu einladen wollen, ihre Intuitionen umzudeuten. Wir üben Druck auf die Intuitionen von Leuten auf, das scheint Teil des moralischen Geschäfts zu sein. Die wahrnehmungsanaloge Deutung von Intuitionen scheint in diesem Sinne wissenschaftstheoretisch auf einem sehr alten Stand zu sein. Denn von der Theoriegeladenheit von Beobachtungen und der Plastizität von Wahrnehmungen sind wir ja mehr oder weniger alle überzeugt im wissenschaftstheoretischen Kontext.

Ich bin mir zunächst mal nicht ganz sicher, ob ich Ihrer Beschreibung des moralischen Diskurses zustimmen würde. Einfach zu sagen, „Hab eine andere Intuition!“ scheint nicht zu funktionieren, zumindest nicht wenn man Intuitionen als einen freiwilligen kognitiven Zustand begreift…

Zwischenbemerkung: Das geht natürlich nicht schnell und freiwillig! Sie müssen im Sinne von Aristoteles zunächst eine hexis, also eine Gewohnheit ausbilden, und dann bekommen sie eine neue Intuition.

Ich denke aber doch, dass das, was eine moralische Handlung richtig macht, auf eine Weise begründet sein muss, in der eine Intuition nicht begründet sein kann. Also ich denke schon, dass ein moralischer Diskurs irgendetwas mit Gründen zu tun hat, in dem Sinne, dass wir den moralischen Gehalt einer Handlung nicht darin ablesen können, welche Intuitionen sie hervorruft. Natürlich kann man sagen, dass man eine bestimmte moralische Vorstellung hat, und dass aus dieser Vorstellung folgt, dass bestimmte Handlungen auch bestimmte Intuitionen hervorrufen sollten, aber ich denke nicht, dass ein moralischer Diskurs das Ziel haben sollte, bestimmte Intuitionen hervorzurufen. Was aber Ihre Analogie betrifft, kann ich Ihnen da auf gewisse Weise auch zustimmen. Meine Kritik an der Vorstellung von Intuitionen als wahrnehmungsähnlichen Zuständen war ja gerade, dass Intuitionen sich anders zu verhalten scheinen, als empirische Beobachtungen, wenn sich nun herausstellen sollte, dass auch empirische Beobachtungen im naturwissenschaftlichen Kontext viel problematischer sind, als gemeinhin angenommen, dann macht das ja die Intuitionen nicht unproblematischer. Insofern kann ich Ihnen zustimmen, dass die Analogie auch im Sinne der Naturwissenschaft unterkomplex ist, würde aber sagen, dass damit das Problem aber nicht gelöst ist.

Frage: Ich würde meine Frage gerne auf die Sphäre des Affektiven zuspitzen. Emotionen werden ja zum Beispiel auch manchmal als affektive Wahrnehmungen dargestellt, die Zugang zu der Werthaftigkeit von Erscheinungen und Gegenständen liefern, und damit ist dann auch eine Analogie hergestellt, zwischen Gefühlen und Wahrnehmungen, sowie in dem Diskurs, den Sie vorgestellt haben, eine Analogie zwischen Intuitionen und Wahrnehmungen hergestellt wurde. Also wie würden Sie das einschätzen? Was haben die Intuitionen mit der ganzen Sphäre der Affektivität zu tun?

Es gibt, wie ja schon mehrfach erwähnt, verschiedene Beschreibungen von Intuitionen, und es ist natürlich immer problematisch, einfach eine Beschreibung herauszufiltern, aber wenn man davon ausgeht, dass Intuitionen irgendetwas mit „gut feeling“ zu tun haben, dann scheint es da schon eine starke affektive Dimension zu geben. Und vor dem Hintergrund könnte man das Argument, das ich hier mache, auch als eine Kritik an einer Gefühlsethik verstehen. Dass es eben im Sinne einer moralischen Theoriebildung nicht ausreicht, von affektiven Reaktionen auf bestimmte Szenarien auszugehen, weil Moral immer irgendwie begründet sein muss. Wenn man Affekte zum Startpunkt macht, läuft man Gefahr, all die Biases, die mit in die Gefühle eingebaut sind, weiterzutragen, und kann sie nicht mehr los werden. Ich würde aber dennoch sagen, dass auch die Leute, die anerkennen, dass Intuitionen eine starke affektive Dimension haben, meistens nicht sagen würden, dass sie aufgrund dieser Affektivität ihre Geltung als Gründe haben, sondern eben aufgrund ihrer Wahrnehmunsartigkeit. Dennoch würde ich sagen, dass die von Ihnen angesprochene Sphäre der Affektivität ein weiteren Grund darstellt, warum es nicht so leicht ist, moralische Theoriebildung auf der Grundlage von Intuitionen zu betreiben.