Diskussionsfragen zu Thiemo Breyer (Köln): „Philosophie als Fremdverstehen: Imaginative und narrative Strategien der Erkenntnisgenerierung“

Frage: Sie haben die verschiedenen Möglichkeiten des Perspektivwechsels sehr schön kartiert und vorgestellt. Ich habe mich nur gefragt, was da vielleicht noch fehlt, wenn man jetzt in die Theorie der Gedankenexperimente hineingehen möchte. Weil da passiert ja meistens noch ein bisschen mehr. Im Rahmen der analytischen Philosophie wird zum Beispiel häufig versucht, einen bestimmten Begriff zu schärfen, besser zu verstehen, zu kritisieren. Ich frag mich, ob man Ihre Erörterungen dafür auch fruchtbar machen kann.

Da bin ich überfragt als jemand der keine Expertise im Bereich der Theorie der Gedankenexperimente mitbringt, sondern das vielleicht eher propädeutisch versteht als Beschreibung dessen, was vor sich geht, wenn sich jemand aufgefordert sieht, sich auf solche Gedankenexperimente einzulassen und sich vorzustellen, was mit den Figuren, die in den Gedankenexperimenten vorkommen, passiert. Das ist einfach nur ein Vorschlag, um besser zu beschreiben, in welchem Rahmen diese Bezugnahme stattfinden kann. Was aber damit für das weitergehende Problem gewonnen ist – vielleicht nichts. Aber man hat vielleicht sein Verständnis geschärft für die Prozesse, die ablaufen, wenn sich jemand mit Gedankenexperimenten auseinandersetzt. Insofern war der Anspruch auch erstmal ganz bescheiden, differenziert aufzuzeigen, was es in solchen Szenarien für verschiedene Formen des Bezugs zum Anderen gibt, und durch welche Theorien des psychologischen Verstehens, des imaginativen Sich-Hineinversetzens dies am besten gezeigt werden kann.

Frage: Ich wollte nach diesem mehrstufigen Modell des Fremdverstehens fragen. Da haben Sie unterschieden zwischen emotionaler und kognitiver Empathie. Ich wollte fragen, wie sich diese Formen der Empathie zueinander verhalten, setzen sie einander voraus? Kann ich etwas kognitiv oder genuin verstehen wenn ich gar keinen affektiven Zugang habe, oder setzen diese verschiedenen Formen des Verstehens einander voraus?

Also man kann natürlich eine entwicklungspsychologische Geschichte erzählen, wo die Komplexität der Prozesse als Einheit vorausgesetzt sind. Das geht dann eben bei der Affektstimulierung los und führt dann später, wenn das eigene Selbstkonzept etabliert ist, zu mehr kognitiven Varianten, die dann auch abstrahierbar sind von dem individuellen Einzelnen, das uns körperlich gegeben ist. Das passiert auf einer rationalen Ebene und führt im Idealfall auch zu einer Geschichte, die man über sich erzählen kann, im Sinne einer narrativen Empathie. Also man kann schon so eine Art Stufenmodell voraussetzen. Interessant scheint mir aber die Frage, wie die miteinander zusammenhängen, wie sie sich wechselseitig informieren. Da kann man verschiedene Gesetzmäßigkeiten feststellen. Zum Beispiel kann eine bestimmte Einstellung auf der kognitiven Ebene oder ein Wissensgehalt Prozesse auf der affektiven Ebene massiv beeinflussen. Wenn wir zum Beispiel überzeugt sind, Person X ist ein schlechter Mensch, ein Verbrecher, und dann geschieht ihm was Übles, dann hat man auch kein Mitleid. Oder andersherum, ausgehend von einer Stimmung, die wir haben: wenn wir in einer depressiven Stimmung sind, dann können wir uns vielleicht auf der körperlichen Ebene weniger in ein Resonanzverhältnis zu anderen begeben. Also da gibt es unterschiedliche Weisen wie diese Ebenen miteinander in Beziehung stehen, sich behindern können, sich aber auch befördern können. Zum Beispiel zeigt sich in Studien der experimentellen Psychologie häufig, dass wenn eine hohe körperliche Synchronisierung zwischen Teilnehmern eines Gesprächs stattfindet, dieses Gespräch auch später positiver bewertet wird, als wenn eine geringere Synchronisierung stattgefunden hat. Also man kann die Ebenen der Empathie auch unabhängig voneinander betrachten. Man kann auch ohne etwas mit dem anderen zu tun zu haben, ohne eine affektive Ebene zu teilen, trotzdem auf der kognitiven Ebene anhand von den gegebenen Informationen, die man hat über die Person und die Situation, und anhand von allgemeinen Regeln wie „da würde es den meisten wahrscheinlich so gehen, weil xy der Fall ist“, verstehende Schlussfolgerungen treffen. Man kann die Formen der Empathie also separat betrachten, aber interessanter finde ich die Verschränkungen.

Frage: Nochmal zu diesem Schritt zu dem „was soll man tun“: Ich habe mich gefragt, inwieweit dieser sehr anforderungsreiche Begriff des Sich-Hineinversetzens nicht auch grundsätzlich diesen Schritt schwierig macht. Wenn ich das nötige Level an Reflexivität hab und einsehe, dass meine Fähigkeit des Fremdverstehens auch von allerlei kontingenten Umständen abhängt, von meiner sozialen Position, von meinem Verhältnis zu dieser Situation, dann müsste ich ja eigentlich die Schlussfolgerung ziehen, dass in einer gewissen Weise mein eigenes Fremdverstehen, meine Urteile über diese Situationen kontingent sind und der Schritt zum ‚man‘ eben nicht so leicht ist. Ist vor dem Hintergrund dieser Reflexivität, die da gefordert wird, dieser Schritt überhaupt noch möglich, oder erschwert gewissermaßen die Generalisierbarkeit auch die Erkenntnisse, die ich dann habe über bestimmte Szenarien, die von mir abverlangen, mich hineinzuversetzen?

Schwierig ist der Schritt von der ego- zur allozentrischen Position auf jeden Fall. Auch schon in ganz alltäglichen Situationen ist diese Anforderung sehr hoch. Deswegen ist hier die Funktion des Anderen im Sinne eines Korrektivs aber so wertvoll. Ein Gegenüber kann uns darauf aufmerksam machen, dass wir etwas falsch verstanden habe, aus diesen und jenen Gründen, diese Verständnishilfe hat man bei der Beschäftigung mit einem Gedankenexperiment nicht. Ein Gedankenexperiment spricht ja nicht zu einem zurück. Es hängt natürlich auch damit zusammen, welche Frage gestellt wird durch das Gedankenexperiment, wenn man sich in so ein Szenario hineindenkt. Man wird ja auch in eine bestimmte Richtung gelenkt durch die Frage, die man gewissermaßen als Proband gestellt bekommt, also etwa: „Wie würdest Du dich in dieser Situation entscheiden?“. Aber das Grundproblem, dass das mehr mit einer bestimmten Einstellung zu tun haben könnte als mit einem möglichen Verstehens-Erfolg, das ist immer präsent und es geht eben darum, sich diese Schwierigkeit möglichst transparent zu machen. Vielleicht könnte man ja auch sagen, das Gedankenexperiment ist ein paradigmatisches Konstrukt, was dieses Problem des Überganges von der ego- zur allozentrischen Perspektive bewusst macht.

Frage: Ich hatte den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Theorie der Perspektivübernahme die Gedankenexperimente in einer gewissen Hinsicht anthropologisieren oder existentialisieren, in der Form, dass Sie zum Beispiel den Fall Mary nehmen im Sinne des Sich-Einfühlens in eine Person, die keine Farben sehen kann. Dann kann man ja, was Sie auch gesagt haben, umfungierend Variationen daran anschließen: Was heißt es dann, Farben zu sehen? Welche Farben sehen wir? Warum muss es Sehen sein, und nicht Hören? Sie ermöglichen es, durch die eher psychologische Frage nach der Perspektivübernahme, in einen Verstehensprozess einzusteigen, der über das hinaus geht, was das Gedankenexperiment eigentlich nur leisten möchte – nämlich in diesem Fall den Physikalismus zu widerlegen. Bei dem Trolley-Problem fand ich es ganz schön, dass Sie da ebenfalls empathisch relevante Dimensionen aufgeführt haben, die häufig zu kurz kommen. Meistens geht es bei diesen Gedankenexperimenten ja nur darum, den Utilitarismus zu plausibilisieren und Intuitionen durchzuspielen. Durch die dramatische Komponente, auf die Sie hinweisen, bekommt das Gedankenexperiment auch nochmal eine ganz andere Dimension, eine narrative Anreicherung. Diese narrative Anreicherung führt zu einer existentiellen Erfahrung, die über die eigentliche Widerlegungsfunktion des Gedankenexperiments hinausgeht und zu einer existentiellen Erfahrung führt. Möglicherweise ist dies ja auch ein entscheidender Beitrag der Theorie der Perspektivübernahme für die Philosophie über Gedankenexperimente.

Die existentielle Qualität, auch schon die fantasierte, kann sehr bedrückend sein. Gerade in dem Trolley Problem kann man ganz abstrakt fragen, ist es besser eine oder zehn Personen umzubringen, wenn man keine andere Option hat. Und wenn man sich da narrativ hineinversetzt, hat man ein Fantasieleiden. Schon in diesem Fantasieleiden kann ein Unbehagen aufsteigen, was die Beurteilung anders ausfallen lässt. Selbst wenn man überzeugter Utilitarist ist, und sagt selbstverständlich ist es besser, wenn nur eine Person anstelle von zehn zum Opfer fällt. Das kann ja abstrakt befürwortet werden. Dann kommt es wieder auf die individuellen Faktoren an: Wie sehr ist das Vorstellungsvermögen ausgeprägt, wie sehr beeinflusst einen das guttural? Das ist ein existentieller Unterschied.

Frage: Also wenn wir uns die Ethik genauer angucken, wo dieses Fremdverstehen -zentral ist, dann stoßen wir ja schnell auf gewisse Probleme. Denn die Grenzen des Fremdverstehens sind ja eventuell schon beim Versuch erreicht, sich in Tiere hineinzuversetzen. Die Frage ist also, wo hört das Verstehen auf? Auch fremde und weit entfernte Erdbewohner sollten sicherlich eingeschlossen sein, oder auch andere Wesen, aber man wird sicherlich schnell an Grenzen stoßen. Wie sehen Sie das?

In Bezug auf die Frage der Grenzen des Fremdverstehens scheint es mir zunächst wichtig, erstmal einen Schritt zurück zu gehen und zu fragen, was Mitleid eigentlich, im Spektrum der Empathiephänomene genau bezeichnet. Es zeigt sich, dass es eine mögliche Form dessen ist, was ich hier jetzt affektiv-emotionale Empathie genannt habe, aber nur die partizipative Form. Man sieht jemanden leiden und leidet am Leiden des anderen. Häufig wird das verknüpft mit so einem altruistischen, einem helfenden Impuls. Also es geht dann nicht nur um die Empfindung, sondern auch darum, die Regung in eine Handlung zu übersetzen, die dem Anderen zugutekommt. Das ist aber sozusagen in meinem Blumenstrauß nur eine Blume aus dem Empathiespektrum. Das reicht aus meiner Sicht nicht, um eine Ethik zu begründen. Man braucht auch die kognitiven Dimensionen der Empathie, um darüber hinauszukommen. Denn es ist doch sehr unterschiedlich, welche Entitäten man sonst als Korrelate der affektiven Empathie noch in Betracht zieht. Manche Menschen würden sagen bei einem Fisch kann ich es mir noch recht gut vorstellen, der hat so einen Körper, Blutkreislauf und so weiter, bei einer anderen Entität kann ich es mir weniger gut vorstellen, also kommen die nicht mehr in Betracht für meine ethischen Erwägungen. Wenn das auf dieser Ebene stehen bleibt ist das für die Begründung ethischen Handelns aber natürlich zu wenig und kontingent.

Frage: Vorhin gab es ja die Idee, dass man bei den Trolley-Cases um ein moralisches Urteil zu generieren schon allozentrisch-transpositiv unterwegs sein muss, also dass man diese Ebene ansteuern muss. Man kann aber natürlich auch den anderen Weg gehen: Das Ziel wäre dann eigentlich nicht, sich in die Person hineinzuversetzen, sondern das Ziel wäre, möglichst weit zu abstrahieren. Wie sollte man sonst in Trolley-Fällen entscheiden, wenn man sehr wenig über die andere Person weiß? Also auch das wäre ein Weg zu einem moralischen Urteil. Da würde mich interessieren, was Ihre Meinung wäre, was Ihre Kartographie beitragen könnte, ob so solche Abstraktionsbewegungen miterfasst werden könnten, oder ob das dann ein ganz anderes Vorgehen wäre?

Ich weiß nicht ob das überhaupt gelingen kann, davon zu abstrahieren, denn immerhin wird ja vom Experiment gefordert, dass jemand den Hebel betätigt, und dieser jemand wird sich ja vom Probanden identifizierend vorgestellt. Sonst bräuchte man ja das ganze bildhafte Szenario gar nicht aufzubauen. Ist es also möglich, die Ebene der Empathie ganz ausblenden? Man könnte ja zum Beispiel sagen, es handelt sich um einen Roboter, der keine Gefühle hat, der betätigt dann den Hebel. Kämen wir in diesem Fall ohne die Dimension des Fremdverstehens aus? Ich bin ja trotzdem als Proband des Gedankenexperiments derjenige, der die Entscheidung an den Roboter vermittelt, das heißt, der bleibt nur ein nur ausführendes Organ von mir. Da kann man sich dann wieder die Frage nach der agency bei zwischenmenschlichen Akteuren fragen, wie Latour es etwa prominent getan hat. Aber die Frage bleibt bestehen: Helfen uns Abstraktionen von menschlichen Personen, um von unserer eigenen egozentrischen Perspektive, die aufgeladen ist mit all diesen Gefühlszuständen, weg zu kommen? Was würden Sie sagen? Man könnte die Fragen, die von Gedankenexperimenten aufgeworfen werden, ja auch rein propositional ohne bildhaftes Szenario stellen. Was trägt eigentlich diese Ausschmückung oder dieses Bildhafte zur Aussagekraft der Gedankenexperimente bei?