„Indeed, when the topic is thought experiments, it is hard to say at what point epistemology and methodology end and psychology begins.”1
Etwa seit der Jahrtausendwende hat sich ein neuer methodischer Zugang zur Philosophie herausgebildet, der nach Meinung der einen das Fach bereichert und nach Meinung der anderen die Philosophie gründlich missversteht: die experimentelle Philosophie. Kurz gesagt untersucht sie klassische philosophische Fragen mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften.2 Auch wenn die experimentelle Philosophie als Methode zunächst vor allem auf Fragen der theoretischen Philosophie bezogen wurde – ihr Anfang wird oft in einer vielbeachteten Studie zum Wissensbegriff3 gesehen – wurde der empirische Zugang inzwischen auf alle Bereiche der Philosophie angewendet, und mithin auch auf die Ethik.
Die experimentelle Ethik4 untersucht mit den Methoden empirischer Wissenschaften – vor allem der Moralpsychologie – Fragen der Moralphilosophie. Sie weist über das gängige Maß der Nutzung von Empirie5 hinaus: Zum einen methodisch, nämlich durch den Versuch, selbst ethisch relevante empirische Erkenntnisse zu generieren, etwa durch Überprüfung empirischer Prämissen oder Präsuppositionen in Moraltheorien oder moralphilosophischen Argumenten; zum anderen, indem sie die Untersuchungsgegenstände auf das ethische Denken, Entscheiden und die ethische Theoriebildung ausweitet. Sie ist also der experimentelle Zweig der Ethik, der empirische Daten erhebt, die in moralische oder moralphilosophische Entscheidungen einfließen. Eine Besonderheit liegt darin, dass sie empirische Daten auch über ebendiese Entscheidungen zu generieren versucht, etwa psychologische oder situative Bedingungen einer moralischen Entscheidung. Die so gewonnenen Daten können anschließend ihrerseits Eingang in die Theoriebildung finden, und zwar möglicherweise auf einer philosophisch interessanten Ebene, die über die Anwendungsebene hinausreicht.6
Ein signifikanter Teil der experimentellen Ethik ist der Untersuchung der Zuverlässigkeit bestimmter moralischer Intuitionen gewidmet.7 So wurden in etlichen Studien demographische und kognitive Einflüsse auf moralische Intuitionen festgestellt, obwohl diese Faktoren weithin als moralisch irrelevant angesehen werden.
Hier einige der untersuchten demographischen Faktoren: Es konnten Gender-Unterschiede in Bezug auf die bekannten Trolley-Fälle nachgewiesen werden.8 Andere Forschungsgruppen konnten zeigen, dass Männer eher zu charakteristischerweise konsequentialistischen Intuitionen neigen.9 Sie sind also eher als Frauen der Meinung, dass es moralisch zulässig ist, einen Menschen zu opfern, um eine größere Anzahl an Menschenleben zu retten. Diese Erkenntnis wird von einer großen Metaanalyse unterstützt.10 Außerdem zeigen sich Varianzen je nach Persönlichkeitsmerkmalen: Es konnte gezeigt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen Empathievermögen und charakteristischerweise konsequentialistischen Intuitionen gibt: wer in den Trolley-Fällen charakteristischerweise konsequentialistische Intuitionen äußert, hat mit einiger Wahrscheinlichkeit ein geringeres Empathievermögen als diejenigen, die charakteristischerweise deontologische Intuitionen äußern.11 Ferner konnten kulturelle Varianz nachgewiesen werden: So reagieren US-amerikanische, russische, chinesische und britische Testpersonen unterschiedlich auf Trolley-Fälle.12
Und hier einige der untersuchten kognitiven Faktoren: Es konnten Reihenfolge-Effekte nachgewiesen werden, also die Veränderung der Intuitionen mit der Reihenfolge, in der den Testpersonen zwei oder mehr Fälle präsentiert werden. Vor allem in Trolley-Fällen konnte eine Vielzahl solcher Effekte nachgewiesen werden.13 Ferner scheint das Framing, also die Art der Darstellung bzw. Formulierung eines Sachverhalts großen Effekt auf moralische Intuitionen zu haben. So konnte etwa gezeigt werden, dass die Intuitionen von Testpersonen je nachdem unterschiedlich ausfallen, ob die Trolley-Fälle als Situationen beschrieben wurden, in denen eine Person „gerettet“ werden kann oder als solche, in denen fünf Personen „getötet“ werden (obwohl beide beschriebenen Situationen exakt gleich sind).14 Solche Framing-Effekte scheinen verstärkt bei weiblichen Testpersonen aufzutreten.15 Ähnliche Effekte wurden nachgewiesen für persönliche und unpersönliche Formulierungen16 sowie in Abhängigkeit von den Namen, die in den Szenarien vorkamen: Die Intuitionen sind andere, wenn die Namen typischerweise mit kaukasischen Amerikanerinnen als wenn sie typischerweise mit Afro-Amerikanerinnen verbunden werden.17
Diese Beispiele der experimentellen Nutzung der Trolley-Fälle illustrieren die Tatsache, dass sich die experimentelle Philosophie auf philosophische Gedankenexperimente bezieht. Dies geschieht sogar derart häufig, dass Fiery Cushman die Trolley-Fälle die „lingua franca“ der Moralpsychologie nennt.18 Auch wenn der Befund eindeutig ausfällt, stellt sich aber die Frage, wie diese Bezugnahme aussieht. Schließlich ist die Verbindung zwischen experimenteller Philosophie und Gedankenexperimenten alles andere als offensichtlich, werden doch philosophische Gedankenexperimente in der analytischen Philosophie verbreitet als apriorische Methode verstanden, während die experimentelle Philosophie sich durch einen empirischen Zugang zu philosophischen Fragen auszeichnet. Interessanterweise bekräftigen zwar zwei thematisch einschlägige und sehr kluge Übersichtsartikel – beide sind „Thought Experiments and Experimental Philosophy“ betitelt – den Befund, dass sich die experimentelle Philosophie zentral auf philosophische Gedankenexperimente bezieht, gehen aber nicht der Frage nach, worin diese Bezugnahme besteht.19 Diesem Desideratum will ich im Folgenden nachgehen, wobei ich mich aus Platzgründen auf die Ethik konzentriere.
Um die aufgeworfene Frage zu beantworten, werde ich zunächst in aller Kürze erklären, wie Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften genutzt werden und wie in der Ethik (Abschnitt 2), bevor ich genauer auf die Funktionen von Gedankenexperimenten in der Ethik eingehe (Abschnitt 3). Ich werde sodann zeigen, dass es eine weitere Art ethischer Gedankenexperiments gibt, die sich durch ihren weiten Anwendungsbereich auszeichnen (Abschnitt 4). Erst dann werde ich auf die experimentelle Ethik zurückkommen und verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, wie experimentelle Ethik philosophisch relevant sein kann (Abschnitt 5). Abschließend kritisiere ich die bisher fast ausschließliche Ausrichtung der experimentellen Ethik an nur einer Funktion einer Art von Gedankenexperimenten und plädiere für eine Ausdehnung der Forschungen (Abschnitt 6).
In den Naturwissenschaften werden Gedankenexperimente mitunter genutzt, weil eine tatsächliche Durchführung des Experiments (noch) nicht möglich ist. Sie werden meist mit dem Ziel konstruiert, die Überzeugungen einer Adressatin zu ändern oder zu bestätigen. Das Ziel soll erreicht werden, ohne dass die geschilderten Experimente tatsächlich durchgeführt werden.20 Das bloße Nachdenken über den Sachverhalt soll genügen. Die fehlende tatsächliche Durchführung stellt für naturwissenschaftliche Gedankenexperimente allerdings ein epistemisches Defizit dar. Für Naturwissenschaftlerinnen wäre es epistemisch wertvoll, könnten sie die Gedankenexperimente tatsächlich durchführen.21
Die Nutzung von Gedankenexperimenten in der Ethik ist dem nur teilweise ähnlich. Eine tatsächliche Durchführung ethischer Gedankenexperimente – man denke nur an die Trolley-Fälle oder Thomsons Geiger – ist zwar oft unmöglich, weil die vorgestellten kontrafaktischen Szenarien („Experimente“) in dem Sinne unrealistisch sind, dass sie nicht durchgeführt werden können. Andere – man denke an ticking bomb-Szenarios oder an das Brett des Karneades – wären hingegen durchaus durchführbar. In diesem Sinne sind sie also realistisch. Eine tatsächliche Durchführung wäre allerdings forschungsethisch nicht vertretbar.
Aber es sind weder ein Mangel an Realismus noch forschungsethische Gründe, welche die Nutzung von Gedankenexperimenten in der Ethik motivieren. Vielmehr nutzen Philosophinnen Gedankenexperimente, weil die tatsächliche Durchführung der Experimente nichts zeigen würde, was für die Moralphilosophie von Interesse wäre. Wie die in den Trolley-Fällen beschriebenen Situationen moralisch zu bewerten sind, ergibt sich eben nicht allein daraus, dass wir tatsächlich jemanden von einer Brücke schubsen oder die gesamte Menschheit mit einer Bombe bedrohen. Wie in den Naturwissenschaften werden solche Gedankenexperimente in der Ethik meist ohne den Anspruch konstruiert, dass sie tatsächlich durchgeführt werden; das bloße Nachdenken über den Sachverhalt oder gar bloße Intuitionen dazu sollen genügen. Anders als in den Naturwissenschaften stellt die fehlende tatsächliche Durchführung für ethische Gedankenexperimente aber normalerweise kein epistemisches Defizit dar.
Wenn dem aber so ist, mit welchem Ziel werden in der Ethik dann Gedankenexperimente genutzt? Georg Brun unterscheidet drei Funktionen ethischer Gedankenexperimente, nämlich eine epistemische, eine illustrative und eine heuristische.22
Die epistemische Funktion bezeichnet das Ziel der Überzeugungsänderung bzw. –bestätigung. Die gedankliche Durchführung eines epistemischen Gedankenexperiments soll Gründe liefern, die für oder gegen eine moralische Aussage, ein ethisches Prinzip oder eine ethische Theorie sprechen. Das Nachdenken über die Varianten der Trolley-Fälle soll bspw. Gründe gegen den ethischen Utilitarismus liefern („Man darf doch niemanden von einer Brücke schubsen, um andere zu retten!“), während das Nachdenken über Thomsons Geiger Gründe dafür liefern soll, dass Abtreibung auch dann moralisch erlaubt sein kann, wenn dem Fötus ein Lebensrecht zugestanden wird. Die Überzeugungsänderung bzw. -bestätigung wird zwar oft als die wichtigste Funktion ethischer Gedankenexperimente angesehen,23 aber auch die illustrative und die heuristische Funktion sind durchaus verbreitet.
In der Ethik sollen illustrative Gedankenexperimente eine Aussage, ein Prinzip oder eine Theorie nachvollziehbarer machen, also deren Verständnis erleichtern. In diesem Sinne hat etwa Peter Singer sein Teich-Gedankenexperiment entwickelt: Dass man ein Kind, das in Gefahr ist, in einem Teich zu ertrinken, rettet muss, wenn das ohne erhebliche Eigengefährdung möglich ist, auch wenn dies den teuren Anzug oder die neuen Schuhe ruinieren würde, ist so offensichtlich, dass Singer diese Rettungspflicht einer weniger offensichtlichen Pflicht gegenüberstellen kann, nämlich der, vom Hungertod bedrohten Kindern in der „dritten Welt“ zu helfen, obwohl dies einen Teil des disponiblen Einkommens der Bewohnerinnen der „ersten Welt“ kosten würde. Dieser Vergleich zweier Szenarien soll nicht selbst einen Grund liefern, Geld zu spenden. Er soll vor allem Singers Utilitarismus illustrieren, der wiederum Gründe liefert, Geld zu spenden.24
Anders als die epistemische und die illustrative ist die heuristische Funktion ethischer Gedankenexperimente ergebnisoffen. Wenn Gedankenexperimente heuristisch genutzt werden, dann sollen sie eben nicht Gründe für oder gegen eine Theorie liefern oder sie illustrieren. Vielmehr sollen sie helfen, eine Aussage, ein Prinzip oder eine Theorie zu testen. Wie jede Leserin von Judith Thomson oder Frances Kamm leidvoll erfahren kann, werden bspw. die Trolley-Fälle exzessiv genutzt, um bestimmte Formulierungen von Prinzipien zu testen oder auf bisher nicht beachtete Faktoren zu stoßen, die sich als moralisch relevant herausstellen könnten. Dafür werden unzählige Varianten der Fälle gebildet und intuitive Reaktionen darauf getestet, was das Lesevergnügen – bei aller Scharfsinnigkeit der Autorinnen – mitunter arg schmälert.
Alle bisher genannten ethischen Gedankenexperimente funktionieren insofern ähnlich wie Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften, als sie auf eine bestimmte Aussage, ein bestimmtes Gesetz bzw. Prinzip oder auf eine bestimmte Theorie zielen und diese, je nach Funktion, bestätigen oder unterminieren, illustrieren oder testen sollen.25 So soll Singers Teich-Gedankenexperiment etwa den Utilitarismus illustrieren. Es kann schwerlich genutzt werden, um andere Moraltheorien zu motivieren. Auch Thomsons Geiger kann schwerlich genutzt werden, um eine migrationsethische Position zu stützen.
Es gibt allerdings eine Art ethischer Gedankenexperimente, die meines Wissens weder in den Naturwissenschaften noch in der theoretischen Philosophie eine Entsprechung hat, nämlich Gedankenexperimente, die in Bezug auf eine Vielzahl von Aussagen, Prinzipien oder Theorien genutzt werden können. Sie haben zwar die gleichen Funktionen wie die anderen ethischen Gedankenexperimente, können also epistemisch, illustrativ und heuristisch genutzt werden, aber ihr Anwendungsbereich ist deutlich größer. Das wohl bekannteste ethische Gedankenexperiment dieser Art ist der Rawls’sche Schleier des Nichtwissens. Dem nah verwandt ist die Idee eines unparteiischen Beobachters, wie sie spätestens seit Adam Smith in der Moralphilosophie diskutiert wird.26 Diese Gedankenexperimente wurden zwar ursprünglich vor einem gewissen Theoriehintergrund entwickelt und hatten insofern ganz bestimmte Funktionen, weswegen bspw. Brun den Schleier keiner seiner drei anderen Funktionen zuordnet, sondern eine vierte (nicht näher erläuterte „theorieimmanente“) Funktion einführt.27 In Anlehnung an Dieter Birnbacher schreibt auch Daniel Cohnitz dem Schleier eine Sonderfunktion zu: er solle helfen, die Qualität bestimmter Normen zu evaluieren.28
Anstatt anlassbezogen für einzelne Gedankenexperimente Sonderfunktionen zu schaffen, schlage ich vor, bei den drei Funktionen zu bleiben und diese Art ethischer Gedankenexperimente über ihren weiten Anwendungsbereich von anderen Arten abzugrenzen. Zwar hat John Rawls den Schleier wohl zu Zwecken der Illustration seiner abstrakten Argumente für bestimmte Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit nutzen wollen (er sprach von einem „device of representation“29, doch hat sich die Idee des Schleiers seither von Rawls‘ ursprünglicher Nutzung emanzipiert.30 Heute wird diese Idee des Schleiers auf alle möglichen Fragen der Ethik und der politischen Philosophie angewendet, und zwar fast immer mit epistemischen Zielen.31 Auch in der generellen Literatur zu Gedankenexperimenten wird dem Schleier vor allem eine epistemische32, manchmal auch eine heuristische Funktion33 zugeschrieben. Es besteht also kein Grund, eine besondere, vierte Funktion anzunehmen.
Das Besondere am Schleier, am unparteiischen Beobachter und anderen Gedankenexperimenten dieser Art34 scheint also nicht in ihrer jeweiligen Funktion zu liegen, sondern darin, dass sie dazu einladen, eine bestimmte Perspektive einzunehmen: Sie sollen helfen, den Standpunkt der Moral einzunehmen; und das tun sie, indem sie Situationen schildern, deren Bedingungen Unparteilichkeit sicherstellen sollen.35 Aus dieser Perspektive kann man alle möglichen Aussagen, Prinzipien und Theorien epistemisch, illustrativ oder heuristisch erschließen. Man kann den Schleier nutzen, um Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit zu untermauern; man kann damit aber auch bestimmte Positionen in der Migrationsethik, der intergenerationellen Gerechtigkeit oder der Bioethik zu unterminieren oder zu motivieren. Insofern haben Gedankenexperimente dieser Art einen größeren Anwendungsbereich als andere ethische Gedankenexperimente.
Es gibt also zumindest zwei Arten ethischer Gedankenexperimente – jene mit engem und jene mit weitem Anwendungsbereich – und sie haben grundsätzlich die gleichen drei Funktionen, sie werden epistemisch, illustrativ oder heuristisch genutzt.
Nun, da wir ein besseres Verständnis der Arten und Funktionen ethischer Gedankenexperimente haben, können wir endlich wieder auf die Frage zurückkommen, wie sich die experimentelle Philosophie auf ethische Gedankenexperimente bezieht. Es gibt mehrere Möglichkeiten dieser Bezugnahme.
Zunächst könnte man sie darin sehen, dass Experimentalphilosophinnen empirisch untersuchen, welche Intuitionen Testpersonen zu klassischen ethischen Gedankenexperimenten haben. Schließlich berufen sich Philosophinnen oft direkt auf ihre philosophischen Intuitionen und gehen davon aus, dass diese von der Leserin geteilt werden. Experimentelle Philosophinnen können also Daten darüber erheben, wie verbreitet etwa Kamms Intuitionen zu den Trolley-Fällen tatsächlich geteilt werden.
Diese Art der Untersuchung wäre dem Vorgehen in den Naturwissenschaften nicht ähnlich: Wenn in den Naturwissenschaften ein Gedankenexperiment tatsächlich durchgeführt wird, dann soll gezeigt werden, was tatsächlich der Fall ist. Bei der tatsächlichen Durchführung ethischer Gedankenexperimente ginge es hingegen lediglich darum, wie verbreitet Intuition geteilt werden, nicht darum, was tatsächlich moralisch richtig oder falsch ist. Insofern ist es nicht überraschend, dass sich Beispiele dieser Art empirischer Untersuchungen ethischer Gedankenexperimente vor allem in der Moralpsychologie und in der Verhaltensökonomik finden und weniger in der experimentellen Ethik.36
So haben Moralpsychologinnen etwa mit Virtual Reality-Technologien untersucht, wie Testpersonen in den Trolley-Fällen tatsächlich reagieren.37 Und in der Verhaltensökonomik gibt es eine Reihe von Untersuchungen dazu, welche Gerechtigkeitsprinzipien Testpersonen hinter einem Schleier tatsächlich wählen würden.38 Diese Untersuchungen sind natürlich höchst interessant,39 aber sie fallen üblicherweise nicht in den Bereich der experimentellen Ethik, weil sie nicht direkt philosophische Fragen beantworten.
Der experimentelle Teil der experimentellen Ethik, sofern sie sich auf Gedankenexperimente bezieht, besteht vielmehr darin, dass die Praxis der gedanken-experimentellen Beschäftigung mit einem philosophischen Sachverhalt empirisch untersucht wird. Man könnte also meinen, die experimentelle Ethik verhielte sich zur traditionellen gedanken-experimentellen Arbeit etwa so wie die empirische Wissenschaftssoziologie oder Wissenschaftspsychologie zu den (Natur-)Wissenschaften. Auch das wäre aber ein Missverständnis. Schließlich handelt es sich bei der experimentellen Ethik – nach verbreitetem Selbstverständnis – nicht um einen rein deskriptiven Blick von außen auf die Ethik, sondern um eine empirische Methode, mit der genuin ethische Fragen beantwortet werden sollen.
Der hauptsächliche Beitrag der experimentellen Ethik scheint eher indirekter Natur zu sein: Wie die oben genannten Studien zu demographischen und kognitiven Einflüssen auf moralische Intuitionen in Trolley-Fällen zeigen, ist ein guter Teil der experimental-philosophischen Arbeit einem „negativen Programm“40 verschrieben. Es werden darin Fehler und Biases in Bezug auf philosophische Intuitionen herausgearbeitet und diskutiert, welche philosophische Relevanz diese Erkenntnisse haben. Diese Relevanz kann auf mehreren Ebenen bestehen:
Sie könnte darin liegen, dass bestimmte Intuitionen in Trolley-Fällen unzuverlässig sind undalso bei der ethischen Theoriebildung unberücksichtigt bleiben sollten; inwiefern das philosophisch relevant ist, hängt von der jeweils favorisierten moralepistemischen Theorie ab.41
Auf dieser Basis können ziemlich weitreichende normative Argumente entwickelt werden. Um dies anhand eines viel diskutierten Beispiels zu illustrieren: Joshua Greene hat intuitive Reaktionen auf die Trolley-Fälle empirisch untersucht, u.a. mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT).42 Seine Arbeitshypothese bestand aus drei Teilen. Erstens wäre die Intuition im Brücken-Fall43 leichter mittels der deontologischen Tradition innerhalb der Ethik zu erklären, während im Weichensteller-Fall konsequentialistische Theorien eine größere Erklärungskraft hätten44. Die Intuitionen im Brücken-Fall sind also „charakteristischerweise“ deontologisch, jene in dem anderen Fall „charakteristischerweise“ konsequentialistisch. Zweitens wären im Brücken-Fall vor allem die Hirnregionen aktiv, die man mit Emotionen in Verbindung bringt; bei dem charakteristischerweise konsequentialistischen Fall sollten hingegen eher die mit Rationalität verbundenen Hirnareale aktiv sein. Drittens würden die charakteristischerweise konsequentialistischen Urteile längere Zeit in Anspruch nehmen als die charakteristischerweise deontologischen.
Greene meint, dass seine Experimente die zweite und dritte Hypothese bestätigt haben.45 Die Erklärung dafür zieht er aus einer wichtigen Unterscheidung: charakteristischerweise deontologische Urteile fielen in solchen Situationen, die er „up close and personal“ nennt, was wiederum evolutorisch begründet sei. Unsere Vorfahren waren demnach vor allem in solchen Situationen in Gefahr, die mit direkten persönlichen Beziehungen im Nahbereich zu tun hatten. Greene bezeichnet dies auch bildhaft als „me hurt you“, weil es um eine direkte, gewollte Handlung einer Person geht, die auf ein identifizierbares Individuum trifft und dieses körperlich verletzt. Es habe in der Menschheitsgeschichte hingegen lange Zeit keine unpersönlichen, indirekten oder vermittelten Gefahren gegeben. Deswegen hätten sich die charakteristischerweise deontologischen Urteile als quasi automatische und damit schnelle emotionale Reaktionen in den Menschen ausgebildet. Dass die charakteristischerweise konsequentialistischen Urteile mehr Zeit in Anspruch nehmen, liege daran, dass dort die erste emotionale Reaktion – also die deontologische – rational überwunden werden müsse.
Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Argument, dass charakteristischerweise deontologische Intuitionen zu Trolley-Fällen keine normative Kraft haben, weil sie durch moralisch irrelevante Faktoren zustande kommen.46 Diese irrelevanten Faktoren sind eben jene, die eine Situation „up close and personal“ machen. Die argumentative Strategie beschreibt Greene so: „Interessante wissenschaftliche Tatsachen über Moralpsychologie können uns zu relativ interessanten normativen Konklusionen führen, wenn sie mit relativ uninteressanten normativen Annahmen kombiniert werden. That’s progress, powered by science.“47
Greene greift also auf Grundlage seiner empirischen Untersuchungen direkt in eine seit Jahrhunderten ohne klares Ergebnis geführte Debatte48 ein. Er will eine bestimmte Moraltheorie stützen, indem er Argumente für eine alternative Moraltheorie unterminiert.
Es könnte die philosophische Relevanz solcher Studien darin liegen, dass ganze Gruppen von Intuitionen oder gar die ganze Praxis des Intuierens als unzuverlässig ausgewiesen werden, was die Rolle von Intuitionen in der Moralepistemologie ziemlich grundlegend angreifen würde.49
Ferner könnten Studien im Bereich der experimentellen Ethik dazu beitragen, Gelingensbedingungen für die Durchführung ethischer Gedankenexperimente zu erarbeiten (das wäre das „neutrale“ bzw. das „positive“ Programm“). Hier geht es darum eine Art „epistemisches Profil“50 für den Umgang mit philosophischen Intuitionen zu entwickeln, schließlich zeigen etliche Studien, dass philosophische Intuitionen auch ziemlich stabil und robust sein können.51 Hier seien nur zwei naheliegende Forschungsfelder angedeutet: Framing- und Reihenfolgeeffekte sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Wie das gelingt, wird man aber schwerlich am Schreibtisch herausfinden können. Die experimentelle Ethik bietet die dafür nötigen Methoden. Auch liegt ein gewisser psychologischer Realismus nahe: Ethische Gedankenexperimente dürften zuverlässiger sein, wenn man sich unter ihnen etwas vorstellen kann, und wenn verschiedene Menschen sich darunter relevant Ähnliches vorstellen.52 Die experimentelle Ethik kann dazu beitragen, herauszufinden, wie dies gelingen kann.
Es zeigt sich, dass Gedankenexperimente in der Ethik zwar ähnlich genutzt werden wie in den Naturwissenschaften, dass aber die tatsächliche Durchführung der Gedankenexperimente für die Ethik deutlich geringere Relevanz hat als für die Naturwissenschaften. Dementsprechend liegt die Nutzung von Gedankenexperimenten in der experimentellen Ethik auch nicht in der bloßen Durchführung der Gedankenexperimente. Stattdessen werden in der experimentellen Ethik möglichst viele (und möglichst diverse) Testpersonen gebeten, sich das Experiment vorzustellen, und es werden systematisch einzelne Faktoren manipuliert. Dementsprechend ist die philosophische Relevanz der Erkenntnisse auch indirekt, sie liegt oft im Bereich der Moralepistemologie oder der Metaphilosophie. Greenes Argument ist eines der wenigen, die direkt auf normativ-ethische Konklusionen abzielen.
Ferner zeigt sich, dass die experimentelle Ethik meines Wissens bisher ausschließlich die epistemische Funktion ethischer Gedankenexperimente in den Blick genommen hat. Bei Greene ist das offensichtlich. Aber auch alle anderen genannten Studien der experimentellen Ethik arbeiteten mit Fragen der epistemischen Art: „Wäre XY moralisch erlaubt/geboten/verboten?“ Antworten auf diese Fragen dieser Art werden so verstanden, dass sie bestimmte ethische Ansichten, Prinzipien oder Theorien stützen oder unterminieren. Und auch die indirekte philosophische Relevanz dieser Studien ist ausschließlich an der epistemischen Funktion von Gedankenexperimenten ausgerichtet. Es geht immer darum, wie zuverlässig ein bestimmter Erkenntnisweg ist.
Die experimentelle Ethik hat sich bisher nicht mit der illustrativen oder der heuristischen Funktion von Gedankenexperimenten befasst. Dabei scheint es mir eine interessante Frage zu sein, ob Singers Teich eine gute Illustration des Utilitarismus darstellt; ebenso, ob sich zwei Testpersonen unter den Varianten der Trolley-Fälle das gleiche vorstellen und welche Situationsfaktoren ihnen intuitiv als moralisch relevant erscheinen. Wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, wären die Methoden der experimentellen Ethik auch geeignet, die illustrative und die heuristische Funktion ethischer Gedankenexperimente zu untersuchen.
Außerdem hat sich die experimentelle Ethik bisher fast ausschließlich an Gedankenexperimenten mit engem Anwendungsbereich ausgerichtet (Trolley, Teich, Geiger usw.), obwohl die Methoden der experimentellen Ethik auch geeignet sind, die epistemische, illustrative und die heuristische Funktion von Gedankenexperimenten mit weitem Anwendungsbereich zu untersuchen (Schleier, unparteiischer Beobachter usw.).53 Die philosophische Relevanz dürfte bei letzteren mehr auf die konkreten Gedankenexperimente bezogen sein als bei ersteren. Wenn sich in Studien bspw. herausstellt, dass die Reaktionen von Testpersonen auch hinter dem Schleier mit moralisch irrelevanten demographischen Faktoren variieren, scheint dies nicht nur nahezulegen, dass es ein metaphilosophisches Problem in Bezug auf Intuitionen gibt, sondern dass der Schleier kein geeignetes Mittel ist, um Unparteilichkeit herzustellen und so den moralischen Standpunkt zu approximieren. Wenn sich ferner zeigt, dass das Gedankenexperiment des unparteiischen Beobachters dafür besser geeignet ist, spräche das dafür, eher diesen zu nutzen als den Schleier.
Auch könnten solche Studien helfen, Gelingensbedingungen für Gedankenexperimente mit weitem Anwendungsbereich zu entwickeln, was philosophische Debatten um zu viel oder zu wenig Abstraktion in Gedankenexperimenten54 immens bereichern würde.
Es liegt also sehr nahe, dass die experimentelle Ethik ihr Betätigungsfeld erweitert. Dies wäre angesichts der Vielschichtigkeit des in den Studien ohnehin eingesetzten Mittels – den ethischen Gedankenexperimenten – naheliegend, also forschungspraktisch ökonomisch. Vor allem aber wäre es philosophisch in vielen Hinsichten potentiell relevant.
Norbert Paulo ist Vertretungsprofessor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Außerdem ist er Co-Leiter eines Forschungsprojekts („EMERGENCY-VRD“) an der Universität der Bundeswehr München. Dieses Projekt wird durch dtec.bw – Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr gefördert. dtec.bw wird von der Europäischen Union – NextGenerationEU finanziert.