Ein Gedankenexperiment über ein Gewebe möglicher und unmöglicher Erfahrungen im Ausgang von Husserl und Borges

Irene Breuer0000-0002-6913-5240

Einleitung

Von den Begriffen der durch Edmund Husserl begründeten Phänomenologie hat derjenige der Lebenswelt das philosophische Denken über die Welt am stärksten geprägt. Der Begriff wird gewöhnlich mit Husserls 1936 erschienenen Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie in Verbindung gebracht, steht aber in Kontinuität zu früheren Werken, die die transzendentale Phänomenologie eingeführt haben.1 Held, „Husserls Neue Einführung in Die Philosophie: Der Begriff Der Lebenswelt“, S. 79 f.; Es handelt sich um programmatische Werke, die Husserl selbst veröffentlicht hatte, die Ideen I (1913) und die Car-tesianischen Meditationen (1930), und um zwischen 1923–52 gehaltene Vorlesungen, die als Phänomenologische Psychologie und Erste Philosophie im Nachlass veröffentlicht wurden ansatzweise findet man diesen Begriff in seiner Göttinger Vorlesung von 1907, im sogenannten ‚Dingkolleg‘, veröffentlicht als Ding und Raum, Vorlesungen 1907 (1907). Kürzlich ist ein Band erschienen, der eine Auswahl von Nachlasstexten zum Begriff der Lebenswelt bietet. Siehe die ausführliche Einleitung des Herausgebers zum Husserliana Band XXXIX, S. XXV–LXXXI. Als kurze Einführung zum Thema sei gesagt, dass Husserls Philosophie die Welt als „eine unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinenden Erfahrungen bezogene Idee“ versteht. Selbstverständlich können wir diese unendliche Idee immer nur durch endlich viele einstimmigen Erfahrungen belegen. Die Welt ist also eine unendliche Idee, die endlich viele Erfahrungen umfasst. Dasselbe gilt dem Weltraum: die Erscheinungen verweisen auf unendlich weitere mögliche Erscheinungen in einem offen-unendlichen Raum, den wir jedoch nur als vom Horizont begrenzt erleben können. Die Literaturwissenschaften wie auch die Kulturwissenschaften verstehen den Weltraum nicht als vorgegeben, sondern als „gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung“,2 Backmann-Medick, Multikultur Oder Kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur Und Übersetzung in Postkolonialer Perspektive, S. 263 . die auch die Macht besitzt, eine Welt neu zu entwerfen, und zwar so, dass die neuen Erfahrungen die bestehende Welt in Frage setzen oder sogar sie widersprechen können. Was dieser „Idee“ der Welt angeht, so verweist sie auf ein raumzeitliches Netzwerk aus endlich viele einstimmigen Erfahrungen, die weit über sich hinausweisen und damit eine mögliche Welt entwerfen. Daraus ergibt sich, dass eine mögliche Welt eine mögliche Erfahrbarkeit besagt. So behandelt der Beitrag die Frage eines Weltentwurfes und die Voraussetzungen einer kategorialen Bestimmung von „möglichen“ vs. „unmöglichen“ Welten,3 Vgl. Breuer, „Ideation Und Idealisierung: Die Mathematische Exaktheit Der Idealbegriffe Und Ihre Rolle Im Konstitutionsprozess Bei Husserl“. die sich phänomenologisch auf die mögliche bzw. unmögliche Erfahrbarkeit zurückführen lässt.

Es wird sich herausstellen, dass ein Wechselverhältnis zwischen Narration und Philosophie besteht: Aus beiden Disziplinen entstehen neue Einsichten, die von der jeweilig anderen umgedeutet werden. Dieses Wechselverhältnis erweist sich sowohl in der Begriffsbildung wie auch in der Erfahrungsbeschreibung: Die Philosophie trägt die philosophischen Begriffe und Kategorien der Literatur bei, umgekehrt liefert die Literatur eine narrative Beschreibung der Erfahrung, welche die Grundlage für die philosophische Begriffsbildung bildet und im Grenzfall, hier paradigmatisch bei Borges, die Grenzen der Erfahrungsmöglichkeiten aufzeigt.

Um den Zusammenhang beider Themenbereiche aufzuzeigen, soll im ersten Teil dieses Beitrags auf die Betrachtungsweise der Phänomenologie und auf die von ihr ausgelegte Lebensweltauffassung eingegangen werden. Anschließend wird der Begriff einer möglichen bzw. unmöglichen Welt beleuchtet: Eine mögliche Welt wird als Möglichkeit der Erfahrbarkeit innerhalb eines Sinnbildungsvorgangs und hier als der Inbegriff eines ästhetischen Erlebnisses begriffen. Im zweiten Teil des Beitrags werden Borges‘ Erzählungen Das Aleph, Die Bibliothek von Babel, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen und Tlön, Uqbar, Orbis Tertius aufgegriffen, um den Konnex zwischen Phänomenologie und Literatur eingehend zu reflektieren. Es wird sich herausstellen, dass ein Wechselverhältnis zwischen Narration und Philosophie besteht: Aus beiden Disziplinen entstehen neue Einsichten, die von der jeweilig anderen umgedeutet werden. Dieses Wechselverhältnis erweist sich sowohl in der Begriffsbildung wie auch in der Erfahrungsbeschreibung: Die Philosophie trägt die philosophischen Begriffe und Kategorien der Literatur bei, umgekehrt liefert die Literatur eine narrative Beschreibung der Erfahrung, welche die Grundlage für die philosophische Begriffsbildung bildet und im Grenzfall, ihr die Grenzen des Erschließbaren aufzeigt.

1. Die Betrachtungsweise der Phänomenologie

1.1. Erfahrung und Erfahrbarkeit: Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und Literatur

Husserl bezeichnet die Phänomenologie als „eine rein deskriptive […] Disziplin“;4 Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, S. 253 . sie hat also eine deskriptive Aufgabe insofern sie den Sinn, den die Welt aus der Erfahrung hat, enthüllen, aber nicht verändern soll.5 Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, S. 77 . Es gilt also nicht, die Welt zu erklären, d.h. die vorliegenden Sachverhalte oder Erscheinungsformen des alltäglichen Lebens zu beschreiben, sondern die Welt in ihrer Wesensstruktur aufzuklären: Es gilt „die Welt zu beschreiben, so wie sie sich mir unmittelbar gibt bzw. die Erfahrung zu beschreiben hinsichtlich des Erfahrenen als solchen“, um den „allgemeinen Sinnesrahmen der Welt in unmittelbarer Erfahrung“ herauszustellen.6 Husserl, Zur Phänomenologie Der Intersubjektivität. Texte Aus Dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1920, S. 196 f. Um dessen Sinn zu enthüllen, bedarf es der Epoché, d.h. die „Rückführung dessen, was sich [in unserer Alltagserfahrung] zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt“.7 cf. Waldenfels, Einführung in Die Phänomenologie, S. 30 . So sagt Husserl in seinem „Prinzip aller Prinzipien“, „daß alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaftigen Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt“.8 Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950], S. 51 . Etwas erscheint mir immer ‚als etwas‘, es kommt zur Erscheinung als es selbst, als Bild, als Phantasie; diese Weise des Erscheinens, das jeweilige ‚Wie‘, verleiht der Sache erst ihren Sinn.

Diese Weise des Erscheinens tritt nicht von selbst auf; vielmehr bedarf es der Epoché als einer Besinnung auf das Ich als Vollzieher dieses Erscheinens. Denn es ist das Ich, das dem Seienden ermöglicht, sich als Seiendes dieser oder jener Art zu bekunden oder auszuweisen. Dieser Bezug vom ‚Ich‘ zur ‚Welt‘ heißt Intentionalität: Jedes Seiende ist mir in einer bestimmten Weise gegeben, d.h. es ist mir intentional in meinem Bewusstsein gegeben und als solches heißt es Phänomen.9 Vgl. Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950] §36 und §37; Husserl, Die Idee Der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, S. 14 . So sagt Husserl: „Was die Dinge sind, die Dinge, von denen wir allein Aussagen machen, […] das sind sie als Dinge der Erfahrung“.10 Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950], S. 100 . Zu Recht hebt Jean-François Marquet hervor, dass das Wort comme, als, inquantum, vielleicht die gesamte Philosophie in eine erschöpfende Formel fasst, insofern sie auf das „evénément même de l‘appropriation à soi“, oder auf Deutsch, auf das Ereignis verweist:11 Marquet, Singularité et Événement, S. 75 . Und zwar auf das Ereignis im Sinne einer neuen Einsicht, die unsere vorgängigen Überzeugungen widerlegt.12 Tengelyi, Erfahrung Und Ausdruck. Phänomenologie Im Umbruch Bei Husserl Und Seinen Nachfolgern, S. 7 . Denn die Erfahrung, so Hans Georg Gadamer, die „diesen Namen verdient“, kann nicht zu Wissen oder Belehrung reduziert werden; vielmehr meint sie jene Erfahrung, die, selbst erworben, eine Erwartung durchkreuzt.13 Gadamer, Wahrheit Und Methode, S. 362 . Denn Erfahrung hängt unmittelbar zusammen mit dem Eintreten von etwas „Neue[m], Unvorhergesehene[m], Unverhoffte[m] und letztlich Überraschende[m]“ ins Bewusstsein.14 Tengelyi, Erfahrung Und Ausdruck. Phänomenologie Im Umbruch Bei Husserl Und Seinen Nachfolgern, S. xi . Es handelt sich nicht um das Auftreten von etwas, das das Bewusstsein schon erwartet, sondern, im Gegenteil, das Neue enttäuscht solche Erwartungen und bringt einen Bruch im Bewusstsein und folglich in der lebensweltlichen Normalität hervor. Es sind eigens erlebte Erfahrungen, die neue Einsichten als Ereignis eines neuen Sinnes hervorbringen und die in Form von Erzählungen Eingang in die Lebensgeschichte finden. Dafür bedienen sich Philosophie und Literatur gleichsam der Sprache. Das heißt, der neu entstandene Sinn wird von der Philosophie in Begriffe und von der Literatur in Metaphern in einer einheitlichen Form erfasst. So bilden beide Disziplinen die Kehrseiten eine und derselben Münze, denn beide haben dasselbe Ziel: Den sinnbildendenden Erfahrungen einem sprachlichen Ausdruck zu verleihen.

Es handelt sich aber um keine bloße Wiedergabe, denn die Entstehung eines neuen Sinnes drückt sich in einem Erlebnis aus, das sich zunächst aller vorhandenen Bedeutungen entzieht. Das Erlebnis als Erfahrung eines neuen Sinnes ist also durch einen Überschuss gegenüber der Bedeutung gekennzeichnet:15 Breuer, „Husserls Lehre von Den Sinnlichen Und Kategorialen Anschauungen. Der Sinnliche Überschuss Des Sinnbildungsprozesses Und Seine Doxische Erkenntnisform“, S. 243 . Das Erlebte ist somit „allen bestehenden Wirklichkeitszusammenhängen entrückt“, bezieht sich aber zugleich auf das Lebensganze, so Gadamer.16 Gadamer, Wahrheit Und Methode, S. 75 . Somit ist das unmittelbare Erlebnis von der sinnstiftenden Erfahrung durch eine zeitliche Diastase verbunden: Während die Philosophie das lebensweltlich Erlebte erst nachträglich in Worten erfassen kann, kann umgekehrt die Literatur Metaphern schöpfen, die erst nachträglich erlebt werden können. Gerade in Bezug auf die schöpferische Arbeit der Literatur hat Paul Ricœur darauf hingewiesen, dass die Narrationen „Träger möglicher Welten“ sind,17 Ricœur, „Myths as a Bearer of Possible Worlds“, S. 489 . die nicht nur narrativ erfasst, sondern unmittelbar erlebt werden. Aber nicht nur Narrationen, sondern ebenso die Philosophie stiftet neue bzw. mögliche Welten, denen eine ebenso mögliche Erfahrbarkeit zukommt. Es handelt sich um eine texttranszendente Fassung der Beziehung Text-Leser bzw. -Erfahrungssubjekt: Einerseits sind Narrationen Auslöser von neuen Praktiken und Wissensvorstellungen, die in das eigene Leben des Lesers Einzug finden. Umgekehrt findet die Lebenserfahrung Einzug in die Narration, insofern es gerade die Erfahrung ist, die dem unmittelbar Erlebten eine Bedeutung verleiht und sie auf das Ganze einer Lebensgeschichte bezieht. Die phänomenologische Philosophie andererseits, beschreibt die Welt als ein räumliches Netzwerk aus endlich vielen einstimmigen Erfahrungen, die weit über sich hinausweisen und eine mögliche Welt entwerfen, so dass der vertrauten Welt eine fremde Welt als das noch Unbekannte korrespondiert. Der dazwischenliegende Horizont ist aber eine bewegliche Schwelle: Das Subjekt kann sich immer neue Wirklichkeitsbereiche aneignen; umgekehrt kann es sich von Altbekanntem entfremden. Daher besagen mögliche Welten – seien sie narrativ oder phänomenologisch beschrieben – eine mögliche lebensweltliche Erfahrbarkeit. Was ihre unmittelbare Beziehung angeht, so wird am Ende der Analyse ersichtlich werden, dass die Philosophie der Literatur die philosophischen Begriffe und Kategorien beiträgt, denen die letzte für die narrative Sinnbildung bedarf; umgekehrt liefert die Literatur eine narrative Beschreibung der Erfahrung, welche die Grundlage für die philosophische Begriffsbildung bildet. Die Beziehung wirft interessante Fragen auf, wenn es sich um die Grenzen des Erschließbaren handelt: Wo verläuft die Grenze? Wie ist sie zu bestimmen? Welchen Sinn hat sie? Ist sie erfahrbar? Auf diese Weise suchen sich Philosophie und Literatur gegenseitig heim – wie Marquet treffend formuliert: „chacune de ces deux tentatives reste secrètement hantée par l’autre“.18 Marquet, Singularité et Événement, S. vii . Was uns hier interessiert, ist nicht der Zusammenfall oder die wechselseitige Deckung beider Disziplinen, sondern gerade ihre Abgrenzung zueinander, d.h. der Punkt, wo die Grenzen des Erschließbaren und Erfahrbaren übertreten werden: Dieses ‚Jenseits‘ lässt sich bei Edmund Husserl und Jorge Luis Borges paradigmatisch aufzeigen.

1.2. Die Lebenswelt: Erfahrung und Sinn

Husserls Weltbegriff umfasst die Erfahrbarkeit der Welt, denn zwischen Mensch und Welt spannt sich eine Beziehung der Zugehörigkeit: Der Mensch ist in der Welt, weil sie ihn angeht.19 Husserl, Zur Phänomenologie Der Intersubjektivität. Texte Aus Dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1920, S. 342 . Sie stellt eine Totalität dar, die weit mehr als ein ,All der Dinge‘ meint. Einerseits ist die Welt für Husserl undurchstreichbar, apodiktisch gegeben, wobei die Gegenstände einen vorläufigen Charakter haben. Andererseits fungiert die Welt als Erkenntnis- bzw. Tätigkeitsfeld für den erfahrenden Menschen. Daher besteht die Welt ist nicht aus der Summe aller Gegenstände, sondern sie ist ein „Universalfeld, in das all unsere Akte, erfahrende, erkennende, handelnde, hingerichtet sind. Aus ihm kommen, von den jeweils schon gegebenen Objekten her, alle Affektionen, sich jeweils in Aktionen umsetzend“.20 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 147 . Dieses Universalwelt wird vom Horizont umfasst; es ist ein Feld, worin nicht nur die unendlich möglichen Erscheinungsweisen der Gegenstände eingebettet sind, sondern sich unsere Akte und Affektionen entfalten können. Ich und Wir sind also Träger der Welt, die als Einheit unseres Lebens schon eine konstituierte, vorgegebene Welt ist. Es ist jedoch hervorzuheben, dass alle Zwecke sie voraussetzen: „Die Lebenswelt ist die ständig und im Voraus seiend geltende, aber nicht geltend aus irgendeiner Absicht, Thematik, nach irgendwelchem universale[n] Zweck“.21 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 461 . Die Lebenswelt ist „keine bedingte oder begrenzte Auffassung von der Welt, keine wissenschaftliche oder gar vor- oder außerwissenschaftliche Interpretation der Welt“.22 Carr, „Welt, Weltbild, Lebenswelt“, S. 32 ; Brand, Die Lebenswelt. Eine Philosophie Der Konkreten Apriori, S. 17 . Vielmehr unterscheidet Husserl zwischen solchen Weltauffassungen und der Welt, von der jene die Auffassungen sind: Diese ist die Lebenswelt.

Diese Lebenswelt als „Sinngebilde“ ist „das Allerbekannteste, das in allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche, in ihrer Typik immer schon durch Erfahrung uns vertraut“ und beständiger „Untergrund“ aller objektiver Wahrheiten.23 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 115 und 127 . Dieser Vertrautheit und Bekanntheit verdankt sie ihre Anschaulichkeit: Die Lebenswelt als Anschauungswelt steht grundsätzlich im Kontrast zur unanschaulichen Wissenschaftswelt. Als solche ist sie „ein Reich ursprünglicher Evidenzen“, d.h. das Gegebene wird in der Wahrnehmung als „es selbst“ erfahren; sie zeichnet sich also durch „ihre wirkliche Erfahrbarkeit“ aus.24 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 130 . In diesem Sinne bewährt sie sich in der „reinen Erfahrung“, in einer Betrachtung, die von allen „Präsumptionen exakter Wissenschaften“ absieht und uns somit ausschließlich in Anschauungshorizonten außerwissenschaftlicher Praxis zugänglich ist.25 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 219 . Die Welt übernimmt also drei Funktionen: „Boden“26 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 134 und 158 . bzw. „Evidenzquelle, Bewährungsquelle“27 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 129 . der Wissenschaften, „Leitfaden“28 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 175 . der Rückbesinnung auf die lebensweltlichen Evidenzen29 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 143 . und ,Einfassung‘ bzw. Universalhorizont der vielfältigen „Zweckhorizonte“.30 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 462 ; Waldenfels, Einführung in Die Phänomenologie, S. 37 . Die Überschreitung dieser Erfahrungshorizonte bzw. unserer Erfahrungsmöglichkeiten lässt sich paradigmatisch bei der Idealisierung der Lebenswelt aufzeigen.

1.3. Idealisierung der Lebenswelt

Die Grenzen des Erfahrbaren werden durch die Idealisierung der Welt überschritten;31 Vgl. Breuer, „Ideation Und Idealisierung: Die Mathematische Exaktheit Der Idealbegriffe Und Ihre Rolle Im Konstitutionsprozess Bei Husserl“. denn diese Welt als Fundament ist Korrelat einer im Unendlichen liegenden Idee „der an sich fest bestimmt seienden Welt“ und wissenschaftlicher Wahrheiten.32 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 113 . Somit bekommt die Welt den Charakter eines ins Unendliche gehenden Fortschreitens eine Welt, die frei von jeder Einbettung in Horizonte ist. Husserl wirft den Wissenschaften vor, dass sie die Welt als den Boden vergessen haben, auf dem sie historisch erwachsen sind und den sie als ihren ständigen Sinn- und „Geltungsboden“ voraussetzen müssen.33 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 124 . Diese Vergessenheit, die Husserl in der Krisisschrift aufdeckt, definiert den Objektivismus der Wissenschaften, der zur Sinnkrise der Wissenschaften und des Lebens führt.34 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 123 f. Husserl betont, dass die Idee der Objektivität, d.h. die Idee von einer absolut „an-sich“ existierenden Welt, in der Transzendierung des unthematischen Horizontes ihre Wurzel hat.35 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 113 . Denn der Horizontgedanke besagt, dass der Welt und dem Ding eine Unendlichkeit möglicher Erscheinungen zukommt, so dass „nicht das bloße Bewusstsein von der offenen End­losigkeit“ der möglichen Erfahrung (des möglichen immer-weiter-gehen-Könnens) und die damit ver­bundene Iteration erzeugt die Idealisierung, sondern die „Entdeckung des mathematischen Kontinuums“.36 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte Aus Dem Nachlass 1934–1937, S. 143 . Hier tritt die in der Unendlichkeit liegende Idee einer „unendlichen Totalität“ der Dingeigen­schaf­ten in der Endlichkeit auf, um sie mit M. Richir gesagt, „zu vereinheitlichen [„uniformiser]“.37 Richir, La Crise Du Sens et La Phénoménologie, S. 224 . „Der Akt der ,Idea­li­sie­rung’ besteht darin, dass wir etwas solchermaßen ,Ideales’ zu unserem Gegenstand machen und dass wir diesen Gegenstand, der den Bereich anschaulicher Erfül­lung transzendiert, in die auf An­schau­ung beruhende normale lebensweltliche Praxis integrieren“ und dabei das Bewusst­sein vom Unterschied zwischen lebensweltlich erreichbaren und bloß gedach­ten Optima verlieren,38 Vgl. Claesges, „Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff“. wobei diese Idee als exakte Einheit einer „aktualen Unendlichkeit“ dem Prozess transzendent ist.

Die Unendlichkeit kann aktual werden, nur indem sie als Idee, d.h. die Sinnlichkeit überschreitend, verstanden wird. Im Gegensatz also zur Welt, die eine offene potentielle Unendlichkeit sinnlicher Vorstellungen (eine transfinite Unendlichkeit) in sich umfasst, deutet die Idee als exakte Einheit des Dinges auf den geschlossenen Charakter der Reihe. Es handelt sich also um eine aktuale Unendlichkeit, die von dieser die Sinnlichkeit überschreitende Idee begrenzt wird. Dies bedeutet, dass die Welt als Phänomen eine offene Unendlichkeit von möglichen Apperzeptionen zulässt, während die mathematische Idee der Welt als eine geschlossene Unendlichkeit unterschiedlicher Modis bestimmt wird. „So erobert – folgt Husserl – das idealisierende Denken die Unendlichkeit der Erfahrungswelt“:39 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 360 . Exakte Objektivität wird als eine Erkenntnisleistung betrachtet, die diese Idealitäten auf die Erfahrung evident anwendbar macht.

Vorwissenschaftliche Praxis und wissenschaftliche Erkenntnis bleiben trotzdem durch einen Prozess der „Sedimentierung“ und des „Einströmens“ aufeinander bezogen.40 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 73 und 212 . Die Sedimentierung besagt, dass durch Idealisierung erworbene Gegenstände zum Bestandteil der alltäglichen Praxis werden, d.h. sie „strömen“ als Kulturleistungen „ein“.41 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 115, 141 Fn. 1 und 213 . Husserl erkennt daher, dass die objektiven Wissenschaften „als subjektive Gebilde“ zur „vollen Konkretion der Lebenswelt gehörig“ sind.42 Husserl, Die Krisis Der Europäischen Wissenschaften Und Die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in Die Phänomenologische Philosophie, S. 132 . Diese objektive Idee der Welt erweist sich in der Lebenswelt, die Heimwelt und Fremdwelt harmonisch umfasst. Eine mögliche Lebenswelt ist, im Gegensatz zur idealisierten Welt, eine möglich erfahrbare Welt, worin unsere Erwartungen sich bestätigen oder enttäuschen können. So haben wir nicht nur die faktische Welt, sondern auch eine in infinitum konstruierbare Welt als Welt möglicher Erfahrungen und im Spielraum einer Unendlichkeit von Möglichkeiten, die mir noch unbekannt sind, die aber von mir erschlossen werden können in Fortgang der Erfahrungen. Selbst widerstrittige Welten setzen eine Welt der Einstimmigkeit oder Kompossibilität voraus. Die Lebenswelt ist demnach nicht nur der Universalhorizont und zugleich Universalboden, sondern ist eine Welt, die sich geschichtlich durch das Einströmen und Sedimentieren der in ihr stattfindenden Praxis und theoretischen Zielsetzungen anreichert. Sie ist „die Welt in ihrer konkreten geschichtlichen Totalität“.43 Claesges, „Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff“, S. 93 .

1.4. Mögliche Welt: Mögliche Erfahrbarkeit

Wie schon erwähnt, verweist diese Idee der Welt auf ein räumliches Netzwerk aus endlich vielen einstimmigen Erfahrungen, die weit über sich hinausweisen und damit eine mögliche Welt entwerfen. Daraus ergibt sich, dass eine mögliche Welt eine mögliche Erfahrbarkeit besagt. Was den Sinn von möglicher Erfahrbarkeit angeht, so besagt sie „nie eine leere logische Möglichkeit, sondern eine im Erfahrungszusammenhang motivierte“.44 Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950], S. 101 . Eine (mögliche) Erfahrbarkeit bedeutet, dass was auch immer „realiter“, aber noch nicht aktual erfahren ist, „zur Gegebenheit kommen kann“, da es „zum unbestimmten, aber bestimmbaren Horizont meiner jeweiligen Erfahrungsaktualität“ gehört.45 Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950], S. 101 . Die „offene[] Möglichkeit“ besagt,46 Husserl, Erfahrung Und Urteil. Untersuchungen Zur Genealogie Der Logik [1939], S. 107 f.; Husserl, Analysen Zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- Und Forschungsmanuskripten 1928–1926, S. 39 f. dass jede Wahrnehmung von Erwartungsintentionen begleitet wird, die „Spielräume offener Möglichkeiten“ vorzeichnen:47 Husserl, Analysen Zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- Und Forschungsmanuskripten 1928–1926, S. 47 . Sehen wir die Vorderseite eines farbigen Gegenstandes, so erwarten wir irgendeine Farbigkeit auf der Rückseite. Dies bedeutet nicht, dass die Erwartungen sich beliebig und frei erfüllen lassen, denn die „allgemeine Unbestimmtheit hat einen Umfang freier Variabilität“48 Husserl, Analysen Zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- Und Forschungsmanuskripten 1928–1926, S. 43 . innerhalb eines vorgeschriebenen und vorgezeichneten Stils.49 Husserl, Ideen Zu Einer Reinen Phänomenologie Und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. [1950], S. 102 ; Husserl, Zur Phänomenologie Der Intersubjektivität. Texte Aus Dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, S. 430 ; Husserl, Erfahrung Und Urteil. Untersuchungen Zur Genealogie Der Logik [1939], S. 108 . Dies gilt auch für den „Spielraum möglicher Welten“:

Habe ich Welt in meinem Welthorizont, so habe ich nicht nur die faktische, endliche und mit Horizont behaftete Welt, sondern auch meine in infinitum konstruierbare Welt als Welt möglicher Erfahrungen im Spielraum einer Unendlichkeit von Möglichkeiten, wie meine Welt sein könnte, die doch eine Wirklichkeit ist – in infinitum unbekannt. Ich stehe in einem Spielraum möglicher Welten [H.d.V.], von denen eine mit dem Kern der jetzigen eigentlichen Erfahrung zweifellos ist.50 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 56 f.

Diese Welten stehen in Beziehung zueinander dank der von den kommunizierenden Subjekten vollzogenen Synthesis der unterschiedlichen Welten und haben notwendig den Charakter von „‚Erscheinungen‘ derselben einen Welt“. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jede solche Synthesis eine „Wesensgemeinschaft der Struktur dieser ‚Welten‘“ voraussetzt.51 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 57 . So geht durch „alle denkbare Synthesis von subjektiv und historisch geltenden Welten hindurch eine apriorische Struktur“. Natürlich hat jeder von uns diese Welt als ein subjektiver Modus bewusst, denn sie ist „selbst mögliches Erfahrungsobjekt so gut wie andere Kulturgebilde“. Jeder von uns hat nicht nur Objekte der Erfahrungswelt bewusst, sondern ebenso Theorien, die „Seiendes ‚ausdrücken‘, ‚mitteilen‘, im Besonderen theoretisieren“. Diese sind die Kulturobjekte, die „gemeinschaftlich vertraute Welt“ und eine „vergemeinschafteten Habitualität“ voraussetzen.52 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 58 . Unsere Interessen und Erfahrungen mögen in Harmonie oder Disharmonie, in Einstimmigkeit oder Streit stehen, sie sind aber durch diese apriorische Struktur vereint: Die Weltkonstitution verläuft von jeder von uns aus, aber „in Konnex“ mit den anderen Mitsubjekten und ihren Welten, so dass „im universal fortschreitenden Konnex sich immerzu eine und dieselbe Welt herausstellen kann, herausstellen muss“,53 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 57 . betont Husserl. Ein Koexistieren von widerstrittigen Welten setzt für Husserl eine gemeinsame apriorische Struktur voraus, so dass diese disjunktiven Welten eine kompossible Welt bilden. Das wäre, für Husserl, eine „Ontologie der Welt“, als „eine apriorische Anthropologie“:

„Was in ihr festgestellt wird für eine erdenkliche Welt überhaupt, gilt in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeinheit, als den invariablen Wesenssinn von dieser und einer Welt überhaupt umgrenzend und somit als Wesensform aller disjunktiven, möglichen Faktizität.“54 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 57 .

In dieser Welt besteht also eine Offenheit der Möglichkeiten, wodurch sich die einzelnen Erfahrungswelten, genauso wie die Eigenschaften der Gegenstände, offen gestalten können. Diese Möglichkeiten weisen einen ‚geschlossenen‘ Umfang auf; denn diese Unbestimmtheit ist vorgezeichnet durch das allgemeine Wesen und den Sinn des Erfahrungsgegenstandes. Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Aufgabe der Phänomenologie darin besteht, die Sinnbildungs- und Sinnstiftungsprozesse aufzuklären und zu beschreiben, die mit Erfahrungsvorgängen und deren Ausdruck einhergehen. Der Begriff des Sinnes umfasst nicht nur die sprachlichen Ausdrücke, sondern es werden zugleich Weltphänomene mitgemeint, d.h. Wahrnehmungen und Handlungen, Ereignisfolgen und dingliche Ordnungen in der Welt.

Diese mögliche Erfahrbarkeit und Sinneserfassung, die eine stets mögliche Kompossibilität der Welt bzw. Heim und Fremdwelten voraussetzt, setzt Borges in Frage, gerade durch narrative Gedankenexperimente.

2. Borges

2.1. Einführung

Die Erzählungen des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges (1899–1986) bieten uns an, die Grenzen des alltäglich Denkbaren zu überschreiten und die Gegenüberstellung zwischen Wirklichkeit und Wunderbarem zu überwinden. Er nimmt Rekurs auf philosophischen Einsichten, die ihn nicht als spezifischen Lösungen zu existenziellen Problemen, sondern vielmehr als Gedankenexperimente interessieren: Diese Einsichten werden in ihrer Struktur und Sinn ins Paradoxale getrieben, nicht aber in etwas Willkürliches, sondern sie werden sozusagen in freier und imaginativer Variation, ihre innere Logik folgend, in ihren letzten Konsequenzen verfolgt. Damit fügt er der alltäglichen Ordnung und Gesetzmäßigkeit einen Bruch zu, denn diese neuen Welten gehören nicht dem Reich unserer Sinnlichkeit und unserer Anschauungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, sie überschreiten jeglichen Erfahrungsbereich. Borges Geschichten versinnlichen die abstrakte Gestalt der philosophischen Ideen und ihrer Wirkungsmacht. So kann die Literatur Borges‘ m.E. nicht als „hyperreell“ bezeichnet werden,55 de Toro, „Borges Und Die Hyperräume“, S. 52 . da sie nicht anstelle der Wirklichkeit gesetzt wird, vielmehr lebt sie gerade von der Ununterscheidbarkeit von Wirklichem und Fantastischem. Denn Borges bietet uns an, die Grenzen des alltäglich Denkbaren zu überschreiten und die Gegenüberstellung zwischen Wirklichkeit und Wunderbarem zu überwinden.

Aber diese „exzessive Idee der Literatur“, wohin Borges uns mitreißt, kennzeichnet eine Tendenz der Literatur, die danach trachtet, der Gesamtheit des Existierenden und Nicht-Existierenden zu umfassen, so als ob die Literatur sich nur als eine „totalitäre Utopie“ rechtfertigen und aufrechterhalten ließe.56 Genette, L’utopie Littéraire, S. 126 . Die Funktion, welche philosophische Einsichten in der Literatur Borges’ erfüllen, besteht darin, mit ihnen vorläufige „Inventare ihrer Formen“ zu konstruieren,57 Barrenechea, La Expresión de La Irrealidad En La Obra de Borges, S. 82 . die unsere alltäglichen Gewissheiten erschüttern und zu neuen Motiven, Handlungsrichtungen und kulturellen Werten führen können. Dafür sucht Borges in Philosophie, Theologie und Literatur die Antworten zu den existenziellen Fragen, die sich von der doxa, der allgemeinen Meinung, unterscheiden. Bei Borges besteht hierdurch eine Spannung zwischen fiktionaler Erzählung und philosophischer Reflektion, die „das Fantastische“ im Sinne Tzvetan Todorovs – im Einklang mit Roger Caillois – ausmachen:58 Caillois, Au Coeur Du Fantastique, S. 161 . „Das Fantastische ist stets ein Bruch mit der geltenden Ordnung, Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen“.59 Todorov, Einführung in Die Fantastische Literatur, S. 31 . Es ist jedoch ein Fantastisches, das kein Willkürliches darstellt, vielmehr versinnlichen die aus Worten bestehenden Bilder Borges‘ die abstrakte Gestalt der philosophischen Ideen. Borges erinnert uns daran, dass was wir Wirklichkeit nennen, eigentlich eine Bewusstseinsleistung ist, insofern es dem Gegebenen einen Sinn verleiht. So führt Borges eine eigenartige Epoché im Sinne der Phänomenologie aus: Sie besteht in der Einklammerung der Welt als selbstverständliche Alltagswelt. Das Bewusstsein, wie auch die Sprache Borges, sind also kreativ, beide erschaffen Sinn, beide erschaffen Erfahrungswelten, seien sie faktische oder phantasierte.

2.2. „Der Aleph“ – Die inkompossiblen Welten

Kommen wir zum Aleph, eine Narration über inkompossible Welten, die aber gerade dadurch die Idee einer einzigen Welt möglich machen. Was diese „Idee“ der Welt angeht, so verweist sie auf ein räumliches Netzwerk aus endlich viele einstimmigen Erfahrungen, die weit über sich hinausweisen und damit eine mögliche Welt entwerfen. Daraus ergibt sich, dass eine mögliche Welt eine mögliche Erfahrbarkeit besagt. In diesem Sinne bezeichnete Maurice Blanchot das Aleph Borges‘ als eine Welt, die in der unendlichen Summe ihrer Möglichkeiten „pervertiert“ ist.60 Blanchot, El Libro Que Vendrá, S. 109–112 . Der begrenzte Raum, der im augenblicklichen Sehen in einer undenkbaren Simultaneität gegenwärtig ist, trägt in sich den unendlichen Raum in seiner Ausdehnung: hierdurch öffnet sich ein Sehfeld, das das Blickfeld weit überschreitet. Es handelt sich um die Unendlichkeit des Weltraumes, dem keine mögliche Erfahrung zukommt, bzw. um einen Entwurf einer unmöglichen Welt, der sich im Raum des Textes materialisiert, wie Vittoria Borsó hervorhebt. Dieser Autorin zufolge gehe es in seinen Texten um eine Reflexion des „Verhältnisses von Topologie und Topographie“: ‚Topologie‘ als Lehre des Raums und der „kritischen Reflexion über die Bedingungen der Produktion, der Dynamik und der Emergenz von Raum“, und ‚Topographie‘ als Szenario von Repräsentation. Topologie und Topographie sind in seinen Schriften untrennbar verbunden insofern es, wie beim Aleph, zugleich um eine topologische Problemstellung, welche die „Repräsentation als das unlösbare Verhältnis zwischen Simultaneität und Chronologie bezeichnet“, wie auch um eine hermeneutische Tiefe des Textes geht.61 Borsó, „Topologie Als Literaturwissenschaftliche Methode: Die Schrift Des Raums Und Der Raum Der Schrift“, S. 280–282 . Narration und Raum selbst bzw. Raum des Textes oder der Sprache dürfen also bei Borges nicht als getrennte Bereiche angesehen werden.

So wird die Spannung zwischen Leben und Tod, zwischen der unmöglichen Repräsentation einer in einem Blick erfassten Raumunendlichkeit und der ebenso unmöglichen Repräsentation der im Augenblick erlebten Ewigkeit des Lebensflusses in den verschiedenen Dimensionen des Textes durch ihre topologische Textur wiedergegeben. „Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist“62Borges, „Das Aleph“, [1944–.], S. 381.: Die Erzählung spielt mit der Parallelität zwischen Zeichenoberfläche bzw. –tiefe und Topographie des Raumes, zwischen Sinn und Sagbarkeit:

„Da sah ich das Aleph.

Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. […] Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist. Etwas davon will ich gleichwohl festhalten. […] Im Durchmesser mochte das Aleph zwei oder drei Zentimeter groß sein, aber der kosmische Raum war darin, ohne Minderung des Umfangs. Jedes Ding […] war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums sah.“63 Borges, „Das Aleph“, [1949], S. 381f.

Der Schriftsteller staunt nicht über die Möglichkeit eines allumfassenden bzw. eines göttlichen Sehens, sondern über die paradoxale Struktur einer Sprache, die der diachronischen Verkettung der Zeichen bedarf und sich der Serialisierung widersetzt, da ihr Objekt sich als Augenblick und Simultaneität gibt: Es entsteht somit eine Paradoxie zwischen Simultaneität und Chronologie. Das Aleph ist das Sinnbild dieser paradoxalen Erfahrung einer Welt, die aus unzähligen Inkompossibilitäten im Sinne Leibniz besteht: Eine Unendlichkeit der möglichen Perspektiven, die untereinander heterogenen Ausdrücken der einen Welt ergeben. Es ist gerade dieses „Surplus an Virtualität“ bzw. an Unwirklichkeit, was diese eine Welt „als die wirklichste aller möglichen erscheinen lässt“.64 Schaub, Gilles Deleuze Im Kino: Das Sichtbare Und Das Sagbare, S. 159 . Es entsteht hierdurch eine Welt, die aus einer Unendlichkeit möglicher jedoch unstimmiger Erfahrungen besteht. Das Aleph bildet somit genau das Gegenteil der Lebenswelt, die ebenso durch eine Unendlichkeit möglicher Erscheinungen charakterisiert ist, die aber untereinander kompatibel sind. Die Wahrnehmung solch einer unendlichen Erscheinungsmannigfaltigkeit erfolgt perspektiv und sukzessiv, wodurch einerseits, die aktuell gesehene Dingseite die zuvor Gesehene überdeckt und andererseits, sich im Übergang von einer Perspektive zur Anderen ebenso die Eigenschaften der Gegenstände ändern können. Daher ist für die Phänomenologie selbst ein göttliches Sehen an die Wahrnehmungsgesetze gebunden. Der Betrachter Borges‘ ist dagegen fähig, diese Perspektiven simultan zu erfassen, wodurch sich die Unmöglichkeit ergibt, diese perspektivische und qualitative Vielfalt in einer Einheit zu synthetisieren. Daher ist dieser Betrachter eigentlich außerstande, Gegenstände zu erkennen und folglich, ihnen einen Sinn zu verleihen: In seiner Verzweiflung „fühlte er Schwindel und weinte“. In ähnlicher Weise versteht sich der Textraum der Erzählung als Folge der Vielfältigkeit dieser Perspektiven, die zwischen Konkretheit und Abstraktion, zwischen Ewigkeit und Augenblick schwanken:

„[I]ch sah Weintrauben, Schnee, Tabak, Metalladern, […] sah das Räderwerk der Liebe und die Veränderung des Todes, sah das Aleph aus allen Richtungen zugleich, sah im Aleph die Erde, und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Gesicht und meine Eingeweide, sah dein Gesicht und fühlte Schwindel und weinte, weil meine Augen diesen geheimen und gemutmaßten Gegenstand erschaut hatten, dessen Namen die Menschen in Beschlag nehmen, den aber kein Mensch je erblickt hat: das unfaßliche Universum.“65 Borges, „Das Aleph“, S. 383 .

Was dieser Blick in dem Aleph offenbart, ist zwiespältig Zum einen, und betrachtet aus der Sicht der subjektiven Erfahrung, erscheint die Verflechtung von Subjekt und Welt auf der Textoberfläche, zum anderen tauchen die ‚Anderen‘ und ihre Weltentwürfe in der Texttiefe auf. Es handelt sich also um die dichte räumliche Textur der Welt, in der nicht nur Subjekte und ihre möglichen Erfahrungen, sondern auch ein intersubjektiver Weltentwurf eingewoben ist, der sich jeglicher Erfahrbarkeit entzieht: eine unmögliche Welt. Hier stößt man an die Grenzen des Sagbaren und des Erschließbaren.

2.3. „Die Bibliothek von Babel“: ein räumliches Labyrinth und eine transfinit unendliche Welt:

Die Bibliothek von Babel ist dagegen, das Sinnbild eines mathematisch ideellen Kosmos, der außerhalb der Zeit existiert; die Bibliothek ist daher unendlich und ewig. Der Traum von Alexandria, die Vorstellung einer universalen Bibliothek, bildet den mythologischen Kontext der Geschichte. Die Bibliothek wird hier als Universum bzw. als labyrinthische Konstruktion reiner Ordnung konzipiert, ein literarisches Motiv, das es bereits seit dem 4. vorchristlichen Jahrhunderts gibt. Als Abbild der Stadt wirkte das Labyrinth auf magische Weise abwehrend und schützend zugleich, ihre äußeren Ränder schützten die Stadt als heiliger Bezirk und Abbild der Welt. So auch die Bibliothek von Babel: Sie ist das Sinnbild eines mathematisch ideellen Kosmos, der außerhalb der Zeit existiert; die Bibliothek ist daher unendlich und ewig. Die exakte Struktur der Bibliothek, dieser platonische Kosmos bzw. im Sinne Husserls idealisierte Welt, steht im starken Kontrast zu ihrer Innenwelt, der sinnlichen Welt der Bücher und der Leser: In ihr herrschen Unordnung, Chaos, Abwesenheit von Wissen, Sinn und Identität; sie entspricht sowohl einem absoluten Gedächtnis, das unvorstellbar ist, als auch einem universalen Wissen, das unverfügbar ist. Das zentrale Motiv der Geschichte ist die Suche nach einem Sinn, nach einem absoluten Buch, der alles enträtselt. Der Schlüssel liegt in der Anerkennung, dass der Sinn nicht vor oder hinter uns, sondern bereits in uns ist: Es handelt sich um eine Offenbarung, die jeder für sich heraufbeschwören soll.

Die Bibliothek steht nicht nur für das universelle, nie endende Wissen, sondern ist das Spiegelbild des Universums, und sie enthält die Totalität möglicher Bücher in allen vorstellbaren Sprachen geschrieben, dessen Inhalt unverständlich oder sogar widersprüchlich ist. Die Vorstellung einer vollständigen Bibliothek, worin eine begrenzte Menge von Elementen oder Buchstaben in vielfältiger Weise kombiniert sind, beruht auf Prinzipien der Kombinatorik, eine Disziplin,66 Vgl. Stocker, Schrift, Wissen Und Gedächtnis. Das Motiv Der Bibliothek Als Spiegel Des Medienwandels Im 20. Jahrhundert, S. 168–172 Die Kombinatorik ist eine Disziplin, die auf den spanischen Gelehrten Ramon Llull (1232 -1316) zurückzuführen ist. Vgl. Borges, „Die Denkmaschine des Raimundus Lullus“, von 1937. die Borges begeistert haben soll. So besagt das grundlegende Gesetz der Bibliothek,

„daß sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch seien, aus den gleichen Elementen bestehen: dem Abstand, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets. Auch führte er (der Entdecker dieses Prinzips) einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt haben: In der Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er, daß die Bibliothek total ist, und daß ihre Regale alle nur möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken läßt, in sämtlichen Sprachen.“67 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 154 f.

Denn „die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch“:68 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 160 . Nur ein „ewiger Wanderer“ – wie Borges ihn träumt – könnte feststellen, dass dieselben Ereignisse in derselben Unordnung wiederkehren;69 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 160 . vorausgesetzt es handelte sich um ein Werden, der wie das Alphabet im Falle des Buches, aus den der Art nach gleichen und der Zahl nach begrenzten Elementen besteht. Die Kombinationsmöglichkeiten der Elemente bzw. Geschehnisse sind aber untereinander unendlich, so dass die Grundlage der These der ewigen Wiederkehr Nietzsches zerstört wird, wie Borges selbst anhand der Theorien Cantors in der Schrift Die Lehre von den Zyklen bei Nietzsche untersucht.70 Vgl. Borges, „Die Lehre von Den Zyklen“. Cantor definiert eine transfinite Menge als eine unendliche Zahlenmenge, wie die unendliche Anzahl der Punkte im Universum, deren Glieder sich ihrerseits in unendliche Reihen aufspalten lassen, so dass eine unendliche Menge jene Menge ist, die einer ihrer Teilmengen gleich sein kann. Das heißt, in jeder Menge können wir immer noch mehr Punkte in unendlicher Zahl einfügen, so dass jede Menge unendlich teilbar ist: In Worten Cantors:

„eine unbegrenzte Stufenleiter von bestimmten Modi […], die ihrer Natur nach nicht endlich, sondern unendlich sind, welche aber ebenso wie das Endliche durch bestimmte, wohldefinierte und voneinander unterscheidbare Zahlen determiniert werden können.“71 Cantor, „Über Unendliche Lineare Punktmannigfaltigkeiten“, S. 176 .

Dazu Borges:

„Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen [...] von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne Ende [...] Ich behaupte, daß die Bibliothek unendlich ist. [...] Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck und deren Umfang unzugänglich ist.72 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 151 f.

Daraus folgt für Borges: „Wenn also das Universum aus einer unendlichen Zahl möglicher Größen beseht, so folgt daraus unabdingbar, s. dass auch eine unendliche Zahl von Kombinationen in sich fassen kann“ (Borges 2000 [1935], 82f.),73Borges, „Das Aleph“, 82f .wodurch die Wiederkunft der Ereignisse, der Wiederholung einer Bücherordnung oder der Durchquerung aller Strecken unmöglich wäre. Selbst wenn man die These der Wiederholung akzeptiert, muss man zugeben, dass der Zugang zur Aufbaulogik, sowohl der Bibliothek wie des eigenen Lebens, dem Menschen verwehrt bleibt, da die Menschen wüssten, dass ihr Schicksal schon geschrieben ist, und dass ihr Leben nach einer unvermeidlichen und vergeblichen Suche nach Sinn organisiert wurde. Daraus erfolgt, wie Nietzsche es treffend betonte, nur der „Überdruss“ und die Verneinung des Lebens,74 Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Einzelbänden, S. 274–275 . in anderen Worten, der Fatalismus:

„Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es in irgendeinem Regal des Universums ein totales Buch gibt; ich flehe zu den unerkannten Göttern, es möge einen Menschen geben [...], der es untersucht und gelesen hat. Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht für mich sind, mögen sie doch für andere sein. [...] möge in einem Augenblick, in einem Wesen Deine ungeheure Bibliothek ihre Rechtfertigung finden“75 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 158 .

Wissen und Sinn sind in dieser göttlichen Bibliothek aufbewahrt, jedoch dem Menschen unzugänglich. Die Bewohner der Bibliothek von Babel suchen nach der einen Wahrheit, dem einen Sinn. Angesichts der Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens verfallen sie in Irrationalität und Gewalttaten. Diese Suche aber „lenkt mich von der gegenwärtigen Verfassung der Menschen ab. Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.“76 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 159 . Die Suche nach einem göttlichen Wissen, der, falls gefunden, unmöglich zu erschließen wäre, lenkt uns davon ab, dass der Sinn von uns konstituiert wird: Nur für uns und durch uns erhält das Seiende einen Sinn. Der Sinn ist nicht außer uns, sondern in uns.

Diese Welt aber ist gespaltet: Zum einen die Welt der Leser, die Erfahrungswelt, zum anderen die Welt der Bibliothek, die eine idealisierte sechseckige Struktur aufweist und die Totalität der Bücher enthält. Die Bibliothek ist mit dem Universum deckungsgleich, sie bildet, im Gegensatz zur perspektivischen Welt der Leser, eine aktuale Unendlichkeit, so dass die Bibliothek nicht nur eine unendliche Mannigfaltigkeit von Perspektiven zulässt, sondern die Totalität der Bücher umfasst:

„Als verkündet wurde, die Bibliothek umfasse alle Bücher, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. [...] Das Universum war gerechtfertigt, das Universum bemächtigte sich jäh der schrankenlosen Dimensionen der Hoffnung. [...] Die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Schmälerung durch Menschenhand verschwindend gering ist.“77 Borges, „Die Bibliothek von Babel“, S. 155–157 .

Die totale Bibliothek von Babel „la biblioteca total“, übersetzt sich selbst in das interlinguale Homonym „pan“, was griechisch äquivalent mit dem deutschen Wort „Gesamt“ ist. Hiermit meint Borges möglicherweise das „apeiron“ Anaximanders, welches die Totalität alles Seins und die Unmöglichkeit des Nicht-Seins bedeutet. Das apeiron gleicht einem ungeheuren Behälter, der die Gesamtheit des Seins, also hier, die Gesamtheit der Bücher, in sich umfasst. Da das Nicht-Sein im apeiron ausgeschlossen ist, ist dieses auch ewig, so wie die Bibliothek Borges‘. Diese aktuale Unendlichkeit der Bibliothekstruktur und ihr ewiges Sein steht im scharfen Gegensatz zur transfiniten Unendlichkeit der subjektiven Erfahrungen der Leser, also zu ihrem lebensweltlich endlichen Sein. Die Bibliothek ist aber in einem zweifachen Sinn ein Idealisierungsprodukt: Sie enthält ein allumfassendes Wissen und sie weist eine geometrische Struktur auf, ein Sechseck, das beliebig mit anderen kombinierbar ist und keine bestimmte Richtung aufweist: Zusammen bilden sie ein Wabennetz, das unendlich erweiterbar oder reduzierbar ist, nach allen sechs Seiten des Sechsecks. Die Bibliothek weist somit eine undifferenzierte, gleichmäßige Wabenstruktur auf, in der die in ihr eingeschlossenen Elemente – die Bücher – sich ebenso undifferenziert verteilen. Wie oben erwähnt aber, die Produkte der Idealisierung strömen in die Lebenswelt ein: Auch in der Erzählung Borges‘, in der Suche nach einem Buch, das die aktuale Unendlichkeit des Wissens enthält, sehen sich die Menschen gezwungen, das lebensweltlich Unmögliche zu schaffen: Die transfinite Unendlichkeit der Bibliothekswege zu durchlaufen.

Im Gegensatz zu ihrer idealisierten Struktur und ihrem unfassbaren Inhalt ist die Bibliothek Borges‘ als unendliches Universum der Literatur das Sinnbild der Welt im phänomenologischen Sinn selber: Eine Welt als geschlossene Totalität, die eine transfinite Unendlichkeit von möglichen Abschattungen bzw. Wege enthält. Die Welt im Sinne Husserls ist ebenso unendlich bestimmbar, weil die Erfahrung unendlich erweiterbar ist. Unvollkommen bestimmt zu sein gehört zum Wesen der Welt im phänomenologischen Sinne. Eine solche Welt ist erfahrbar, jedoch nur teilweise innerhalb einer ebenso begrenzten Lebensdauer, so dass „ihr Umfang unzugänglich“ ist. Dieses Wissen ist dem Menschen lebensweltlich zugänglich, es gehört zu den doxischen Wahrheiten; erkenntnistheoretisch ist dies aber nicht der wahre Grund: Wie Borges in Die Lotterie in Babylon erkennt, „die Unwissenden meinen, unendliche Ziehungen erforderten unendliche Zeit; in Wahrheit braucht die Zeit nur unendlich teilbar zu sein […].“78 Borges, „Die Lotterie in Babylon“, S. 141 . Unendliche potentielle Teilbarkeit im Sinne Aristoteles bedeutet, dass ein Kontinuum unendlich in immer kleineren Teilen teilbar ist. In der Auffassung Borges‘ bedeutet dies, dass ungeachtet dessen, wie viele Sechsecke schon durchquert sind, unendlich kleinere, die in größeren enthalten sind, durchquert werden können, so dass deren Außengrenze nie erreicht werden kann. Wichtig ist hier zu erkennen, dass das Unendliche nicht dasjenige ist, was kein Ende hat, sondern ein Ganzes, das Teile aufweist, deren Elemente so zahlreich sind wie diejenigen des Ganzen: Wie die Verzweigungen in den Labyrinthen der Bibliothek bildet auch die Lebenswelt ein endliches, wohldefinierbares Ganzes, das, wegen seiner unendlichen Abschattungsmannigfaltigkeit, unbegrenzt viele Anschauungen (Husserl) und Räume (Borges) enthält. So besteht eine Homologie zwischen den literarischen Weltkonstruktionen Borges’ und dem Spielraum von konstruierbaren möglichen Welten der Phänomenologie, von denen, wie beide Autoren erkennen, eben nur eine, nur ein Bruchstück davon, lebensweltlich erfahrbar und erfassbar ist.

2.4. „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“: Ein zeitliches Labyrinth und der Bruch mit der Welt als Verweisungszusammenhang

In „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ wird ein zeitliches Labyrinth erfunden, das mit der Welt als Verweisungszusammenhangs bricht. Denn hier beschreibt Borges ein Labyrinth, der nicht räumlich wie in der Bibliothek von Babel, sondern zeitlich ist: Eine Überlappung verschiedener Schicksalsnetze, dessen Elemente oder Ereignisse sich unendlich unterschiedlich kombinieren können, so dass eine Vielfalt inkompossibler Welten entsteht. In dieser Geschichte befindet sich der Mensch vor ständigen Gabelungen des Weges, die sich durch das subjektive Zeiterlebens ins Unendliche multiplizieren können. Wie auch in der Bibliothek von Babel, beschreibt Borges ein unendliches, jedoch begrenztes Labyrinth, das hier aus Zeit besteht.79 Vgl. Breuer, „Philosophie Als Literatur Bei Nietzsche, Deleuze Und Borges. Augenblick, Ewigkeit Und Wiederholung Als Existenzielle Erfahrungen Der Zeit“. Borges lässt hier seinem Protagonisten, Ts’ui Pên, ein Zeitlabyrinth entwerfen:

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen’ war der chaotische Roman. Die Wendung: ‚verschiedene Zukünften (nicht allen)‘ brachte mich auf das Bild der Verzweigung in der Zeit, nicht im Raum. [...] In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts´ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. [...] Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfasst alle Möglichkeiten. [...] Die Zeit verzweigt sich beständig zahllosen Zukünften entgegen.“80 Borges, „Der Garten Der Pfade, Die Sich Verzweigen“, S. 169–172 .

Es wird hier von einem gefundenen Manuskript aus dem ersten Weltkrieg erzählt; in diesem Manuskript wird wieder von einem Chinesen und einem englischen Sinologen berichtet, der wiederum von einem chinesischen Astronomen Ts‘ui Pên erzählt, welcher ein verschollenes, unendliches Buch in der Form eines Labyrinths geschrieben haben soll. In der labyrinthischen Gestalt nicht nur der Narration Borges‘, sondern des Buches des Protagonisten verschränken sich Raum und Zeit zu einem Labyrinth, der sich in einem zeitlichen Webmuster erstreckt. Auch hier spielt Borges mit den Zeichen der Kultur, die aber hier ein – wenngleich schwer zu entwirren – Netzwerk bilden: So benutzt der Protagonist den Mord an „Stephen Albert“ als Zeichen für die Deutschen, dass es die Stadt „Albert“ war, die bombardiert werden sollte. Diese Geschichte lässt sich phänomenologisch als ein sprachliches wie auch ein zeitliches Verweisungszusammenhang auffassen, worin ein Sprachzeichen oder Erscheinung auf ihre mögliche Modifikation verweist und dadurch Sinn gebildet wird.

Ein solcher Verweisungszusammenhang wird phänomenologisch als einen Motivationszusammenhang aufgefasst: Wie wir gesehen haben, jede faktische Wahrnehmung eines Dinges deutet auf einen Horizont möglicher Erscheinungen desselben Dinges, die in der aktuellen Wahrnehmung nicht aufgenommen werden können. Sie sind also offene, „motivierte Möglichkeiten”81Husserl, Husserliana. 16: Ding Und Raum: Vorlesungen 1907 / Hrsg. von Ulrich Claesges. : Die subjektiven Bewegungen indizieren eine gesetzmäßige Bildverwandlung, wobei die Umstände als das Motivierende, die Erscheinungen als das Motivierte gegenüberstehen. Diese Gesetzmäßigkeit besagt, dass ein zunächst als ruhend charakterisiertes Bild in seiner Überführung wieder ein Ruhendes ergibt.

Diese Gesetzmäßigkeit erhält bei Borges‘ einen Zusammenbruch, denn die Zeichen verbinden sich nicht gemäß den Gesetzmäßigkeiten unserer Sinnlichkeit, d.h. gemäß der zeitlichen Sukzession und des räumlichen Nebeneinanders:

„In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht, in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich, in anderen ich, aber nicht Sie, in wieder anderen wir beide. [...] Es war mir, als sei der feuchte Garten ums Haus bevölkert von einer Unzahl unsichtbarer Personen. Diese Personen waren Albert und ich, geheim, geschäftig und vielgestaltig in anderen Zeitdimensionen.“82 Borges, „Der Garten Der Pfade, Die Sich Verzweigen“, S. 172 .

Hier werden wir mit einem Bruch mit der einen Welt als motivierter Verweisungszusammenhang konfrontiert. Was hier entsteht, ist eine Vielfalt inkompossibler Welten, die aus den gleichen Elementen bestehen, jedoch untereinander in unterschiedlichen Ordnungen verbunden sind. Es handelt sich um einen „Spielraum möglicher Welten“ im Sinne Husserls, die nicht als potential, sondern alle aktual bzw. zugleich bestehen, und die keine vergemeinschaftete Welt voraussetzen: Denn nur eine Welt ist dem Subjekt „mit dem Kern der jetzigen eigentlichen Erfahrung“ zweifellos,83 Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen Der Vorgegebenen Welt Und Ihrer Konstitution. Texte Aus Dem Nachlass (1916–1937), S. 57 . die er mit seinen Mitsubjekten teilt. Wenn Leibniz sagt, dass unsere wirkliche Welt „die beste aller möglichen Welten“ sei, so setzt sie aber das „Scheitern“ des „klassischen Guten“ voraus. Denn nur „auf den Rücken der Verdammten“ lässt sich die beste aller möglichen Welten errichten – eine Welt, die eben die beste ist, weil sie „geeignet ist, Neues hervorzubringen und aufzunehmen“.84 Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, S. 234 . Man könnte denken, dass die vielfältigen „virtuellen“ Welten „einen Sinn für die eine wirkliche Welt haben“.85 Schaub, Gilles Deleuze Im Kino: Das Sichtbare Und Das Sagbare, S. 159 . In der Geschichte Borges‘ gibt es aber keinen Kontrast zwischen der einen wirklichen Welt und den möglichen Welten: Diese Welten existieren parallel und sind alle zugleich ‚wirklich‘. Diese eine Welt Borges‘ steht aktual im Konnex mit anderen zugleich bestehenden Welten, so dass ein Widerstreit aktual existierender Welten entsteht. Es stimmt schon, dass in jeder Ordnung ein stimmiger Erfahrungszusammenhang besteht; untereinander schließen diese Ordnungen aber Widersprüche nicht aus, so dass ein Weltentwurf inkompossibler Begebenheiten entsteht, der nicht in einer Einheit synthetisiert werden kann. Sie ergeben somit eine unbegrenzte Anzahl verschiedener Schicksalsnetze, dessen Elemente sich unendlich unterschiedlich kombinieren können: ein Weltentwurf, der nur im narrativen Raum bestehen kann. Das Strittige, das die Narration als aktuell koexistierend denkt, kann in der Lebenswelt nur in einer Synthese bzw. im Auflösen des Widerspruchs erfahren werden.

2.5. „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“: Die Umkehrung des Repräsentationsverhältnisses, Die Sprache als Weltschöpferin

Im Vorwort zur Ordnung der Dinge spricht Michel Foucault von Jorge Luis Borges und verwendet den Begriff der Heterotopie um einen Ort der Sprache bzw. der Bücher zu bezeichnen,86 Vgl. Foucault, Die Ordnung Der Dinge, Eine Archäologie Der Humanwissenschaften. an dem die „Syntax“ keine logische oder methodische Ordnung länger gewährleisten kann. Das Beispiel der Einteilung des Tierreichs in einer erfundenen chinesischen Enzyklopädie aus Borges’ Die analytische Sprache John Wilkins’ dient der Reflexion über das Phänomen des im 17. Jahrhundert entstandenen Enzyklopädismus. Es geht hier um eine präzise Form der Sprachlichkeit bzw. Textualität, die den Anspruch erhebt, Wissen in Buchstaben zu totalisieren und dessen Inszenierung von Foucault als Bibliotheksphänomen bezeichnet wird. Foucaults Heterotopie bezeichnet den Raum der Bücher bzw. die Bibliothek einerseits als einen Ort, worin die Literatur ihre eigene Verwiesenheit auf andere Bücher erkennt und somit ein Archiv bildet, andererseits als ein ordnender Raum, der Wissen strukturiert und zugleich begrenzt.87 Vgl. Breuer, „Die Zwittereinheit Terrain Vague/Heterotopie in Den Frühen Werken Jorge Luis Borges’“. In dieser Geschichte hat John Wilkins die Welt „in tausend Unterteilungen zerstückelt“ und sie in einer willkürlichen Universalsprache eingebunden, die „das menschliche Denken organisieren und umfassen sollte“.88 Borges, „Die Analytische Sprache von John Wilkins“, S. 112 . Borges räumt skeptisch ein,89 Vgl. Zepp, Jorge Luis Borges Und Die Skepsis. dass es „bekanntlich [...] keine Klassifikation des Universums [existiert], die nicht willkürlich und mutmaßlichen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.“90 Zepp, Jorge Luis Borges Und Die Skepsis.

Bei Borges verkörpert die Bibliothek darüber hinaus den Ort des Phantastischen: Einerseits repräsentieren die Enzyklopädien die Summe des Bibliothekswissens, andererseits bilden sie den Rahmen, aus denen das Phantastische in die Welt eintreten kann. In Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius stellen teils reale, teils fiktionale Enzyklopädien den Leitfaden dar, an dem der Leser durch Orte geführt wird, die, obwohl sie imaginär sind und eine utopische Gegenwelt darstellen, in der alphabetischen Ordnung der Enzyklopädie durchaus existieren, aber nicht von Wörtern der natürlichen Sprache vertreten sind: Enzyklopädien repräsentieren nicht die Welt sondern sind die schriftliche Materialisierung fiktionaler Welten; hier fallen topologische und semantische Heterotopien im Raum der Bibliothek zusammen.

Die Sprache wird nicht nur zur imaginären Karte einer neuen Welt, sondern sie schafft den realen Raum ab und erschafft ein eigener Sprachraum, in welchem Raum und Gegenstände zunächst einen metaphorischen Sinn haben. Aber in Tlön deckt sich die Landkarte nicht nur mit der Welt,91 Vgl. Knauth, „Heterotopie Und Heteroglossie in Tlön“. sondern diese wird von der Sprache allererst geschafft:

„Der Idealismus von Jahrhunderten und Aberjahrhunderten ist an der Wirklichkeit nicht spurlos vorbeigegangen. So ist es in den ältesten Gebieten von Tlön die Verdoppelung verlorener Gegenstände nichts Seltenes. Zwei Personen suchen einen Bleistift; die erste findet ihn und sagt nichts; die zweite findet einen zweiten nicht minder wirklichen Bleistift, der jedoch ihrer Erwartungen besser angepasst ist.“92 Borges, „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, S. 111 f.

In der Geschichte führt die Vorstellung eines Bleistifts bei zwei verschiedenen Personen zur Verdoppelung desselben. Hier werden „die Produkte der Einbildungen, die Fiktionen selbst“, wirkliche „Ereignisse“, denn die Tlöner glauben an die „performative Wirklichkeit“ ihrer Einbildungen“: Die „Simultaneität verschiedener möglicher Fiktionen in der Zeit“ und die zeitliche simultane Verwirklichung aller Fiktionen definieren in Tlön die Möglichkeit der Weltaneignung.93 Schaub, Gilles Deleuze Im Wunderland: Zeit- Als Ereignisphilosophie, S. 262–263 . In dieser Geschichte wird der Idealismus zur Paradoxie gesteigert: Nicht nur ist die Wirklichkeit von unserem Bewusstsein abhängig, sondern von ihm sogar erschaffen. Denn in Tlön droht die sprachliche Landkarte nicht mehr die Welt abzubilden, sondern sie gänzlich zu ersetzen: „El mundo será Tlön“, die Welt wird sich ganz in Tlön verwandeln. Diese schöpferische Macht der Sprache kommt in der Sprache von Tlön deutlich hervor: In ihr existieren die Substantive oder Nomen nicht; sie werden von Verbformen ersetzt, so dass die Welt nur aus zeitlichen Prozessen besteht: „Zum Beispiel gibt es kein Wort, das dem Wort ‚Mond‘ entspräche, aber es gibt ein Verbum, das ‚monden‘ oder ‚mondieren‘ lauten würde“.94 Vgl. Borges, „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“. Die Welt ist in einem beständigen Werden inbegriffen, sie bildet einen heraklitischen Fluss, für Borges wie auch für Husserl. Diese Welt weist außerdem eine vollständige Umkehrung nicht nur des Repräsentationsverhältnisses, sondern sogar des Konstitutionsprozesses auf: Die Sprache ist kein Ausdruck der Welt, sondern eine Schöpferin der Welt. In diesem Sinne erklärt Borges in Fiktionen, dass die Metaphysik ein Zweig der phantastischen Literatur ist. Man darf sich also die Frage stellen, inwiefern und in welchen Grenzen uns die Sprache die Welt zugänglich macht, und was sie uns verwehrt.

3. Schlussbetrachtung

Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass eine mögliche Welt mit einer möglichen Erfahrbarkeit zusammenfallen. Der Literatur wohnt eine Schöpfungsfreiheit ein, die die Philosophie wesentlich ermangelt. Denn die Philosophie als Phänomenologie ist an den Grenzen der Erfahrbarkeit des Gegebenen gebunden. In diesem Sinne inszenieren die labyrinthischen Bibliotheken Borges‘ nicht länger die Kongruenz zwischen Welt und Buch, sondern die Grenzen ihrer Kompossibilität; dennoch bilden die Welt der Bücher und das Buch der Welt eine Einheit: Es ist, als ob die Literatur sich nur als eine totalisierende Utopie und in einem ‚Raum’ rechtfertigen ließe, der unerwartete Beziehungen und widersprüchliche Begegnungen ermöglicht. Diese Überschreitung der Grenzen der Erfahrbarkeit ist auf Borges‘ Infragestellung der alltäglichen Gewissheiten zurückzuführen, wie ein Zitat Humes deutlich macht:

„‘Die Welt‘, schreibt David Hume, ‚ist vielleicht die rudimentäre Skizze irgendeines kindischen Gottes, der sie mittendrin liegen ließ, weil er sich ihrer mangelhaften Ausführung schämte‘; [...] Man darf noch weiter gehen; man darf vermuten, daß es kein Universum im organischen, vereinigenden Sinne dieses anspruchsvollen Wortes gibt. Wenn es eines gibt, wäre sein Sinn erst noch zu mutmaßen; wären zu erraten die Wörter, die Definitionen, die Etymologien, die Synonyme von Gottes geheimen Wörterbuch.“95 Borges, „Die Analytische Sprache von John Wilkins“, S. 112 .

Obwohl es „unmöglich ist, in das göttliche Schema des Universums einzudringen“ räumt Borges wie einst Nietzsche ein, dass wir auf ‚nützliche Fiktionen‘ wie „menschliche Schemata“ nicht zu verzichten brauchen, „auch wenn uns klar ist, daß sie provisorisch sind“.96 Borges, „Die Analytische Sprache von John Wilkins“, S. 113 . In dieser Urteilsenthaltung über den Sinn und die tatsächliche Wirklichkeit der Welt und in dieser Erfindung möglicher Universen, die gleichberechtigt die Existenz beanspruchen können, liegt gerade das von Borges gestellte Wagnis, auf das es sich einzulassen lohnt.

Diese phantasierten Welten der Literatur lassen sich nicht nur in der Philosophie, sondern ebenso in der Ästhetik verorten: Wie Husserl betont, in der ästhetischen Einstellung ist das Subjekt an der Erscheinung interessiert und nicht „an der Sache“ selbst, wie in der Gegenstandswahrnehmung;97 Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie Der Anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte Aus Dem Nachlass (1989–1925), S. 145 . d.h. wir hegen kein Interesse an dem Gegenstand in seiner Existenz (z.B. an einem Bild), sondern an dem, was darin erscheint (z.B. die Landschaft), und zwar unabhängig davon, ob diese Erscheinung mit der echten Landschaft selbst korrespondiert. Diese Erscheinung erhält im ästhetischen Bewusstsein eine „ästhetische Färbung“,98 Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie Der Anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte Aus Dem Nachlass (1989–1925), S. 389 . ferner auch eine ästhetische Bedeutung“,99 Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie Der Anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte Aus Dem Nachlass (1989–1925), S. 591 . insofern wir „in Gefühlen“ leben.100 Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie Der Anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte Aus Dem Nachlass (1989–1925), S. 391 . Denn in der ästhetischen Betrachtung erlebt das Subjekt ein „aktuelles ästhetisches Gefühl“, das mit einer „existentialen“, „ästhetischen Freude“ einhergeht.101 Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie Der Anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte Aus Dem Nachlass (1989–1925), S. 390 und 393 . So hat Husserl eine Grundlage für die ästhetische Erfahrung in der Unmittelbarkeit eines Gefühlserlebnisses geschaffen. Die labyrinthischen Welten Borges‘ stellen den paradigmatischen Ort für die Inszenierung dieses ästhetischen Erlebnisses und für die Infragestellung alltäglicher Gewissheiten dar.

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