Zum Status von Intuitionen in Gedankenexperimenten

Jakob Huber

“I’m not sure exactly from where [I picked it up], but it was just how people spoke when I went to school in the late 1980s and early 1990s, first at Oxford and then at Berkeley. People around me used to say things like ‘Intuitively, BLAH’, and I picked up that habit without thinking carefully about it. I suspect my own history in this respect isn’t atypical of philosophers of my generation”.1 Cappelen, Philosophy Without Intuitions, S. 58 .

Anhand seiner eigenen philosophischen Sozialisierung unterstreicht Herman Cappelen in seinem Buch Philosophy Without Intuitions auf eindrucksvolle Weise, wie sich die intuitionsbasierte Argumentation, einem „verbalen Virus“ gleich, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der anglophonen Philosophie „analytischer“ Prägung rasend ausgebreitet hat. Gerade in der praktischen Philosophie, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, spielen durch Gedankenexperimente evozierte Einzelfallurteile häufig eine unverzichtbare Rolle, wenn es darum geht, Sollenssätze zu bestätigen oder zu hinterfragen. Parallel dazu wird aber auch die Kritik am Gebrauch von Intuitionen zum Zwecke normativer Rechtfertigung immer lauter. Nicht zuletzt die experimentelle Philosophie weist uns darauf hin, dass intuitive Urteile sozial und historisch kontingente Produkte individueller Psychologie und kollektiver Lebensformen sind. Die epistemische Verlässlichkeit von Intuitionen sei höchstens vorläufig, so die Kritiker, und ihre Fähigkeit, höherrangige Prinzipien zu rechtfertigen, ernsthaft zu hinterfragen.

Welche Auswirkungen hat der Gebrauch von Intuitionen in Gedankenexperimenten, vor dem Hintergrund dieser Kritik, auf die Wahrheit oder Richtigkeit der zu rechtfertigenden normativen Prinzipien?2 Im Folgenden setze ich einen weit (und meta-ethisch offen) verstandenen Kognitivismus voraus, demzufolge normative Aussagen grundsätzlich „wahr“ oder „richtig“ sein können. In der Beantwortung dieser Frage gehe ich von der Beobachtung aus, dass Verfechter des Gedankenexperiments in der politischen Philosophie und Moralphilosophie in der Regel gar nicht bestreiten, dass Intuitionen lediglich eine vorläufige epistemische Autorität zugeschrieben werden kann. Sie bestehen jedoch darauf, dass diese Fehlbarkeit rechtfertigungstheoretisch aufgefangen oder wieder eingeholt werden kann, so dass wir uns auf die ein oder andere Weise in der Herleitung normativer Grundsätze weiterhin auf unsere Intuitionen über hypothetische Fälle berufen können. Diese Behauptung möchte ich im Folgenden zurückweisen, indem ich zeige, dass sich das Intuitionen innewohnende Geltungsdefizit notwendiger Weise auf die aus ihnen gewonnenen Prinzipien überträgt.

Das Argument entwickelt sich wie folgt. Ich stelle zunächst dar, welche Rolle Intuitionen in Gedankenexperimenten zugeschrieben wird und unterscheide verschiedene Möglichkeiten, Einzelfallurteile mit den darin verborgenen philosophischen Einsichten (in unserem Fall, normativen Grundsätzen) zu verknüpfen (Teil 1). Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Kritik scheidet die intuitionistische Rechtfertigungsmethode, der zufolge Intuitionen eine Art Anschauung sind, die als Rohdaten eine quasi-induktive Normbegründung ermöglichen, aus (Teil 2). Im Anschluss weise ich zwei weitere Begründungsmethoden zurück, die das Geltungsdefizit von Intuitionen anerkennen, aber aufzufangen versuchen. Der Kohärentismus (Teil 3) strebt ein „Überlegungsgleichgewicht“ zwischen Einzelfallurteilen und normativen Grundsätzen an, entbehrt jedoch – so meine Behauptung – einer Grundlage, auf der wir einzelne Urteile als besonders widerstandsfähig behandeln könnten. Und der Fundationalismus räumt zwar Grundsätzen geltungstheoretischen Vorrang vor Intuitionen ein, bedient sich dieser letztlich aber doch als epistemisches Werkzeug, um auf die gesuchten Grundsätze zu stoßen (Teil 4). Ich folgere, dass praktische PhilosophInnen intuitionsbasierten Gedankenexperimenten zwar nicht notwendiger Weise abschwören müssen, deren rechtfertigungstheoretische Kraft jedoch keinesfalls überschätzen dürfen.

1. Gedankenexperimente und Intuitionen

Ich möchte mit einigen erläuternden Bemerkungen beginnen. Wie bereits erwähnt, interessiert mich die Rolle von Intuitionen in Gedankenexperimenten. Unter einem Gedankenexperiment verstehe ich ein kontrafaktisches Szenario, das in eine gedankliche Entwicklung eingebettet ist.3 Vgl. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente – Eine Lese- Und Studienbuch, S. 17 . Dabei visualisieren oder spielen wir eine bestimmte Situation durch, die es als solche noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht gibt, und die eine bestimmte Frage aufwirft. Die Antwort auf diese Frage und die genaue Analyse des Falles, so die Annahme, helfen uns über das spezifische Szenario hinausgehende philosophische Erkenntnisse zu erlangen, deren Geltung zumindest teilweise unabhängig vom jeweiligen Einzelfallurteil ist. Gedankenexperimente dienen also in der Regel dazu, philosophische Theorien und Grundsätze als Ganze zu motivieren, belegen oder widerlegen.

Dieser allgemeinen Definition folgend, sind Gedankenexperimente natürlich keine methodische Innovation der Gegenwart, sondern im Grunde schon immer Teil der abendländischen Philosophie (man denke an Platons Höhlengleichnis, Descartes‘ Täuschergott oder der Naturzustand bei Hobbes oder Rousseau). Dennoch hat gerade die im 20. Jahrhundert aufkommende analytische Philosophie, bedingt auch durch ihre Orientierung an der naturwissenschaftlichen Methodik,4 Vgl. McDermott, „Analytical Political Philosophy“, S. 11-29 . das Gedankenexperiment zum zentralen argumentativen Instrument gemacht und ihm dadurch zu einer besonders herausragenden Stellung verholfen. Dem Bild vom „Labor des Geistes“ folgend,5 Bertram, Philosophische Gedankenexperimente – Eine Lese- Und Studienbuch, S. 9 . experimentieren PhilosophInnen in Gedanken auf der Basis eines narrativ entwickelten Versuchsaufbaus. Rawls’ Schleier des Nichtwissens, Nagels Vorstellung wie es ist, eine Fledermaus zu sein oder Putnams Vorstellung, bloß als Gehirn im Tank in einer Nährlösung zu liegen, sind Klassiker der analytischen Tradition.

Gedankenexperimente finden sich in nahezu allen Teilbereichen philosophischer Forschung wieder. In der theoretischen Philosophie dienen sie häufig dazu, Thesen und logische Zusammenhänge zu erklären oder Begriffe zu schärfen; wiederum kann es hierbei als ein Vermächtnis der frühen Analytischen Philosophie und des Logischen Positivismus gelten, dass das Definieren von philosophischen Grundbegriffen durch einzeln notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen weithin als philosophische Kernaufgabe betrachtet wird. Man denke etwa an das berühmte Gedankenexperiment, mit Hilfe dessen der (damals) weitgehend unbekannte Philosoph Edmund Gettier im Jahr 1963 auf der Basis eines einfachen Gedankenexperiments die in der Erkenntnistheorie weitverbreitete Definition von Wissen als wahre, gerechtfertigte Meinung problematisierte.6 Vgl. Gettier, „Is Justified True Belief Knowledge?“, S. 121-123 .

Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf den Kontext der praktischen Philosophie konzentrieren, wo Gedankenexperimente die explizit normative oder evaluative Funktion erfüllen, ein normatives Prinzip oder gar eine ganze Theorie zu bekräftigen oder zu problematisieren. Hierbei ist das Ziel, durch Veranschaulichung eines hypothetischen Szenarios spontan Werturteile zu erzeugen. In Judith Thomsons berühmtem „Trolley Problem“, zum Beispiel, sollen wir entscheiden, ob der Tod einer Person durch eine außer Kontrolle geratene Straßenbahn in Kauf genommen werden soll, um das Leben von fünf Personen zu retten.7 Vgl. Thomson, „The Trolley Problem“, S. 1395-415 .

Die spontanen Urteile, die solche Gedankenexperimente evozieren sollen, werden in der Regel als Intuitionen bezeichnet. Doch was genau sind Intuitionen überhaupt? Zunächst können wir festhalten, dass sie – ähnlich wie Überzeugungen – einen propositionalen Inhalt haben, also Einsichten oder Urteile über einen Sachverhalt (wie eine Handlung, eine Person oder ein Problem) artikulieren. Im Gegensatz zu einer Überzeugung spricht eine Intuition jedoch auf epistemisch basale, nicht-inferentielle Weise für die Wahrheit dieses propositionalen Inhalts.8 So etwa Grundmann, Horvath, und Kipper, Die experimentelle Philosophie in der Diskussion, S. 11 . Intuitionen sind also Einsichten oder Urteile, die ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes und damit etwa ohne bewusste Schlussfolgerungen, erlangt werden. Darüber hinaus wird ihnen häufig eine distinkte Phänomenologie, die eines „Bauchgefühls“ (gut feeling) zugeschrieben, was ihre Unmittelbarkeit und Eingebungshaftigkeit zusätzlich unterstreicht.

All dies lässt freilich offen, um welche Art von mentalem Zustand es sich bei einer Intuition genau handelt, oder was sie hervorbringt; diese hochumstrittenen Fragen hier zu beantworten, ist nicht mein Ziel.9 Für einen Überblick, siehe z.B. Grundmann, „The Nature of Rational Intuition and a Fresh Look at the Explanationist Objection“; Pust, „Intuition“. Wichtig ist zunächst einmal zu verstehen, dass Intuitionen die Antworten sind, die wir auf die vom Gedankenexperiment aufgeworfen Fragen geben (sollen). Einem von Daniel Dennett eingeführten Begriff folgend,10 Vgl. Dennett, Intuition Pumps and Other Tools for Thinking. fungieren die entwickelten fiktiven Szenarien daher als „Intuitionenpumpen“ (intuition pumps), welche die entsprechenden (in unserem Fall, moralischen oder politischen) Urteile evozieren oder klarstellen sollen. So merkt etwa Frances Kamm, eine prominente Verfechterin des Gedankenexperiments, in einem Interview an: „I don’t have a considered judgment about a case until I have a visual experience of it”.11 Voorhoeve, Conversations in Ethics, S. 22 ; meine Hervorhebung. Moralisch relevante Zusammenhänge, so der Gedanke, können überhaupt nur vor dem Hintergrund ihrer Visualisierung eingeordnet und bewertet werden.

Nun geht freilich niemand davon aus, dass Intuitionen an sich schon gültige oder wahre moralische Prinzipien darstellen. Dennoch aber ist der Grundgedanke, dass es eine enge Verbindung zwischen den beiden gibt oder wir sogar auf eine noch näher zu bestimmende Weise vom einen aufs andere schließen können. Intuitionen stellen gleichsam eine Brücke dar zwischen Einzelszenario und der allgemeineren philosophischen Einsicht oder dem normativen Grundsatz, der darin verborgen liegt und den wir uns, vom Gedankenexperiment ausgehend, zu formulieren in der Lage glauben. Grundsätzlich sind dabei zunächst einmal drei Arten vorstellbar, Intuitionen und allgemeinere normative Prinzipien in ein (rechtfertigungstheoretisches) Verhältnis zu setzen:

  1. Einzelne Intuition begründen, unterstützen und rechtfertigen normative Prinzipien in dem Sinne, dass sie für diese Evidenz liefern (die intuitionistische Methode)

  2. Einzelne Intuitionen und normative Prinzipien begründen, unterstützen und rechtfertigen einander gegenseitig (die kohärentistische Methode)

  3. Normative Prinzipien begründen, unterstützen und rechtfertigen einzelne Intuitionen (die fundationalistische Methode)

Bevor wir uns die einzelnen Methoden genauer ansehen, sollten wir uns vor Augen halten, worin die Attraktivität einer intuitionsbasierten Form der normativen Argumentation und Theoriebildung – ihren Verteidigerinnen zufolge – liegt: sie respektiert (und imitiert letztlich) die Art und Weise, wie gewöhnliche moralische Akteure überlegen, urteilen und argumentieren. In der Tat hätte ein moralischer Grundsatz oder eine Theorie, die vollständig quer stünde zu den tatsächlichen Urteilen der Akteure, welche sie befolgen sollen, wohl ein ernsthaftes (Motivations-) Problem. Es ist schwierig bis unmöglich, so zumindest die VerfechterInnen des Gedankenexperiments, jemandem von einem moralischen Grundsatz oder einer Regel zur überzeugen, ohne diese auf irgendeine Weise mit ihren bereits vorhandenen Überzeugungen zu verbinden. Und tatsächlich scheinen viele uns basal erscheinende moralische Normen – zum Beispiel, dass wir nicht töten oder Unschuldige bestrafen, dass wir Bedürftigen helfen oder unsere Versprechen halten sollen – tief in unseren Intuitionen verankert zu sein.

Auf der anderen Seite sieht sich das intuitionsbasierte Gedankenexperiment gerade in der praktischen Philosophie jedoch auch wachsender Kritik gegenüber. Häufig wird dabei in Frage gestellt, inwieweit auf der Grundlage einer hypothetischen Darstellung teils entrückter Szenarien überhaupt prägnante Ergebnisse gewonnen und letztlich tatsächliches Handeln in der realen Welt angeleitet werden kann.12 Siehe dazu Elster, „How Outlandish Can Imaginary Cases Be?“; Brownlee und Stemplowska, „Trapped in an Experience Machine with a Famous Violinist: Thought Experiments in Normative Theory“. Gerade in der politischen Philosophie steht diese Art der Kritik stellvertretend für ein wachsendes Unbehagen mit einer als zu idealisierend und abstrakt wahrgenommenen philosophischen Methodik, welche (der Vorstellung einer „angewandten Moralphilosophie“ gleich) im luftleeren Raum und vom Lehnstuhl aus politische Handlungen, Praktiken und Institutionen in einer Weise vorschreibt, die deren inhärenten Beschränkungen und Logiken ignoriert.13 So etwa der sogenannte „Realismus“ in der politischen Theorie, siehe Rossi und Sleat, „Realism in Normative Political Theory“.

Ich möchte diese Kritiklinie hier jedoch einklammern und mich spezifisch auf die Rolle von Intuitionen in Gedankenexperimenten konzentrieren. Eine Reihe von Kritikern meldet nämlich grundsätzliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von intuitionsbasierten Urteilen an, was folglich auch die aus Ihnen gewonnen Schlussfolgerungen auf wacklige Beine zu stellen droht. Die Sorge ist hier, dass unsere Intuitionen (oder zumindest einige von ihnen) sozial, historisch und kulturell kontingent sind, also sowohl von der Psychologie des urteilenden Individuums abhängen als auch von der Lebensform eines Kollektivs.

Mit der experimentellen Philosophie hat sich seit der Jahrtausendwende nicht zuletzt eine eigene philosophische Subdisziplin herausgebildet, die sich systematisch mit der Variabilität von Intuitionen zwischen verschiedenen Gruppen und Kulturen auseinandersetzt.14 Für einen guten Überblick siehe Grundmann, Horvath, und Kipper, Die experimentelle Philosophie in der Diskussion. In (tatsächlichen statt bloß gedanklichen!) Experimenten kann nämlich gezeigt werden, wie stark die ausgelösten Intuitionen von den psychologischen und sozialen Umständen (von Geschlecht, Alter, sozioökonomischem Status der Urteilenden bis zur Anordnung und dem affektiven Gehalt der vorgelegten Fälle) abhängen.15 Kritiker wie Peter Singer liefern eine genealogische Erklärung des Ursprungs vieler „unserer“ Intuitionen gleich mit. Für Singer sind diese Überbleibsel von “discarded religious systems, from warped views of sex and bodily functions, or from customs necessary for the survival of the group in social and economic circumstances that now lie in the distant past.”. Dies gibt zusätzlichen Anlass zur Vermutung, dass sie auf systematische Weise Vorurteile verkörperten oder verfestigen. Singer, „Sidgwick and Reflective Equilibrium“, S. 516 . So scheint etwa strenger Geruch das Verlangen nach Vergeltung und damit die intuitive Plausibilität retributiver Straftheorien aus der Sicht der Probanden zu erhöhen. Vertreter des so genannten Experimentellen Restriktionismus“ folgern aus Einsichten dieser Art, dass die Berufung auf Intuitionen über hypothetische Fälle in der philosophischen Argumentation – gerade wenn die Geltung der erzeugten Grundsätze nicht auf einen eng abgesteckten Kontext begrenzt bleiben soll – stark einzugrenzen ist.16 Siehe z. B. Weinberg und et al, „Normativität Und Epistemische Intuitionen“; Nichols und et al., „Metaskepticism: Meditations in Ethno-Epistemology“.

2. Intuitionismus

Was folgt daraus, wenn man Kritik dieser Art ernst nimmt (was ich im Folgenden tun möchte)? Die unmittelbarsten Auswirkungen scheint sie zunächst einmal auf die Erste der drei oben genannten Rechtfertigungsmethoden zu haben, den Intuitionismus. Dieser schreibt Intuitionen die größtmögliche epistemische Autorität zu und damit die grundlegendste Rolle hinsichtlich der Rechtfertigung normativer Prinzipien. Philosophiegeschichtlich wird der Gebrauch von Intuitionen tatsächlich eng mit dieser Methode und ihren prominenten Vertretern (von Platon über G.E. Moore und Kurt Gödel bis zu Gerald Gaus) assoziiert. Traditionaler Weise werden mit ihr zwei Behauptungen verknüpft. Erstens der Gedanke, dass Intuitionen Anschauungen eines intellektuellen Erkenntnisvermögens sind, das uns (auf mysteriöse Weise) Zugang zu moralischen Tatsachen verschafft. Sie sind gleichsam Wahrnehmung eines speziellen Organs, einer Art inneren Auges, durch das wir wahre, korrekte oder gerechtfertigte normative Prinzipien erkennen und so moralische Erkenntnis erlangen können.

Dies ermöglicht nun, zweitens, eine quasi-induktive Methode moralischer Theoriebildung. Intuitionen sind unsere Rohdaten, die „strict evidence“17 List und Valentini, „The Methodology of Political Theory“, S. 541 . für die Wahrheit der ihnen zugrunde liegenden moralischen Grundsätze liefern – analog zu der Art und Weise, wie eine naturwissenschaftliche Theorie induktiv durch empirische Beobachtung aufgebaut wird. Die Rolle intuitiver Urteile in der praktischen Philosophie entspricht somit der Rolle empirischer Beobachtungen in der Naturwissenschaft.18 List und Valentini, „The Methodology of Political Theory“, S. 541 . Diese Analogie hinkt aber gleich an mehreren Stellen. In der Naturwissenschaft muss sich selbst eine induktiv gebildete Theorie in der Folge auch deduktiv bewähren – sie kann nur als zufriedenstellend gelten, falls sie weitere empirische Beobachtungen korrekt vorauszusagen oder zu erklären in der Lage ist.19 Siehe z.B. Quine, „On Empirically Equivalent Systems of the World“. Aber was hieße es für eine normative Theorie, „korrekte“ normative oder evaluative Urteile nach sich zu ziehen? Wir können die Korrektheit unsere Intuitionen ja nicht daran messen, inwieweit sie der moralischen Realität „entsprechen“.

Desweiteren war die Implikation der oben artikulierten Kritik ja gerade, dass die Verlässlichkeit unserer normativen Urteile gegenüber der Verlässlichkeit unserer empirischen Urteile weit zurückfällt. Dabei ist nicht nur entscheidend, dass viele unserer Intuitionen kontingent sind hinsichtlich sozialer, historischer oder kultureller Umstände oder schlicht von der Präsentationsweise des relevanten Gedankenexperiments. Genauso gibt es Fälle, in denen wir gar keine oder nur sehr schwache Intuitionen haben, oder in denen sich verschiedene Intuitionen widersprechen. Kurz gesagt, unseren Intuitionen kann schlicht nicht dasjenige Maß an Verlässlichkeit zugeschrieben werden, welches eine solche Rechtfertigungsmethode voraussetzt.

Der Intuitionismus hält der erwähnten Kritik an der Verlässlichkeit unserer Intuitionen also kaum stand. Nun muss man hinzufügen, dass sich die Vorstellung, dass praktische PhilosophInnen, die auf der Basis von Intuitionen operieren und argumentieren, noch heute (oder sogar notwendiger Weise) zu einer Art des Intuitionismus bekennen, bei genauerem Hinsehen schnell als Karikatur erweist. Ein gutes Beispiel dafür ist Judith Jarvis Thomsons wegweisende (und eingangs erwähnte) Diskussion des „Trolley“-Problems,20 Vgl. Thomson, „The Trolley Problem“. die häufig als Beispiel herhalten muss für eine Methode, welche die Elemente einer moralischen Theorie induktiv auf der Grundlage gegebener Intuitionen zusammensetzt. Selbst Thomson stellt nach Einführung des ikonischen Gedankenexperiments unverzüglich die entsprechenden Intuitionen in Frage. Letztlich zielt ihr Argument gerade darauf ab, bestimmte Intuitionen zu problematisieren, indem sie mit unseren entgegenstehenden Urteilen über andere Fälle gegenübergestellt werden.

Auch Autoren, sie sich explizit mit den relevanten methodischen Fragen auseinandersetzen, bestreiten nicht, dass unsere Intuitionen problembehaftet sind. Jeff McMahan etwa geht davon aus, dass „no one supposes that all moral intuitions, or even all ‘considered moral judgments’, are correct. They are instead merely appearances (...), some of which, we recognize, are bound to be delusions”.21 McMahan, „Moral Intuitions“, S. 116 . Auf ähnliche Weise räumt Daniel McDermott ein, dass „the strength and reliability of our intuitions can vary considerably”.22 McDermott, „Analytical Political Philosophy“, S. 15 . Sie gestehen also zu, dass die epistemische Autorität von Intuitionen begrenzt ist: Obgleich ihnen eine gewisse vorläufige Glaubwürdigkeit sowie ein dementsprechender evidentieller Status zukommt, sind sie in keiner Weise unfehlbar, selbsterklärend oder -rechtfertigend.

Umso mehr überrascht es, dass dieselben Autoren, die Zugeständnisse solcher Art machen, zum Zweck der moralischen Theoriebildung sehr wohl weiterhin auf Intuitionen zurückgreifen. Nicht viele VertreterInnen der zeitgenössischen politischen Philosophie oder Moralphilosophie „analytischer“ Provenienz folgen radikalen Kritikern wie Singer, der dazu rät „to forget all about our particular moral judgments”.23 Singer, „Sidgwick and Reflective Equilibrium“, S. 516 . Stattdessen scheint die weitverbreitete Annahme zu sein, dass es möglich ist, unseren Intuitionen die epistemische Verlässlichkeit abzusprechen – und sie dennoch als vertrauenswürdige Wegweiser moralischen oder politischen Urteilens und Handelns zu bewahren. In anderen Worten, während kaum jemand die Fehlbarkeit oder Vorläufigkeit unserer Intuitionen bestreitet, wird sehr wohl bestritten, dass sich dies notwendiger Weise auf die Fehlbarkeit oder Vorläufigkeit der daraus resultierenden Prinzipien überträgt. Es ist die dieser Behauptung innewohnende Spannung, der ich im Folgenden auf den Grund gehen möchte. Dazu möchte ich mir die alternativen Modelle (2) und (3) genauer ansehen. Sind diese – im Gegensatz zur intuitionistischen Methode – in der Lage, aus unzuverlässiger Evidenz (d.h. unseren Intuitionen) verlässliche Grundsätze (Prinzipien) zu gewinnen?

3. Kohärentismus

Wie wir gerade gesehen haben, schließt die vorläufige epistemische Autorität, die Intuitionen gemeinhin zugeschrieben wird, eine Rechtfertigungsmethode aus, der zufolge diese als eine Art „Wahrnehmung“ übergeordnete Grundsätze stützen und begründen. Eine vor diesem Hintergrund (auf den ersten Blick) vielversprechende Weise, der Fallibilität von Intuitionen gerecht werden, besteht darin, sie in einer kohärentistischen Rechtfertigungsmethode einzubetten. Ganz allgemein gehen KohärentistInnen davon aus, dass Überzeugung dadurch gerechtfertigt werden, dass sie in einem gegenseitigen Unterstützungsverhältnis mit anderen Überzeugung stehen; ein gerechtfertigtes System von Überzeugungen (oder in unserem Fall, ein System bestehend aus Grundsätzen und Intuitionen) ist nicht eines, das bestimmten fundamentalen oder externen Standards entspricht, sondern eines, in dem die Überzeugungen ein kohärentes Netzwerk bilden.24 Für eine klassische Darstellung des Kohärentismus, siehe Quine, „Two Dogmas of Empiricism“.

Im Kontext der praktischen Philosophie nimmt dieser Gedanke in der Regel die Form dessen an, was John Rawls als „Überlegungsgleichgewicht“ bezeichnet.25 Siehe Rawls, Eine Theorie Der Gerechtigkeit; dazu auch Daniels, „Reflective Equilibrium“. Dabei starten wir mit intuitiven Urteilen über Einzelfälle (die mithilfe eines Gedankenexperiments identifiziert werden), von denen allgemeinere Prinzipien abgeleitet werden. Stehen diese wiederum quer zu anderen Urteilen, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wir passen das Prinzip entsprechend an, oder (falls das Prinzip dem mehrheitlichen Teil unserer Intuitionen gerecht wird) wir beißen in den sauren Apfel und akzeptieren die uns widerstrebenden Einzelfallurteile. Auf dieser Weise verfahren wir, bis die größtmögliche Übereinstimmung zwischen beiden Ebenen erreicht ist. Der Gedanke ist, dass in diesem Zustand des „Überlegungsgleichgewichts“ die Grundsätze die Einzelfallurteile sowohl implizieren als auch erklären.

In seiner Theorie der Gerechtigkeit leitet John Rawls auf diese Weise seine beiden Gerechtigkeitsätze her.26 Rawls unterscheidet weiterhin zwischen „engen“ und „weiten“ Formen des Überlegungsgleichgewichts, je nachdem ob dieses zwischen einer begrenzten Anzahl von Grundsätzen oder innerhalb einer ganzen Theorie hergestellt wird. Siehe Daniels, „Reflective Equilibrium“; ebd. Auf der Basis alltäglicher, allerdings schon wohlüberlegter Alltagsurteile wird zunächst ein Urzustand (vorläufig) bestimmt und konkretisiert,27 Unter wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen versteht Rawls solche, „die unter Bedingungen gegeben sind, unter denen unser Urteilsvermögen höchstwahrscheinlich voll zum Einsatz gebracht und nicht von störenden Einflüssen beeinträchtigt worden ist“. Siehe Rawls, Gerechtigkeit Als Fairness, S. 60 . in dem sich die Parteien auf gerechte Prinzipien einigen sollen. In der Folge gehen wir hin und her zwischen der Modellierung des Urzustandes durch wohlüberlegte Gerechtigkeitsurteile und der Veränderung der davon abzuleitenden allgemeinen Grundsätze: „einmal ändern wir die Bedingungen für die Vertragssituation, ein andermal geben wir unsere Urteile auf und passen sie den Grundsätzen an“.28 Rawls, Eine Theorie Der Gerechtigkeit, S. 38 . Das so entstehende „Rückkopplungsverhältnis“29 Höffe, „Einführung“, S. 24 . führt uns schließlich an einen Punkt, das Überlegungsgleichgewicht, an dem die gewählten Grundsätze unseren Gerechtigkeitsurteilen entsprechen oder diese auf annehmbare Weise erweitern.

Zum Beispiel gehen wir dann davon aus, dass sich Parteien im Urzustand hinter einem „Schleier dies Nichtwissens“ befinden, der ihnen bestimmte Informationen hinsichtlich ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Stellung vorenthält. Unter diesen Umständen (und vor dem Hintergrund weiterer Annahmen über menschliche Motivation und Rationalität), einigen sich die hypothetischen Teilnehmerinnen, so der Gedanke, auf Rawls‘ Gerechtigkeitsgrundsätze: erstens, dass alle Bürgerinnen das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten genießen sowie, zweitens, dass soziale und ökonomische Ungleichheit nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie vor dem Hintergrund fairer Chancengleichheit entstehen und die am wenigsten Begünstigten besserstellen. Das heißt jedoch nicht, dass dieses Gleichgewicht notwendigerweise dauerhaft stabil oder ein für alle Mal unveränderlich ist.30 Rawls, Eine Theorie Der Gerechtigkeit, S. 37 ff. „Neue Erwägungen der Bedingungen für die Vertragssituation können es umstürzen, ebenso Einzelfälle, die uns zur Änderung unserer Urteile veranlassen“,31 Rawls, Eine Theorie Der Gerechtigkeit, S. 38 . so Rawls.

Es ist wichtig, sich den epistemischen Status von Intuitionen in dieser Rechtfertigungsmethode vor Augen zu halten: Obwohl Intuitionen auf nicht-inferentielle Weise entstehen, sodass ihnen nicht der Status etwa von gerechtfertigten Überzeugungen zukommt, behalten sie auf Grund ihrer konstitutiven Rolle innerhalb des Überlegungsgleichgewichts als solches doch eine gewisse epistemische Autorität. Dies wirft die Frage auf, warum ein bestimmtes Prinzip (oder eine normative Theorie aus mehreren Prinzipien), das aus diesem „hin und her“ mit unseren Intuitionen entsteht, von denen (gemäß unserer Stipulation) zumindest einige verzerrt, unsicher und tendenziös sind, selbst weniger verzerrt, unsicher und tendenziös sein sollte. Die Willkür, die (einige) unserer Einzelfallurteile durchdringt, wird sich wiederum und unweigerlich auf das Überlegungsgleichgewicht übertragen, mit dem wir enden.32 List und Valentini, „The Methodology of Political Theory“, S. 542 , bezeichnen dies als das Problem der Pfadabhängigkeit.

Nun wird die Verteidigerin dieser Methode entgegnen, dass das Überlegungsgleichgewicht nur diejenigen Intuitionen überleben lässt, derer wir uns besonders sicher sind; das hin und her zwischen Intuitionen und Grundsätzen wird die verzerrten Intuitionen herausfiltern. Hierauf ist zunächst einmal daran zu erinnern, dass wir keinen Grund haben, bestimmte Intuitionen als besonders robust zu behandeln, nur weil wir uns ihrer besonders „sicher“ sind. Die oben artikulierte Kritik impliziert ja gerade, dass keines unsere Einzelfallurteile davor gefeit ist, Vorurteile und Befangenheiten auszudrücken – dementsprechend sind wir gut beraten, zunächst einmal all unsere Intuitionen gleichermaßen als vorläufig und fallibel zu behandeln.

Noch wichtiger ist allerdings, zweitens, dass die kohärentistische Methode ja von einer Symmetrie ausgeht zwischen Intuitionen und Grundsätzen. Solange es lediglich um die Kohärenz des entstehenden Rechtfertigungsgebildes als Ganzes geht, fehlt jegliche Grundlage, auf der wir einzelnen Urteilen überhaupt Vorrang vor anderen einräumen könnten. Intuitionen und Grundsätze können auf ganz verschiedene Weise miteinander abgeglichen werden, was häufig zu einer Vielzahl von möglichen Equilibria führt – ohne, dass wir eine externe Grundlage hätten, auf der wir ein bestimmtes „Paket“ aus Intuitionen und Grundsätzen einem anderen vorziehen könnten. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir vorsichtig sein sollten, genau diejenigen Intuitionen, die das Überlegungsgleichgewicht „überleben“, als Quelle moralischer Erkenntnis zu behandeln. Schließlich ist alles, was wir über diese aussagen können, dass sie sich in einer besonders kohärenten Weise mit höherrangigen Prinzipien ergänzen.

Ein möglicher Weg aus diesem Dilemma besteht nun darin, die rechtfertigungstheoretische Symmetrie zwischen Intuitionen und Prinzipien aufzulösen und den Letzteren Vorrang (anstatt wie im Intuitionismus, den Ersteren) einzuräumen. Dies ist der Vorschlag der fundationalistischen Methode, die ich im folgenden Abschnitt darstellen möchte.

4. Fundationalismus

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich argumentiert, dass das kohärentistische Modell noch immer die Rolle von Intuitionen in der Rechtfertigung normativer Prinzipien überschätzt, da (a) einige unserer Intuitionen fragwürdig sind und wir (b) nicht wissen, welche das sind. Uns bleibt daher nur noch die dritte Methode, der Fundationalismus.33 Siehe z.B. McMahan, „Moral Intuitions“; McDermott, „Analytical Political Philosophy“; Sidgwick, The Methods of Ethics. FundationalistInnen sind sich mit KohärentistInnen einig, Intuitionen nicht als selbstevident oder unmittelbar zugänglich zu behandeln. Sie gehen jedoch einen Schritt weiter und sprechen ihnen auf Grund dessen jegliches rechtfertigungstheoretisches Gewicht ab. Wo KohärentistInnen eine reziproke Gleichrangigkeit von Einzelfallurteilen und Grundsätze konstruieren, sehen FundationalistInnen eine Asymmetrie: sie gehen davon aus, dass unabhängiger Weise gerechtfertigte Prinzipien die entsprechenden Intuitionen lediglich hervorrufen, dieses also als ihr Ausdruck oder „surface manifestation“ verstanden werden können.34 McMahan, „Moral Intuitions“, S. 113 . FundationalistInnen stellen damit das intuitionistische Bild gleichsam auf den Kopf:35 Zum Gegensatz zwischen Intuitionismus und Fundationalismus, Sayre-McCord, „Coherentist Epistemology and Moral Theory“, S. 150 . Eine Intuition rechtfertigt nicht den ihr zu Grunde liegenden moralischen Grundsatz, sondern zeugt von dessen Existenz und führt uns im besten Falle zu ihm. Höherrangige moralische Grundsätze vereinigen, erklären und rechtfertigen unsere Einzelfallurteile, hängen in ihrer Gültigkeit jedoch nicht von diesen ab.

Die Implikation ist, dass ein Einzelfallurteil in der Regel an Glaubwürdigkeit gewinnt, sofern es unter einem plausiblen (moralischen) Grundsatz subsumiert werden kann. In der Tat rekurrieren wir ja oft wie selbstverständlich auf höherrangige Prinzipien, welche die betreffenden Intuitionen angeblich begründen, sobald unsere Intuitionen angezweifelt werden. Gelegentlich widerstreben einzelne Intuitionen jedoch unseren eigenen moralischen Überzeugungen. Wie wir oben gesehen haben, wollen KohärentistInnen in diesem Fall offenlassen, auf welcher Seite die notwendige „Anpassung“ fällig ist – ob wir eher unsere Einzelfallurteile revidieren oder die allgemeineren Grundsätze anpassen müssen. FundationalistInnen hingegen legen Wert darauf, an zentralen moralischen Überzeugungen auch im Angesicht widerstrebender oder problematisch erscheinender Intuitionen festzuhalten. Sie sind so in der Lage zu erklären, warum biting the bullet häufig als plausible Option erscheint.

Nun stellt sich für FundationalistInnen natürlich die Frage, wie wir diese höherrangigen Prinzipien, die unsere Intuitionen vereinigen und erklären, überhaupt entdecken. Eine naheliegende Option wäre es, Intuitionen völlig abzuschwören. Stattdessen könnten wir in der moralischen Theoriebildung nicht von konkrete Problemen und Fällen (sowie unseren diesbezüglichen Intuitionen) ausgehen, sondern von bestimmten axiomatischen (möglicherweise metaphysischen) Annahmen über die Natur des Menschen oder der Moral. Um die im Gedankenexperiment gestellte Frage überzeugend zu beantworten, müssten wir also zunächst die „korrekte“ moralische oder politische Theorie ermitteln, welche uns dann das entsprechende Einzelfallurteil vorgibt. Diese Strategie wird philosophiegeschichtlich prominent etwa von Platons Sokrates, Hobbes oder Kant, sowie im zeitgenössischen Kontext weiterhin von einer Reihe kontraktualistischer und konsequentialistischer Ansätze vertreten.

FundationalistInnen spüren jedoch die Anziehung einer Art der philosophischen Reflexion, die sich stärker an alltägliche Modi des moralischen Überlegens und Handelns anlehnt. McMahan geht sogar so weit, die Frage aufzuwerfen, ob eine Theorie überhaupt eine Theorie der Moral zu sein beanspruchen darf, „if it has foundations that are wholly independent of the intuitions that have shaped the common features of all recognizably moral codes“.36 McMahan, „Moral Intuitions“, S. 109 . Diese Skepsis gegenüber der Option, Intuitionen ganz abzuschwören, führt IntuitionistInnen dazu, einen anderen Weg einschlagen: sie verlassen sich darauf, dass unsere Urteile über konkrete (in Gedankenexperimenten dargestellte) Einzelfälle in der Lage sind, uns zu den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien zu führen. In der Praxis behelfen auch sie sich daher letztlich der Methode des Überlegungsgleichgewichts: durch ein „hin und her“ zwischen Intuitionen und (Kandidaten für) Grundsätzen hoffen sie, schließlich die wahren Grundsätze zu entdecken.

Damit sei ausdrücklich nicht behauptet, dass der Fundationalismus in einen Kohärentismus kollabiert. Wir dürfen nämlich nicht aus den Augen verlieren, dass sich Intuitionen und Grundsätze dem fundationalistischen Modell zufolge nicht gegenseitig rechtfertigen. Stattdessen dient das Überlegungsgleichgewicht lediglich als epistemisches Werkzeug, das uns hilft, die richtigen Grundsätze zu entdecken. Es ist derjenige Zustand, in dem wir am ehesten darauf vertrauen können, die richtigen oder wahren Grundsätze identifiziert zu haben. Jeff McMahan zufolge sind Entdeckungs- und Rechtfertigungslogik in der fundationalistischen Methode daher gegenläufig.37 McMahan, „Moral Intuitions“, S. 114 . Während lediglich Intuitionen die nötige Evidenz für grundlegendere Prinzipien liefern können, sind es diese Prinzipien selbst, denen das begründungstheoretische Primat innewohnt; ihre Rechtfertigung (oder Wahrheit) ist gänzlich unabhängig von den dazugehörigen Intuitionen. In Anlehnung an Kants berühmte Unterscheidung sind Intuitionen die ratio cognoscendi moralischer Grundsätze, diese aber die ratio essendi unserer Einzelfallurteile.38 In der Kritik der Praktischen Vernunft argumentiert Kant, Freiheit sei die ratio essendi (der Seinsgrund) des Moralgesetztes, dieses aber die ratio cognoscendi (der Erkenntnisgrund) der Freiheit. Kant, Kritik Der Praktischen Vernunft [1. Aufl. 1781], S. 5:4 ; siehe auch Bojanowski, Kants Theorie Der Freiheit: Rekonstruktion Und Rehabilitierung. In anderen Worten, allgemeinere Prinzipien sind zwar begründungstheoretischen grundlegender, wir gelangen zu ihnen jedoch nur via Intuitionen.

Genau dies halte ich für den Grund, warum der Fundationalismus nicht in der Lage ist, die Mängel des Kohärentismus zu beheben. Die Reihenfolge der Rechtfertigung (d.h. das Primat der Prinzipien) trägt zwar der Bedenklichkeit (einiger) unserer Intuitionen Rechnung. Dieser Fortschritt wird aber dadurch zunichte gemacht, dass wir epistemisch weiterhin auf diese angewiesen sind, um auf moralische Grundsätze zu stoßen. Denn wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die normativen Grundsätze, zu denen uns unsere Intuitionen leiten, tatsächlich die richtigen (oder wahren) sind. Die Folge ist, dass sich die fundationalistische Methode mit demselben Problem konfrontiert sieht, wie intuitionistische und kohärentistische Alternativen: Die Unzuverlässigkeit unserer Intuitionen überträgt sich zwangsläufig auf die Unzuverlässigkeit normativer Schlussfolgerungen, sobald wir ihnen jegliche epistemische Autorität zusprechen.

5. Schluss

Mein Ziel in diesem Beitrag war es, zu zeigen, dass das Intuitionen innewohnende Geltungsdefizit nicht einfach aufgefangen werden kann, indem wir ihre Stellung im Rechtfertigungsmodell justieren. Solange wir ihnen weiterhin eine konstitutive Rolle innerhalb der moralischen Norm- und Theoriebildung zuschreiben, wird sich ihre Unzuverlässigkeit, welche gemeinhin nicht bestritten wird, auf die aus (oder mit Hilfe von) ihnen gewonnenen Sollenssätze übertragen. Nun folgt daraus nicht notwendiger Weise, dass wir den Gebrauch von Gedankenexperiment vollständig aufgeben müssen. Sie können uns etwa helfen, philosophisch relevante Problem oder bisher verborgene Aspekte unserer normativen Fragestellung erst in den Blick zu bekommen. “By presenting content in a suitably concrete or abstract way”, so Tamar Szabo Gendler,39 Gendler, „Philosophical Thought-Experiments, Intuitions, and Cognitive Equilibrium“, S. 191 . “thought experiments recruit representational schemas that were otherwise inactive, thereby evoking responses that may run counter to those evoked by alternative presentation of relevantly similar content”. Dies sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, uns auch nach ihnen zu richten, wenn es darum geht, gültige Normen zu rechtfertigen.40Eine ausgearbeitete Version dieses Beitrags ist in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen. Vgl. Huber, „Zum Status von Intuitionen in Gedankenexperimenten“, S. 689-704 .

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