Seit einigen Jahren gibt es eine Tendenz, die Angewandte Ethik in verschiedene Spezialgebiete aufzufächern und dafür teilweise von der Philosophie abzukoppeln. Letzteres geschieht von beiden Seiten: Fachleute aus den Bereichen, in denen sich moralische Fragen stellen, spezialisieren sich in Ethik und werden zu Fachethiker*innen. Philosoph*innen hingegen sehen keine Perspektive mehr darin, sich mühsam in diese Bereiche einzuarbeiten und ziehen sich stattdessen auf das philosophische Kerngeschäft zurück. Besonders deutlich und verbreitet ist diese Tendenz in der medizinischen Ethik. Moralische Fragen sind in der Medizin mittlerweile so wichtig, dass Ethik seit 2003 Teil des medizinischen Pflicht-Curriculums ist (geregelt in der Approbationsordnung) und etwa die Hälfte aller deutschen Krankenhäuser eine klinische Ethikberatung institutionalisiert haben, in der zertifizierte Ethikberatende tätig sind.1 Beide Entwicklungen sind aber fast völlig an der Philosophie vorbeigegangen. Mit verschwindenden Ausnahmen haben die klinischen Ethikberater*innen kein Philosophiestudium absolviert und die ethischen Studienanteile werden durch Lehrstühle an den medizinischen Fakultäten abgedeckt, auf die mit wenigen Ausnahme nur Ärztinnen und Ärzte berufen werden. Daran ist nicht immer etwas auszusetzen. Vermutlich ist es für die Beratenden nützlich, wenn sie sich bereits im Klinikalltag zu Hause fühlen; und für die Akzeptanz der Ethikausbildung ist es wahrscheinlich von Vorteil, wenn sie an den medizinischen Fakultäten verankert ist. Teilweise ist es aber auch fatal. Es hat u.a. massive Konsequenzen dafür, was unter medizinethischer Forschung verstanden wird und welche Wege sie geht.
Dazu gehört, dass es immer weniger selbstverständlich ist, für die Lösung theoretischer medizinethischer Probleme auf Überlegungen und Erkenntnisse anderer Teile der Philosophie zurückzugreifen, insbesondere auch der theoretischen Philosophie, und das ist in meinen Augen für den Fortschritt in der Medizinethik verheerend. Ich habe in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen versucht, deutlich zu machen, dass sprachphilosophische Überlegungen für die Debatten um den Hirntod2 und den Krankheitsbegriff3 erhellend sein können. Ähnliches gilt meines Erachtens für die metaphysische Diskussion personaler Identität.4 Und ich glaube auch, dass es mit Blick auf den Begriff der Potentialität wichtig ist, die angewandt ethische mit der theoretischen Philosophie zusammenzubringen.
Der vorliegende Text soll dazu nur einen ersten Anstoß geben. Ich möchte in ihm einen Überblick über einige der Fragen und Probleme gebe, in denen Potentialität eine Rolle spielt, um einen Eindruck davon zu geben, wo die Angewandte Ethik von einer Verbindung zur Potentialitätsdebatte in der theoretischen Philosophie profitieren könnte und vielleicht umgekehrt auch die theoretische Philosophie an die Vielschichtigkeit der real existierenden Potentiale erinnert wird. Damit das Thema nicht ausufert, werde ich meinen Überblick auf die medizinische Ethik beschränke und zudem alle Themen ignorieren, in denen es um Potentiale von medizinisch Tätigen (professionelle Kompetenzen, Tugenden) oder Dritter (von Angehörigen, der Gesellschaft …) geht. Auch mit diesen Einschränkungen erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
In der medizinischen Ethik ist nur selten explizit von „Potential“ und „Potentialität“ die Rede, am ehesten noch in der Debatte um den Status des Embryos. Um deutlich zu machen, warum ich trotzdem glaube, dass Potentialität für viele medizinethische Themen relevant ist, möchte ich kurz und untechnisch vorwegschicken, was ich mit dem Begriff der Potentialität verbinde, ohne dieses Verständnis aber philosophiehistorisch zu legitimieren oder an die aktuellen Debatten anzuschließen.
Von jemandem oder etwas zu sagen, er oder es habe ein Potential, heißt, ihm eine Eigenschaft zuzuschreiben. Ob jemand oder etwas diese Eigenschaft hat, hängt davon ab, was möglich ist und was nicht. Potentiale sind Möglichkeiten. Aber nicht alles, was möglich ist, ist ein Potential. Erstens muss es sich um eine Möglichkeit für die betreffende Person oder Sache handeln, d.h. sie muss in eine Realisierung irgendwie involviert sein. Der Fußballverein St. Pauli Hamburg hat vielleicht das Potential, in den nächsten Jahren in die Erste Bundesliga aufzusteigen, aber Arminia Bielefeld hat nicht das Potential, dass St. Pauli aufsteigt. Man kann nicht das Potential haben, dass mit irgendetwas anderem etwas geschieht. Dieses Merkmal ist keine Trivialität. Es gibt auch Eigenschaften wie die, Tante zu sein, die man haben kann, ganz ohne in ein Geschehen involviert zu sein (oder gewesen zu sein). (Das unterscheidet Tanten von Müttern.)
Jemandem oder etwas ein Potential zuzuschreiben, bedeutet aber mehr, als auf eine beliebige Möglichkeit hinzuweisen, was ihm geschehen könnte. Eine solche Möglichkeit kann es auch geben, ohne dass ein Potential vorliegt. So könnte beispielsweise ein gewaltiger Korruptionsskandal in der Bundesliga dazu führen, dass alle Erstligavereine disqualifiziert würden und die Zweite Liga komplett aufstiege. Diese Möglichkeit rechtfertigte es trotzdem noch nicht, beispielsweise auch Arminia Bielefeld selbst das Potential zum Wiederaufstieg zuzuschreiben. Der Grund liegt auch nicht allein in der Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich dieses Jahr wieder hin und wieder in Gremiensitzungen sitzen, aber deshalb habe ich noch lange nicht das Potential dazu. Jemandem oder etwas ein Potential zuzuschreiben, sagt etwas über die Erklärlichkeit einer eventuellen Realisierung dieser Möglichkeit aus. Potentiale sind Eigenschaften, die ihre Realisierung erklären können.
Wie ich das meine, wird klarer, wenn man „Potential“ ganz grob durch „hat das Zeug dazu“ übersetzt. Anders als Arminia Bielefeld hat der HSV das Zeug dazu, wieder aufzusteigen, weil er bestimmte Merkmale, Eigenschaften hat, die den Wiederaufstieg, sollte er eintreten, ein Stück weit erklären könnten – wenn auch nicht unter allen Umständen wie im Korruptionsszenario, und auch nicht ausschließlich, weil Glück etc. hinzukommen müssen. Es reicht jedenfalls nicht aus, dass es irgendwo in der Welt eine gute Erklärung für den Aufstieg gäbe. Dass ich hingegen in dem einen oder anderen Gremium sitzen werde, hat nichts mit mir zu tun, es liegt nicht daran, dass ich das Zeug zur Gremienarbeit habe – sondern an der akademischen Umwelt, in der ich lebe.
Potential hat jemand oder etwas also nur dann, wenn er oder es das Zeug dazu hat, dass etwas mit ihm geschieht. Diese saloppe Umschreibung weist auch schon auf ein letztes begriffliches Element in meinem Vorverständnis von Potentialen hin, ihre Zielgerichtetheit. Irgendwie muss das, wozu jemand/etwas ein Potential hat, auch ein Ziel für ihn/es sein. Vielleicht steigt Arminia Bielefeld sogar noch aus der Zweiten Bundesliga ab, aber die Arminia hat nicht das Zeug dazu, sie hat nicht das Potential abzusteigen. (Wenn man es trotzdem sagt, ist es ironisch, ein Hinweis auf selbstdestruktive Tendenzen.)
Das ist mein grobes untechnisches Vorverständnis von Potentialität. Es gibt eine ganze Reihe von medizinethischen Themen, in denen es um derartige Potentiale geht, und dabei spielen diese Merkmale immer wieder eine Rolle.
Leben hat zunächst viel mit Aktualität zu tun, mit Bewegung, Wärme, Buntheit, kurz: Lebendigkeit. Im Kern ist Leben aber Potentialität. Es ist die Fähigkeit einer materiellen Struktur, diese Struktur auf spezifische Weise gegen die destruktiven Kräfte der Natur aufrecht zu erhalten. „Was ist das Kennzeichen des Lebens? […] das Wesentliche am Stoffwechsel ist, daß es dem Organismus gelingt, sich von der Entropie zu befreien, die er, solange er lebt, erzeugen muß“, schrieb Erwin Schrödinger in seinem berühmten Buch What Is Life? von 1944.5 Lebewesen sind dynamische Systeme, denen es durch ihre Wechselwirkung mit ihrer Umwelt gelingt, sich eine Zeit lang dem Zerfall zu widersetzen, z.B. durch Essen, Trinken, Atmen, aber auch beispielsweise durch Wärmeregulation, Infektionsbekämpfung, Flucht vor Feinden etc. Hinzu kommen Fähigkeiten, von denen weniger das einzelne Individuum profitiert als vielmehr die biologische Art: Selbstreproduktion, Mutagenese, altruistisches Verhalten. Zweifellos sind das Potentiale dieser Lebewesen im oben skizzierten Sinn. Wenn ein Organismus lebt, dann ist es nicht nur gut möglich, dass er eine Zeit lang erhalten bleibt (das könnte er auch, wenn er einem Tierpräparator oder Gunther von Hagens in die Finger geriete), sondern er erhält sich dann selbst durch die besonderen Eigenschaften seines Körpers.
Nicht nur Lebewesen können leben, sondern auch viele ihrer Bestandteile bis hinunter zu den einzelnen Zellen. Ein Spenderherz beispielsweise lebt, während es entnommen, transportiert und eingepflanzt wird, immer weiter. Mehrzellige Organismen leben gewöhnlich deshalb, weil viele ihrer Bestandteile leben (obwohl beispielsweise Bäume wesentlich davon profitieren, dass sich die meisten ihrer ehemals lebenden Zellen in Holz verwandelt haben).
Die Frage, was Leben ist, ist in der Ethik hauptsächlich deshalb interessant, weil gewöhnlich mit dem Leben ein gewisser Wert oder eine moralische Schutzverpflichtung verbunden wird. Deshalb spielen Grenzen zwischen Leben und Nichtleben eine wichtige Rolle. Es gibt zwei derartige Grenzen, die beide aus Gründen strittig sind, die etwas mit Potentialität zu tun haben.6
Die erste Grenze verläuft zwischen Lebewesen und dynamischen Systemen, die nicht leben. Innerhalb der Biologie gibt es mindestens drei Typen von Grenzfällen: erstens Viren als dynamische Systeme, die keinen eigenen Metabolismus besitzen, sondern sich den Metabolismus der Zellen zunutze machen; zweitens Sporen, bei denen alle aktualen Lebensäußerungen eine Zeit lang ausgesetzt sein können, bevor ein Umgebungsimpuls den Metabolismus wieder in Gang setzt; drittens Superorganismen wie Ameisenstaaten oder Fischschwärme, bei denen wesentliche Erhaltungsleistungen aus dem Zusammenwirken vieler Einzelindividuen resultieren, die damit zusammen eine Art Organismus bilden.7
Ist es für das Potential, das zu unserem Lebensverständnis gehört, ausreichend, eine dynamische Fähigkeit zu haben, die so stark von der Umgebung abhängig ist wie die der Viren, die sich in einer Zelle einnisten? Dafür spricht, dass auch viele andere Lebewesen von einem ganz bestimmten Habitat abhängig sind, ohne das sie ihren Organismus nicht erhalten könnten. Es gibt aber auch einen guten Grund, Viren nicht zu den Lebewesen zu zählen. Sie bestehen nicht aus Zellen. Die Vielfalt der Lebewesen, die die Welt bevölkern, ist atemberaubend. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich alle wesentlich aus einer Sorte von Grundbausteinen zusammensetzen, den Zellen. (Allenfalls könnte man zwischen prokaryotischen Zellen ohne und eukaryotischen mit Zellkern unterscheiden.) Lebewesen von der Bakterie bis zum Blauwal sind nicht einfach dynamische Systeme, sondern weisen in ihrer dynamischen Leistung auch eine große Gemeinsamkeit auf: sie basiert stets auf einer strukturierten Zusammensetzung aus Zellen. Das spricht stark dagegen, Systeme ohne Zellen ebenfalls als lebend anzusehen. Leben scheint aus dieser Perspektive nicht nur eine Frage von Potentialität zu sein, sondern auch von Gestalt und Zusammensetzung. Vielleicht ist das aber auch ein verbreitetes Merkmal spezifischer Potentiale, dass man durch ihre Zuschreibung an einen Träger nicht nur sagt, dass die Realisierung aus einer Eigenschaft des Trägers erklärlich ist, sondern auch diese Eigenschaft näher charakterisiert. Von einem Landschaftselement beispielsweise zu sagen, er sei ein Deich, impliziert nicht nur das Potential, Hochwasser abzuhalten, sondern auch, wie dies geschieht (als Wall).
Während man aus diesem Grund bezweifelt kann, dass Viren Lebewesen sind, kann man es bei den Sporen eher akzeptieren, denn sie bestehen aus Zellen, deren dynamisches Potential nur zeitweise ruht. Bei den Superorganismen liegt das Problem hingegen darin, dass sie selbst wieder Lebewesen als Teile haben, man also zubilligen müsste, dass sich manche Lebewesen aus anderen zusammensetzen können. Angesichts einerseits der unverzichtbaren Rolle, die viele Bakterien innerhalb der Körper größerer Lebewesen spielen, und andererseits der Selbstständigkeit mancher Organe, ist das vielleicht kein allzu großes Zugeständnis. Außerdem gibt es beispielsweise auch Flechten, deren Leben ebenfalls in der Symbiose verschiedener Lebewesen besteht.
Die Überlegungen zur speziellen Bedeutung der Zellen für das Leben von Lebewesen haben wiederum Konsequenzen für zwei weitere Typen von Abgrenzungsproblemen, die nicht aus der Biologie stammen (und auch nur ganz am Rande zur medizinischen Ethik zählen): die Ausdehnung des Lebensbegriffs auf Außerirdische und auf Maschinen.
Gibt es Leben auf dem Mars? Das hängt davon ab, was es alles auf dem Mars gibt, aber auch davon, wie hoch wir die Messlatte hängen, um es als Leben zu bezeichnen. Beschränken wir uns auf die Bedingung, ein Potential zur Selbsterhaltung und Arterhaltung zu haben, dann liegt sie jedenfalls deutlich niedriger, als wenn wir eine Zusammensetzung aus Zellen verlangen, die den terrestrischen Zellen ähneln.
Können Maschinen leben? Die Roboter, die wir kennen, bestehen nicht aus Zellen. Wenn das eine notwendige Bedingung für Leben ist, leben sie sicher nicht. Sie sind allerdings ohnehin sehr wenig dynamische Systeme. Ihre Gestalt und Struktur bewahren sie gewöhnlich durch ihren festen materiellen Aufbau aus Plastik und Metall. Allenfalls haben sie rudimentäre Fähigkeiten, sich selbst zu schützen, mit Energie zu versorgen und zu reparieren. Das spricht stark dagegen, sie als lebend anzusehen.
Interessanterweise gibt es allerdings auch einen starken Grund, der dafür spricht, zumindest manche Roboter als lebend anzusehen. Man könnte ihn vielleicht als das „R2D2-Argument“ bezeichnen, benannt nach dem tonnenförmigen Roboter in der Star-Wars-Sage. Einerseits ist R2D2 ein typischer Metallkasten-Roboter, dessen Potentiale sich deutlich von denen von Lebewesen unterscheiden. Andererseits kann er aber offensichtlich denken, hat klare Vorlieben und vielleicht sogar Gefühle. Kurz, er hat ein Seelenleben. Dann aber, so das Argument, ist er auch am Leben: Wer mich mag, der lebt auf jeden Fall! – Damit stellt sich unmittelbar die grundsätzliche Frage, inwieweit man den Begriff des Lebens überhaupt auf Schrödingers Fähigkeit zur konstanten Entropieverminderung beschränken kann, oder ob es nicht auch einen anderen begrifflichen Zugang zum Leben gibt, über das psychische Potential.8
Dieselbe Frage stellt sich auch, wenn man nicht auf Roboter schaut, sondern auf Computerprogramme. Hier findet sich das Forschungsfeld zum Künstlichen Leben (Artificial Life, AL), in dem es darum geht, Programme so zu entwickeln, dass sie es erlauben, verschiedene Phänomene des Lebens am Computer zu untersuchen. Ähnlich wie im Bereich der künstlichen Intelligenz, wo zwischen starker und schwacher AI unterschieden wird, gibt es auch in der Philosophie vom Künstlichem Leben die (metatheoretische) Unterscheidung zwischen schwachem AL, in dem die Programme als Simulationen von Leben angesehen werden, und starkem AL, das beansprucht, wirkliches Leben im Computer erzeugen zu können.
Abermals könnte man die Frage stellen, ob es für den Begriff des Lebens einen Unterschied machen sollte, in welchem Material sich das Leben abspielt, ob also der Aufbau aus Zellen wichtig ist. Interessanter ist aber, dass hier erneut ein R2D2-Argument möglich ist. Wenn wir es in Zukunft mit psychisch kompetenten Computern zu tun haben, werden diese vermutlich seltener Androiden wie R2D2 sein, als vielmehr die schlauen Nachfahren von Alexa und Siri. Erst vor wenigen Jahren lief der Hollywood-Film „Her“, in dem sich die Menschen reihenweise in ihre intelligenten Smartphone-Apps verlieben. Spätestens dann, wenn Liebesbeziehungen bestehen, könnte man argumentieren, wäre es absurd, diesen elektronischen Freundinnen und Freunden kein Leben zuzubilligen.
Das Beispiel deutet aber auch schon auf einen guten grundsätzlichen Einwand gegen die starke AL hin: Es ist überhaupt nicht klar, dass es die elektronischen Partner überhaupt gibt; wenn aber nicht, dann sind sie a fortiori auch nicht am Leben. Mein Handy tut zwar so, als gäbe es eine Alexa, die mit mir spricht, aber in Wirklichkeit ist das nichts weiter als ein nettes Gadget, eine Fiktion, so wie es das Huhn nicht gibt, dessen Gackern ein humorvoller Zeitgenosse als Handyton ausgewählt hat. Alexa ist anders als das Smartphone keine Entität. Diese ontologische Überlegung führt zurück zu den notwendigen Bedingungen eines Potentials. Gerade wenn man Leben als eine spezielle Form von Potential ansieht, dann muss es jemanden geben, der dieses Potential hat, und Avatare und ähnliche Konstrukte einer Computer-Software existieren nicht wirklich. Sie sind nur Teile einer virtuellen Welt, entsprechend haben sie ihre Potentiale auch nur virtuell. Letztlich sind sie genauso wenig am Leben wie Super Mario tatsächlich die Fähigkeit hat, auf Schildkröten zu springen.
In meinem Beitrag geht es um die Frage, inwiefern es für medizinethische Themen relevant sein könnte, sich philosophisch mit Potentialen auseinanderzusetzen. Die zentrale Bedeutung des Lebens für die Medizin und dessen dynamisches Verständnis haben es nahegelegt, sich zunächst mit den Potentialen als Teilen unseres Lebensbegriffs zu beschäftigen. Die Diskussion bislang hat aber noch nicht unmittelbar zu gravierenden medizinethischen Streitpunkten geführt. Aus ethischer Sicht könnte man die Abgrenzung zwischen Lebewesen und anderen Systemen natürlich normativ nutzen, wenn man glaubt, dass dem Leben per se tatsächlich eine moralische Bedeutung zukommt, aber gerade die Unbefangenheit, mit der wir Mikroben und Pflanzen behandeln, wie es uns passt, spricht eher dagegen, dass für uns moralisch viel daran hängt, auf welche Seite die Grenzfälle am Ende fallen. Ob Sporen am Leben sind oder nicht, wir werden in keinem Fall besonders viel Rücksicht auf sie nehmen.
Allenfalls im Bereich der Computerethik könnte es spannender sein, ob wir bereit sind, intelligente Maschinen in den Kreis der Lebenden aufzunehmen, weil sie uns – anders als die Sporen etc. – in anderer Hinsicht sehr nahekommen, so dass es uns vermutlich moralisch viel leichter fiele, ihnen einen eigenen moralischen Status vorzuenthalten, wenn sie nicht auch noch Lebewesen sind.
Die unmittelbare medizinethische Relevanz wird hingegen bei der zweiten Grenzfrage deutlich.
Lebewesen sind nicht notwendig Wesen, die leben. Zumindest in unserer alltäglichen Redeweise gibt es neben lebenden auch tote Lebewesen, beispielsweise die überfahrene Katze auf der Landstraße. Also kann man die Frage stellen, wann ein Wesen aufhört zu leben und der Tod eintritt. Das ist generell eine interessante Frage, sie hat aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich an Bedeutung gewonnen. Das lag an zwei medizinischen Entwicklungen, die die involvierten Ärzte vor große ethische Herausforderungen stellten: der Erfindung der künstlichen Beatmung, die zum Entstehen der Intensivmedizin in den 1950er Jahren geführt hat, und die Entwicklung der Transplantationsmedizin kurze Zeit später.9
Die Möglichkeit, Phasen ohne eigene Spontanatmung maschinell zu überbrücken, hat vielen Menschen das Leben gerettet und ganz neue medizinische Möglichkeiten eröffnet. Die Neuerung hatte aber den Nebeneffekt, dass auf den frisch etablierten Intensivstationen auch solche Patient*innen am Leben erhalten wurden, bei denen es aufgrund schwerer Hirnschädigungen feststand, dass sie nie wieder in ein waches Leben zurückkehren würden. Für die Intensivmediziner stellte sich damit die Frage, ob sie diese Patient*innen trotzdem weiter am Leben erhalten sollten oder ob sie die Behandlung einstellen durften. Auch von der Transplantationsmedizin versprach man sich neue therapeutische Möglichkeiten, aber auch hier waren sie mit einem ethischen Problem verbunden. Man wusste nicht, woher man möglichst unbeschädigte Spenderorgane bekommen sollte, ohne Gefahr zu laufen, die Organspender mit der Entnahme zu töten.
Für beide Probleme der Intensiv- und Transplantationsmedizin fand sich Mitte der 1960er Jahre eine gemeinsame Lösung. Wenn man davon ausging, dass Patientinnen, deren Gehirn abgestorben war, insgesamt tot waren, dann brauchte man diese Patientinnen nicht weiter intensivmedizinisch zu behandeln, konnte ihnen aber die in der Regel gut erhaltenen Organe zu Transplantationszwecken entnehmen. Diese Annahme, die ‚Hirntod-Konzeption des Todes‘, setzte sich deshalb sehr schnell in weiten Teilen der medizinisch hoch entwickelten Welt durch und wird bis heute in Deutschland und anderen Ländern praktiziert.
Zugleich gab es aber von Anfang an und insbesondere seit den 1990er Jahren Widerstand gegen die Hirntod-Konzeption. Viele Kritiker glaubten nicht, dass mit dem Hirntod das Leben eines Menschen notwendigerweise schon zu Ende ist. Die auf den ersten Blick eher theoretische Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod gewann plötzlich eine gewaltige ethische Bedeutung. Nicht selten wurde sogar angenommen, dass davon die moralische Zulässigkeit der gesamten Transplantationsmedizin abhänge.
Im Kern der Hirntoddebatte standen lange zwei Fragen, auch wenn sie nicht immer klar unterschieden wurden. Die eine Frage betraf den Lebensbegriff und handelte davon, ob man Leben hier eher phänomenologisch oder psychologisch oder biologisch verstehen sollte. In der zweiten Frage ging es darum, ob hirntote Menschen tatsächlich die notwendigen Bedingungen erfüllen, die diese jeweiligen Lebensverständnisse mit sich bringen. Verzwickt war die Debatte, weil mal die eine, mal die andere Frage strittig war. Setzt man ein phänomenologisches Lebensverständnis voraus, dann sind Hirntote noch am Leben, denn dem äußeren Anschein nach ist ein hirntoter Mensch noch nicht tot, er bewegt sich noch etwas, schwitzt, hat eine rosa Hautfarbe. Allerdings ist das phänomenologische Lebensverständnis selbst nicht besonders plausibel. Verbindet man Leben mit der Existenz eines Innenlebens, dann ist das Leben der Hirntoten zu Ende, denn für sie ist innen sozusagen definitiv das Licht ausgegangen, aber auch dieses psychologische Lebensverständnis ist nicht besonders attraktiv. Deshalb stand lange Zeit das biologische Lebensverständnis im Zentrum der Debatte, das ich oben schon erläutert habe, und damit eine Frage nach Potentialität. Hat der Organismus eines hirntoten Menschen noch das Potential, das es ausmacht, am Leben zu sein, also letztlich die Fähigkeit, dem Sog der Entropie entgegenzuwirken?
Auf diese Frage gibt es zwei auf den ersten Blick konträre Antworten, die deutlich machen, wie eng hier die Verbindung zum philosophischen Verständnis der Potentialität ist. Die erste Antwort lautet: „Ja natürlich kann der Organismus das leisten, schließlich müssen hirntote Patienten manchmal tagelang auf einer Intensivstation liegen, bevor es zur Organspende kommt, und dabei verändert sich ihr Organismus nur unwesentlich.“ Die zweite Antwort lautet: „Nein, natürlich kann er es nicht leisten; würde der Organismus des Hirntoten nicht massiv intensivmedizinisch behandelt (unter anderem künstlich beatmet), dann kämen alle Lebensprozesse in ihm in kürzester Zeit zum Stillstand und er wäre schutzlos der Fäulnis und Verwesung ausgesetzt.“
Das Problem ist, dass beide Sätze im Grunde wahr sind. Hirntote Patienten sind tatsächlich in ihrem Kampf gegen den Verfall massiv auf äußere Unterstützung angewiesen, aber sie tragen auch selbst erheblich dazu bei, dass dieser Kampf eine Zeit lang so erfolgreich ist. Sie haben beispielsweise keinen Atemreflex mehr, sind also auf die Luftzufuhr von außen angewiesen, aber diese Luftzufuhr wäre nutzlos, wenn der Sauerstoff aus der Lunge nicht weiter transportiert und letztlich ins Blut gelangen würde. Befürworter und Gegner der Hirntod-Konzeption unterscheiden sich nur darin, wie sie diesen Sachverhalt beschreiben. Die Gegner weisen darauf hin, dass auch andere Menschen nur deshalb am Leben bleiben, weil sie Hilfe von außen bekommen, zum Beispiel durch künstliche Beatmung, Dialyse, Herzschrittmacher, Herz-Lungen-Maschine usw., ohne dass sie deshalb schon tot wären. Die Befürworter sehen hier hingegen einen kategorialen Unterschied: Gewöhnlich diene die Intensivmedizin dazu, den menschlichen Organismus darin zu unterstützen, sich selbst als integriertes Ganzes zu erhalten, doch beim Hirntoten gebe es keinen Organismus mehr, der diese Fähigkeit habe, und deshalb müsse dieser Organismus von außen, durch die Intensivmedizin vor dem Verfall bewahrt werden. Anders ausgedrückt, die einen glauben, dass der Patient immer noch das Potential hat, die Entropie im Schach zu halten, nur dass er dafür (wie bei vielen Potentialen) auf ein hilfreiches Umfeld angewiesen ist, die anderen glauben, dass er dieses Potential verloren hat, dass dafür aber äußere Faktoren einspringen.
In der Debatte folgt hier gewöhnlich der Hinweis auf all die biologischen Prozesse, die in einem hirntoten Organismus noch funktionieren, bzw. nicht mehr funktionieren. Das ist ein guter Beleg dafür, dass ein Potential für X darauf verweist, dass sich eine Realisierung von X irgendwie aus der Person, die dieses Potential hat, erklären ließe und nicht nur aus den externen Umständen. Die spannende philosophische Frage ist dann aber, wo die Grenze verläuft, gegeben dass die allermeisten Realisierungen nur unter äußerer Mithilfe zustande kommen.
Eine Möglichkeit, auf dieses Problem zu reagieren, bestände darin, Grade der Potentialität zuzulassen. Ein hirntoter Organismus, könnte man behaupten, ist weniger dazu in der Lage, sich dem Verfall entgegenzustellen, als der Organismus eines leichter erkrankten Patienten, aber er hat dieses Potential auch noch nicht ganz verloren, anders als ein Leichnam. Grade der Potentialität passen gut zu unserem alltäglichen Verständnis von Potentialen, beispielsweise wenn wir sagen, Annegret Kamp-Karrenbauer hätte damals eher das Zeug dazu gehabt, Bundeskanzlerin zu werden, als Armin Laschet. Die Frage ist dann nur, welche Konsequenzen man daraus für die Grenze zwischen Leben und Tod ziehen möchte.
Potentialitätsfragen spielen im Kontext der Todesbestimmung für Organspenden aber noch eine andere Rolle, die ebenfalls eine interessante theoretische Seite hat. Seit einigen Jahren werden weltweit in vielen Ländern Organspenden nicht nur von hirntoten Patient*innen entnommen, sondern auch von Patient*innen mit Herzstillstand (DCD, Donation after Circulatory Death).10 Meistens handelt es sich dabei um Patient*innen, die unheilbar erkrankt sind und sich entschlossen haben, auf eine weitere lebenserhaltende Behandlung zu verzichten, insbesondere auch auf die künstliche Beatmung. (Früher sprach man in solchen Fällen von ‚passiver Sterbehilfe‘.) Wird die künstliche Beatmung eingestellt, dann kommt es in der Regel innerhalb von relativ kurzer Zeit zu einem Herzstillstand und die Patient*innen versterben. Im Fall einer DCD wird nach dem Herzstillstand und einer kurzen Wartezeit von wenigen Minuten der Tod der Patient*innen diagnostiziert, um dann sofort die Spenderorgane zu entnehmen, die nicht selten schon während des Sterbeprozesses medizinisch vor einer Schädigung geschützt werden. DCDs sind in Deutschland bislang gesetzlich verboten, weil sie ohne Hirntoddiagnostik vorgenommen werden und Zweifel daran bestehen, ob wenige Minuten nach dem Herzstillstand der Hirntod schon eingetreten ist. Für meine Zwecke interessanter ist aber ein anderes Problem: Zumindest in manchen Fällen von DCDs wäre es durchaus möglich, den Herzschlag wieder in Gang zu setzen und die Patienten durch eine Wiederaufnahme der künstlichen Beatmung wiederzubeleben. Für die sachgerechte Durchführung einer DCD gibt es deshalb Vorschriften, die verhindern sollen, dass der spontane Herzschlag aus Versehen wiedereinsetzt. Anders ausgedrückt: die Patient*innen befinden sich in einem Zustand, der als Tod diagnostiziert wird und bei dem man zugleich aufpassen muss, dass es zu keiner Wiederbelebung kommt. Das aber bedeutet: der Tod dieser Patient*innen ist nicht unwiderruflich, irreversibel. Und damit scheint eine selbstverständliche Voraussetzung für alle Todeskonzepte aufgegeben zu werden, dass nämlich mit dem Tod das Leben ein für alle Mal zu Ende ist. In der Hirntod-Debatte war es den Befürwortern der Hirntod-Konzeption immer sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass bislang niemand, dessen Hirntod fachgerecht diagnostiziert wurde, wieder ins Leben zurückgekehrt sei, weil es geradezu als eine Banalität erscheint, dass der Tod unser Leben endgültig beendet.11 Und nun soll es plötzlich Tote geben, die wieder aufleben könnten?!
Verfechter der These, dass DCD-Patient*innen tot sind, haben an dieser Stelle zwei Möglichkeiten, an ihrer Position festzuhalten, ohne die Prämisse der Endgültigkeit des Todes zu bestreiten. Erstens könnten sie sich auf den Standpunkt stellen, dass wir von dem Tod nur verlangen, dass das Leben, verstanden als Potential zur biologischen Selbsterhaltung des Organismus, erloschen sei, und das sei nach dem Herzstillstand der Fall. Die Patient*innen würden also zu Recht als tot diagnostiziert. Allerdings könnte es im Rahmen einer DCD durch unvorsichtige medizinische Eingriffe bei der Organentnahme geschehen, dass der Patient das Potential wiedererlangt. Er war tot und nun lebt er wieder.
Es ist eine spannende Frage, inwiefern sich unser Lebensbegriff mit dieser Möglichkeit wirklich verträgt. Dahinter steht aber die sehr viel generellere Frage, wie es überhaupt mit dem Erwerb und dem Verlust von Potentialen steht. Zweifellos gibt es beides. Wer schwimmen lernt, erwirbt ein Potential, das er vorher nicht hatte und möglicherweise nach einem Schlaganfall wieder verliert. Im Detail lauern aber viele Schwierigkeiten, beispielsweise ob es einen Unterschied gibt zwischen einem temporären Verlust des Potentials und dem Fortbestehen des Potentials bei gleichzeitiger externer Unmöglichkeit seiner Realisierung. Klar ist, dass man nicht aufhört, schwimmen zu können, nur weil man gerade durch die Wüste irrt. Aber wie ist es, wenn man schon fünf Stunden geschwommen und so erschöpft ist, dass man einfach nicht mehr weiterschwimmen kann, es sei denn, man macht eine Pause und bekommt eine Stärkung? Hat man dann ein Potential kurzzeitig verloren, um es durch die Regeneration wiederzuerlangen? Und wäre das die Situation der DCD-Patient*innen, deren Organismus sich nach dem Herzstillstand auch nicht mehr erhalten kann, es sei denn, sie bekommen wieder Unterstützung von außen?
Interessanterweise ist das aber nicht die Verteidigungsstrategie, die die Verfechter der DCDs gewählt haben. Sie schlagen stattdessen eine Unterscheidung zwischen irreversiblem und endgültigem Lebensende vor. Irreversibel sei der Verlust des Lebens bei den DCD-Spendern zwar nicht, bevor ihnen die Organe entnommen werden, aber endgültig, weil es sowohl rechtlich, als auch moralisch, als auch rational ausgeschlossen sei, sie wieder in ihren alten, todkranken Zustand zurückzuholen. Es ist eine schwierige Frage, ob uns das als Interpretation der Endgültigkeitsforderung des Todes reicht. Im Rahmen der Potentialität-Thematik provoziert es aber eine andere Frage: inwieweit der Besitz eines Potentials davon abhängen kann, wie die Verwirklichungschancen sind. Einerseits sind Potentiale, wie gesagt, Möglichkeiten. Andererseits scheint der Besitz eines Potentials durchaus damit vereinbart zu sein, dass die Chancen für eine Realisierung sehr schlecht sind. So wie eine Papiertüte, die jemand mitten in der Wüste weggeworfen hat, trotzdem wasserlöslich ist, so kann auch ein Sträfling, der eine lebenslange Freiheitsstrafe in einem Wüstengefängnis verbüßt, trotzdem ein guter Schwimmer sein. Reicht es also für das Lebenspotential des Organismus aus, dass es im Prinzip möglich, wenngleich auch unwahrscheinlich, ungewollt und unmoralisch wäre, dass sich das Leben mit externer Unterstützung wieder generiert?
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass einige der Debatten, die um die Grenze zwischen Leben und Tod geführt werden, mit Potentialität, genauer: mit dem Potential des Organismus, sich gegen die Entropie zur Wehr zu setzen, zu tun haben. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass es meines Erachtens für die Ethik der Transplantationsmedizin allem Anschein zum Trotz doch nicht wesentlich ist, ob hirntote Menschen noch diese Fähigkeit haben, oder nicht.12 Etwas anders sieht die Rolle von Potentialen zu Beginn des Lebens aus.
Anfang und Ende unserer Existenz verlaufen nicht symmetrisch. Während die Existenz eines Menschen gewöhnlich damit endet, dass sein Leben zunächst erlischt und er zu einer Leiche wird, bevor diese dann verrottet oder verbrannt wird, beginnt die Existenz eines Menschen unmittelbar mit sprühendem Leben. Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass eine Zygote lebt. Die schnelle Folge von Zellteilungen und Ausdifferenzierungen, die ein Embryo durchmacht, erst auf seinem Weg durch den Eileiter und dann nach der Einnistung als Fötus bis zur Geburt, ist durch und durch lebendig. Man muss sich also keine Gedanken darübermachen, wo die Grenze verläuft, zwischen Leben und irgendetwas davor. Dafür gibt es hier aber eine Reihe von anderen Problemen, die ebenfalls viel mit Potentialen zu tun haben und verschiedene ethische Diskussionen betreffen.
Die Ethik hat auf verschiedene Weise mit den frühen Stadien menschlichen Lebens zu tun. Traditionell am wichtigsten war die Frage nach der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Darf die schwangere Frau oder darf eine Ärztin oder ein Arzt die Schwangerschaft unterbrechen und dadurch den Embryo bzw. den Fötus töten? In neuerer Zeit sind weitere Fragen dazugekommen. Dürfen Mediziner im Rahmen von künstlichen Befruchtungen überschüssige Embryonen erzeugen und verwerfen? Dürfen sie die Embryonen nach genetischen Merkmalen selektieren? Dürfen Embryos gleich von Anfang an in ihrer genetischen Ausstattung modifiziert werden? Dürfen sie als Quelle für die Gewinnung von Stammzellen fungieren?
Ethiker*innen, die die Tendenz haben, negative Antworten auf all diese Fragen zu geben, führen dies gewöhnlich darauf zurück, dass ein menschlicher Embryo oder Fötus13 einen ausgezeichneten moralischen Status hat, der mit den genannten Praktiken unvereinbar sei. Es gibt verschiedene Gründe, einen derartigen Status anzunehmen. Man kann dem menschlichen Leben z.B. eine besondere Dignität zuschreiben, die uns zur Ehrfurcht nötige, etwa als Gegenstand eines göttlichen Gebotes. Häufig wird aber nicht auf den aktualen Zustand des Embryos verwiesen, sondern auf dessen Potential für seine zukünftige Existenz. Embryonen sind demnach so schätzenswert, weil sie sich eines Tages zu geborenen Menschen, zu Kindern und Erwachsenen, entwickeln.14
Dieses Argument für den besonderen Status der Embryonen kann unterschiedliche Formen annehmen und in verschiedenerlei Hinsicht diskutiert werden. Eine erste, ganz basale Diskussion betrifft eine notwendige Bedingung des Potentials, später einmal ein Kind zu werden: die Identität mit dem Kind. So wenig wie Arminia Bielefeld das Potential haben kann, dass St. Pauli aufsteigt, so wenig kann ein wenige Zellen großer Embryo das Potential haben, eines Tages in den Armen seiner Mutter zu liegen, wenn es nicht er ist, der neun Monate später geboren sein wird. (Für ein Potential reichte es also nicht, jemand zu sein, mit dessen „Nachfolger“ irgendetwas geschieht.) Diese Identität ist aber nicht unumstritten. Es gibt drei Gründe, die dagegen vorgebracht werden.15
Erstens kann man der Ansicht sein, dass wir wesentlich bestimmte Eigenschaften haben, die wir erst im Laufe der Schwangerschaft erwerben, so dass unsere Existenz auch dann erst einsetzt. Sprühendes Leben hat der Embryo zwar von der Zygote an, aber ein Mensch kann erst am Leben sein, wenn es ihn auch gibt. Traditionell wurde dieser Beginn unserer Existenz als der Zeitpunkt der Beseelung verstanden, heute wird häufig der Personenbegriff verwendet. Wenn wir wesentlich Personen sind und die dafür erforderlichen Eigenschaften beispielsweise ein minimales Gehirn voraussetzen, dann kann es uns erst geben, wenn der Embryo dieses Entwicklungsstadium erreicht hat. Der Embryo macht dieser Ansicht zufolge eine substantielle Veränderung durch, mit der er u.a. das Potential erwirbt, eines Tages geboren zu werden. Jüngere Embryonen haben dieses Potential nicht und folglich auch nicht den daran geknüpften moralischen Status. – Im Zentrum dieses Arguments steht natürlich die These, dass wir wesentlich Personen sind. Sie ist allerdings dem Einwand ausgesetzt, dass auch viele geborenen Menschen solche Personen-Bedingungen nicht erfüllen und folglich keine Wesen wie wir wären. Aus diesem Grund halte ich das für kein besonders stichhaltiges Argument.
Die beiden anderen Argumente sind jeweils viel enger an der Biologie der embryonalen Entwicklung orientiert. Beiden geht es außerdem ausschließlich um sehr frühe Embryos, wie sie für die Präimplantationsdiagnostik und die Nutzung embryonaler Stammzellen in der Forschung interessant sind, nicht um die späteren Embryos oder Föten, die abgetrieben werden können. Das erste dieser beiden Argumente bezieht sich darauf, dass sich aus jungen Embryonen erst nach und nach sowohl der spätere Fötus, als auch die Plazenta entwickelt, so dass eine Identitätsbeziehung allenfalls zwischen dem Embryo und dem gesamten Konglomerat von Fötus und Plazenta bestehe, woraus unmittelbar die Nicht-Identität mit dem Fötus und dann dem geborenen Kind folge. – Die Schwäche dieses Arguments liegt allerdings darin, dass man auch eine andere ontologische Geschichte erzählen kann, der zufolge die Plazenta etwas ist, das zwar eine Zeit lang zum werdenden Kind hinzugehört hat, dann aber abgesondert wurde und als ehemaliger Teil nun ein Eigenleben führt, verbunden mit der Nabelschnur, bis auch diese Verbindung nach der Geburt gekappt wird.
Das dritte Argument beruht auf der biologischen Tatsache, dass sich ein Embryo aufspalten kann, so dass mehrere eineiige Zwillinge entstehen. Der erste Teil des Arguments verläuft ungefähr so: Im Fall einer Zwillingsgeburt kann der Embryo nicht mit beiden Zwillingen identisch sein (aufgrund der Transitivität der Identität und der begrifflichen Tatsache, dass Zwillinge nicht miteinander identisch sind), es erscheint aber völlig willkürlich anzunehmen, dass der Embryo bloß mit einem der beiden Zwillinge identisch ist, so dass der Schluss nahe liegt, er sei mit keinem identisch (allenfalls mit dem Konglomerat aus beiden, was aber ontologisch schräg wäre). Folglich könnte auch nichts, was den Zwillingen geschieht, ein Potential des ursprünglichen Embryos realisieren. Der zweite Teil des Arguments besagt, dass Embryonen folglich erst dann das Potential zu einer Entwicklung haben könnten, wenn eine zukünftige Zwillingsbildung ausgeschlossen sei, und dass sie deshalb bis dahin keinen moralischen Status haben könnten, der auf einem solchem Potential beruht.
Auch dieses Argument ist allerdings letztlich nicht überzeugend. Viel plausibler ist es anzunehmen, dass auch der Ausgangsembryo der Zwillinge das Potential hatte, eines Tages geboren zu werden, dass seine Existenz aber endete, bevor er dieses Potential realisieren konnte. Die Zwillingsbildung hat ihm hier einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Embryo untergeht, ohne dass er sein Potential, geboren zu werden (geschweige denn, ein erwachsener Mensch zu werden), realisieren kann; längst nicht alle Embryos führen am Ende zu einer erfolgreichen Schwangerschaft. Das Besondere im Fall der Zwillingsbildung ist nur, dass der Embryo trotzdem wesentlich dazu beigetragen hat, dass es zur Geburt kam. Nur war er es nicht, der geboren wurde, sondern die beiden Zwillinge, die sich aus ihm entwickelt haben.
Keines der drei Argumente gegen die Identität von Embryo und geborenem Kind ist also meines Erachtens stichhaltig. Die meisten von uns haben ihre Existenz als Zygote begonnen, nur die Existenz eineiiger Zwillinge setzt erst mit der Spaltung des ursprünglichen Embryos ein. Deshalb spricht auch prinzipiell nichts gegen die Annahme, dass Embryos das Potential haben, nach Ablauf der Schwangerschaft als Kinder geboren und irgendwann Erwachsene wie wir zu werden. Die Frage ist nur, was ethisch daraus folgt.
Es gibt in der Debatte ein weitverbreitetes Argument, demzufolge gar nichts daraus folgt, dass Embryos dieses Potential haben. In Deutschland wird es häufig als „Kronprinzen-Argument“ bezeichnet, und es verläuft ungefähr so: Ein Kronprinz ist potenziell ein König; der amtierende König muss nur sterben oder abdanken, dann wird aus dem Kronprinzen ein König. Daraus folgt aber nicht, dass der Kronprinz schon jetzt als Kronprinz denselben Status hat wie der König. Der König darf beispielsweise Verurteilte begnadigen, der Kronprinz nicht. Ebenso wenig hat ein potentieller geborener Mensch denselben Status wie ein tatsächlich schon geborener. Kinder haben beispielsweise ein Recht darauf, nicht getötet zu werden, ob aber auch ein potentielles Kind dieses Recht hat, bleibt völlig offen. Ethisch folge aus der Potentialität nichts.
Für sich gesehen ist das Argument zunächst stark. Dass man ein Potential für X hat, impliziert gerade, dass X noch nicht der Fall ist. Also hängen auch alle ethischen Schlussfolgerungen aus X in der Luft. Ein Haus, das ich wahrscheinlich erbe, gehört mir noch nicht und folglich kann ich es nicht verkaufen. Aber gerade das Kronprinzen-Beispiel weist auch in die Gegenrichtung. Vielen Menschen ist es ganz selbstverständlich, Prinz Charles zwar nicht als König, aber eben auch nicht wie einen x-beliebigen Engländer zu behandeln. Schließlich ist er voraussichtlich der nächste König. Ganz ähnlich scheint es mir mit den Embryos zu sein. Nur ein Fachmann kann einen menschlichen Embryo von einem Hühnerembryo unterscheiden. Trotzdem ist es nicht dasselbe, ob eine Schulklasse im Biologieunterricht Hühnerembryos unter dem Mikroskop seziert oder menschliche (auch abgesehen von Beschaffungsproblemen). Das Potential der menschlichen Embryos, dass sie sich eines Tages in Menschen wie uns verwandeln, macht sie zu etwas Besonderem. Oder zumindest ist das meine Vermutung und es ist eine spannende Frage, wie sie sich ethisch begründen ließe.
An dieser Stelle greift ein zweites Argument gegen die ethische Relevanz dieses Potentials, das die Form einer Reductio ad absurdum hat. Ihm zufolge dürften wir konsequenterweise nicht bei den Embryos oder der Zygote aufhören, sondern müssten den Anspruch auf Rücksichtnahme auch auf die kausalen Vorgänger der Befruchtung ausdehnen. Der unmittelbare Vorgänger der Zygote wird als „Vorkernstadium“ bezeichnet. In ihm sind die Keimzellen schon weitgehend verschmolzen, es hat aber noch keine Kernfusion stattgefunden. Das Vorkernstadium ist deshalb von Bedeutung, weil es in Deutschland erlaubt ist, das Resultat einer künstlichen Befruchtung in diesem Stadium einzufrieren, um es dann gegebenenfalls weiter zu nutzen, während Zygoten oder Embryos wegen ihres besonderen Status nicht eingefroren werden dürfen. Für den Gesetzgeber liegt also erst nach der vollständigen Verschmelzung der Keimzellen ein schutzwürdiges Wesen vor. Doch das entsprechende Potential, eines Tages als Kind geboren zu werden, das hat dem Argument zufolge auch schon das Vorkernstadium. Und man kann noch weitergehen: Dieses Potential, könnte man sagen, hatten auch schon die Ei- und Samenzelle, bevor sie zusammenkamen. Es fehlte nur jeweils ihr geschlechtliches Gegenstück, um dieses Potential zu realisieren. Müssen wir also auch dem männlichen Sperma und der weiblichen Oozyte eine besondere Dignität zuschreiben?? Der Weg in die Absurdität ist offensichtlich. – Dabei ist das Argument aber immer noch nicht zu Ende. Die Fortschritte in der Biologie der letzten Jahre erlauben es, das Argument noch ein Stück weiter in die Absurdität fortzuschreiben. Dazu ist aber zunächst eine etwas längere Vorklärung nötig, die auch unabhängig von dem Argument wichtig ist.
Die natürliche Zellentwicklung im Menschen verläuft so, dass nicht nur die Zygote, sondern auch die einzelnen embryonalen Zellen nach den allerersten Zellteilungen das Potential haben, sich in einen Menschen zu entwickeln. Dieses Potential wird gewöhnlich als Totipotenz bezeichnet. Nach weiteren Zellteilungen verliert sich diese Fähigkeit. Die Zellen, aus denen sich der Embryo dann zusammensetzt, haben zwar immer noch das Potential, sich in jeden beliebigen Zelltyp auszudifferenzieren, aber aus ihnen kann nicht mehr ein ganzer Mensch entstehen. Man nennt das Pluripotenz. Wenn die Zellen dann ausdifferenziert sind, bilden sie nur noch Zellen gleichen Typs, sie sind unipotent. Diese Unterscheidung hat in der Debatte um den Status des Embryos eine wichtige Rolle gespielt und ist unmittelbar in das Embryonenschutzgesetz eingeflossen:
„Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.“16
Das Verständnis der frühen embryonalen Zellen als totipotent hatte also zur Konsequenz, dass nicht nur der Embryo, der sich durch Zellteilungen aus der Zygote entwickelt, als Embryo angesehen wurde, sondern auch seine einzelnen Zellen, sobald sie ihm entnommen werden. Das hatte in der Debatte ethische und rechtliche Konsequenzen für zwei Bereiche, für die Präimplantationsdiagnostik17 und die Stammzellforschung18.
Als „Präimplantationsdiagnostik“ (PID) wird ein Verfahren bezeichnet, bei dem im Rahmen einer künstlichen Befruchtung (IVF) die in vitro gezeugten Embryonen genetisch getestet werden, bevor sie der Mutter implantiert werden. Damit soll in erster Linie die Geburt von Kindern mit schweren Erbkrankheiten und genetischen Defekten verhindert werden, obwohl man das Verfahren im Prinzip auch für andere Selektionszwecke, beispielsweise zur Geschlechtswahl, verwenden kann. Die PID ist aus mehreren Gründen ethisch umstritten (und deshalb bis auf ganz wenige Ausnahmen in Deutschland gesetzlich verboten), zwei davon sind hier aber unmittelbar relevant. Zum einen geht es in der PID darum, bestimmte Embryonen auszusondern und zu vernichten, was möglicherweise mit dem besonderen moralischen Status von Embryonen nicht vereinbar ist. Zum anderen wird für die genetische Diagnose eines Embryos eine Zelle entnommen und im Verlauf der Untersuchung vernichtet. Wenn aber diese Zelle noch totipotent ist, dann handelt es sich nach rechtlichem Verständnis ebenfalls um einen (unter Umständen vollkommen gesunden) Embryo, der auf jeden Fall stirbt, und abermals greift der besondere Schutz menschlicher Embryonen.
Die Stammzellforschung bildet einen besonders vielversprechenden biologischen und medizinischen Forschungsbereich. Stammzellen sind Körperzellen, die sich in Zellen verschiedener Zelltypen ausdifferenzieren können, die also pluripotent sind. Es gibt verschiedene Quellen für Stammzellen; für die Forschung besonders interessant sind aber diejenigen Stammzellen, aus denen sich in der Natur der Körper eines Menschen insgesamt entwickelt, also diejenigen, die aus Embryonen stammen. Embryonale Stammzelllinien werden deshalb in vielfältigen Bereichen der medizinischen Forschung eingesetzt. In Deutschland ist dieser Einsatz aber durch das Stammzellgesetz stark eingeschränkt. Der Grund liegt auch hier darin, dass diese Zellen aus Embryonen gewonnen wurden, die zu diesem Zweck vernichtet wurden.
Die Feststellung, dass auch jenseits der Zygote einzelne embryonale Zellen totipotent sein können, kann man bereits als Ergänzung der Reduktion ad absurdum der These ansehen, dass allein schon das Potential einen herausgehobenen moralischen Status verschaffe. Nicht nur dem Vorkernstadium und den einzelnen Keimzellen scheint dadurch ein solcher Status zuzukommen, sondern auch einzelnen embryonaler Zellen, die dem Embryo entnommen werden können, ohne dass der Embryo insgesamt darunter Schaden erleidet. Die Gesetzeslage zeigt allerdings, dass diese Annahme in den Augen des Gesetzgebers keineswegs absurd ist.
Von diesen Überlegungen führt aber direkt ein nächster Schritt in eine weitere und dieses Mal unbezweifelbare Absurdität. In der Zeit nach der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes und Stammzellgesetzes hat die Erforschung von Stammzellen erhebliche Fortschritte gemacht. Insbesondere ist es 2006 gelungen, die bis dahin unidirektionale Ausdifferenzierung der Zellen umzukehren. Ein Verfahren wurde entwickelt, fertig ausdifferenzierte (z. B. Haut-)Zellen in pluripotente Zellen zurück zu verwandeln. Seitdem bietet sich die Chance, viele wissenschaftliche Untersuchungen, die bis dahin auf embryonale Stammzellen angewiesen waren, mithilfe dieser induziert pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) durchzuführen. Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass es mithilfe dieser Zellen unter Umständen möglich ist, nicht nur vielfältige andere Körperzellen zu erzeugen, sondern auch einen ganzen Embryo. Dieser Embryo hätte wiederum das Potential dazu, sich zu einem geborenen Menschen weiterzuentwickeln, der dann die DNA der Herkunftszelle (zum Beispiel aus der Haut) hätte. Er entstünde also ein Klon des Hautzellenspenders. Akzeptiert man aber, dass das prinzipiell möglich wäre, dann stellt sich sofort die Frage, ob daraus nicht folgen müsste, dass jede x-beliebige Zelle unseres Körpers ein potentieller Klon von uns wäre, also potentiell so jemand wie wir mit dem entsprechenden moralischen Status. Sich einmal gründlich zu kratzen würde unversehens zum Amoklauf. Es ist kein Wunder, dass Marco Stier und Bettina Schöne-Seifert, die dieses Argument in einem Artikel sehr sorgfältig studiert haben, hier nicht nur von einer absurden, sondern einer absurdesten (absurdest) Ausdehnung des moralischen Status durch die Potentialitätserwägungen sprechen.19
An der Absurdität der Schlussfolgerung, dass jede beliebige unserer Zellen einen besonderen moralischen Status hätte, weil sich daraus letztlich ein ganzer Mensch entwickeln ließe, ist nicht zu rütteln. Die Frage ist nur, ob folglich jeder Versuch scheitern müsse, den Status menschlicher Embryonen und Föten aus ihrem Potential herzuleiten. Generelle Überlegungen zur Potentialität eröffnen zumindest drei alternative Wege.
Erstens kann man wieder darauf zurückkommen, dass Potentiale graduelle Eigenschaften sein könnten. Auch wenn theoretisch die Möglichkeit bestehen sollte, aus jeder Zelle einen Menschen zu formen, so sei dieses Potential so stark auf zusätzliche, höchst unwahrscheinliche externe Umstände angewiesen, dass es nur verschwindend gering sei. Keine unserer Hautzellen hat eine auch nur halbwegs realistische Chance, jemals von einem Biowissenschaftler in einen Menschen verwandelt zu werden. Bei einem Embryo im Rahmen einer PID ist die Wahrscheinlichkeit hingegen ungleich höher, also habe er auch ein deutlich höheres Potential, eines Tages ein Kind zu werden.
Die zweite Überlegung ist in meinen Augen ontologisch noch interessanter. Man kann versuchen, sich einen Unterschied zu Nutze zu machen, auf den ich oben im Rahmen der Diskussion der DCD eingegangen bin: zwischen dem Haben eines Potentials und dem Erwerb des Potentials. Ein Embryo, könnte man sagen, hat das Potential dazu, eines Tages geboren zu werden, die Hautzelle hingegen hat nur das Potential (dank der modernen Biologie), eines Tages das Potential zu erwerben, geboren zu werden. Wie schon bei der DCD stellt sie aber die Frage, ob man diesen Unterschied wirklich machen könnte und wie er sich auf die frühen Stadien der menschlichen Entwicklung anwenden ließe.
Dabei könnte die dritte Überlegung weiterhelfen. Potentiale setzen irgendwie Ziele voraus, und darin scheinen sich die Zygote und die daraus entstehenden Embryos deutlich von beliebigen Hautzellen und vielleicht auch Spermien und Eizellen zu unterscheiden. Ein Embryo ist schließlich dazu da – darauf aus –, sich in einen geborenen Menschen zu verwandeln, eine Hautzelle nicht. Diese Strategie setzt allerdings voraus, dass theoretisch geklärt ist, wie sich dieser teleologische Aspekt der Potentialität für nichtintentionale Entitäten ausformulieren ließe.
Insgesamt gesehen, scheint die moderne Biotechnologie die herkömmlichen Wege in ein menschliches Leben zunehmend aufzulösen bzw. nach Belieben beeinflussbar zu machen. Da ethische Bedenken in diesem Bereich häufig weniger mit dem Ist-Zustand als vielmehr dem Potential zu tun haben, dass eines Tages ein Mensch entsteht, ist in diesem Feld jedenfalls großer Bedarf für eine Vernetzung ethischer und ontologischer Überlegungen.
Ein Thema, das in den ethischen Debatten rund um den Lebensanfang eine wichtige Rolle spielt, ist der Stellenwert potentieller Menschen. Darunter könnte man natürlich die Embryonen verstehen, die das Potential dazu haben, eines Tages geboren zu werden. In der Regel sind damit aber Menschen gemeint, deren Existenz von einer ethisch zu bewertenden Handlungsentscheidung abhängt. Ein gutes Beispiel, das in Deutschland um 1990 herum für heftige Kontroversen gesorgt hat, stammt von Peter Singer.20 Singer fragt in seinem Buch „Praktische Ethik“, ob es für die ethische Bewertung der Abtreibung eines Fötus mit einer genetischen Beeinträchtigung, zum Beispiel Trisomie 21, wichtig sein könnte, ob die Eltern nach der Abtreibung bzw. nach der Geburt des behinderten Kindes voraussichtlich ein weiteres, nicht behindertes Kind bekommen werden. Angenommen, so die Idee, die Eltern werden nur dann ein weiteres Kind bekommen, wenn sie jetzt die Schwangerschaft abbrechen, und angenommen, dieses potentielle Kind und seine Eltern werden insgesamt glücklicher leben, als es das behinderte Kind und seine Eltern tun würden, dann wäre es besser, die Schwangerschaft jetzt zu beenden.
Man kann eine Menge zu dieser Argumentation sagen, für das Thema meines Beitrags ist es aber nur wichtig, dass potentielle Menschen in diesen Diskussionen keine Menschen mit Potentialen sind. Es sind überhaupt keine heute schon existierenden Menschen. Insofern gibt es auch keinen unmittelbaren Zusammenhang zu unserem Thema.
Embryonen haben natürlich nicht nur das Potential, geboren zu werden, sondern viele weitere Potentiale, zum Beispiel mit einem bestimmten Geschlecht geboren zu werden, mit einer Haarfarbe usw. Auch diese Potentiale sind in verschiedener Hinsicht ethisch relevant.
Sehr deutlich wurde dies im Fall eines chinesischen Wissenschaftlers, der 2018 die neu entwickelte Genschere Crispr/CAS9 benutzt hatte, um eine Änderung in der genetischen Ausstattung zweier durch künstliche Befruchtung erzeugter Embryonen vorzunehmen, die danach von ihrer Mutter ausgetragen wurden. Damit sind meines Wissens zum ersten Mal genetisch manipulierte Menschen auf die Welt gekommen. Angeblich wurde durch diesen Eingriff eine verstärkte genetische Disposition für eine HIV-Infektion korrigiert.
Es gibt eine ganze Reihe von ethischen Einwänden gegen diesen Eingriff in die menschliche Keimbahn, nicht zuletzt wegen des unverantwortlichen Risikos, dem die beiden Zwillinge ausgesetzt wurden. Im Hinblick auf das Potential, das der Embryo mitbringt, stellt sich aber die Frage, ob dieses Potential in irgendeiner Weise schützenswert ist, ob es also auch unabhängig von Risiken und Nebenwirkungen Gründe gibt, derartige Eingriffe zu kritisieren.
An dieser Stelle gibt es Berührungspunkte zu zwei Debatten, die in der angewandten Ethik ganz unabhängig von Keimbahneingriffen geführt werden. Erstens wird im Rahmen der Diskussion von Abtreibung und Präimplantationsdiagnostik thematisiert, dass die mit diesen Verfahren in der Regel verbundenen Selektionsinteressen Einfluss auf die Rolle und Bedeutung bestimmter Merkmale in der Gesellschaft haben und letztlich bestehende Diskriminierungen und Stigmatisierungen verstärken könnten. Das gilt vor allem für Geschlecht und Behinderung. Eine Praxis, gezielt Schwangerschaften mit weiblichen Föten abzubrechen, ist nicht nur Ausdruck einer sexistischen Gesellschaft, sondern verstärkt den Sexismus noch. In Deutschland viel relevanter ist die entsprechende Praxis, eine Schwangerschaft wegen der Behinderung des Kindes abzubrechen. Auch das verändert die Sichtweise von Behinderung, sowohl wenn es als Ausnahme von der moralischen Verurteilung von Schwangerschaftsabbrüchen etabliert ist, als auch dadurch, dass behinderte Menschen in der Gesellschaft seltener werden. Eine leicht zugängliche Möglichkeit, die genetischen Voraussetzungen für eine Behinderung zu „reparieren“, würde diese Tendenz wahrscheinlich massiv verstärken.
Zweitens gibt es einen direkten Bezug der Keimbahneingriffe zur Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen von Enhancement. Genmanipulationen versprechen natürlich nicht nur, unliebsame genetische Potentiale auszuschalten, sondern auch, neue, wünschenswerte Potentiale in die DNA einzubauen. Die Unterscheidung ist vermutlich ohnehin fließend. Ein Akt, der eine genetische Disposition für schütteres Haar „repariert“, unterscheidet sich wohl kaum vom „aufwertenden“ Einbau eines Potentials für füllige Locken.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die grundsätzlich gegen Enhancement sprechen, selbst wenn es erst im Erwachsenenalter praktiziert wird (zum Beispiel durch Doping): Unfairness, die Verstärkung von Leistungsdruck, zunehmende Uniformität in der Gesellschaft. Ein Enhancement, das bereits am Lebensbeginn ansetzt, verstärkt diese Gründe teilweise noch (zum Beispiel Gerechtigkeitsüberlegungen) und fügt neue hinzu. Zum einen könnte es sein, dass sich aus dem Besitz bestimmter Potentiale Ansprüche herleiten liessen, in der Realisierung dieser Potentiale unterstützt zu werden. Angenommen, hochbegabte Schüler bräuchten stärkere Unterstützung, um ihre besondere Begabung entwickeln zu können, dann könnte das zur Folge haben, dass die Eltern oder der Staat für diese Unterstützung sorgen müssten. Wie sähe es aber aus, wenn die entsprechenden Potentiale gezielt geschaffen würden? Müsste dann die Gesellschaft beispielsweise lauter Elite-Schulen bauen, nur weil immer mehr Kinder als Genies zur Welt kommen?!
Zum anderen beeinflussen unsere Potentiale, wer wir sind. Eine schnelle Auffassungsgabe, ein absolutes Gehör, ein hervorragendes Ballgefühl, das sind in der Regel wesentliche Merkmale derjenigen Menschen, die diese Talente haben. Eltern, die versuchen, ihren Kindern schon in vitro solche Potentiale einzupflanzen, greifen damit erheblich in deren Identität und Persönlichkeit ein, natürlich ganz ohne Einwilligung der Kinder, die ja erst noch zur Welt kommen müssen. Dazu kommt nach verbreiteter Überzeugung, dass Talente wiederum einen verpflichtenden Charakter für die Kinder selbst haben, dass sie sie nicht einfach vergeuden dürften. Wenn man das aber akzeptiert, dann ist der elterliche Eingriff in die Autonomie der Kinder durch eine entsprechende Genmanipulation noch gravierender.
In der medizinischen Ethik dient Enhancement häufig als Gegenbegriff zu dem der Therapie. Üblicherweise wird angenommen, dass ärztliches Handeln nur dann gerechtfertigt ist, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Indikation und Informierte Einwilligung. Moderne Ärzt*innen sind daran gebunden, dass ihre Patient*innen behandelt werden wollen, aber anders als andere Dienstleister sind sie nach verbreiteter Überzeugung auch daran gebunden, dass es einen respektablen Behandlungsgrund gibt, und das ist in der Regel eine Krankheit des Patienten oder der Patientin. Schon deshalb ist es in der Medizinethik interessant, Krankheiten von anderen möglichen Behandlungsgründen abzugrenzen, beispielsweise von einer Bitte um Enhancement. Ein typisches Feld für diese Frage ist etwa die kosmetische Chirurgie, in der zwischen körperlichen Auffälligkeiten unterschieden wird, die Krankheitswert haben, und solchen, für die das nicht gilt. Die Behandlung ersterer ist therapeutisch, ansonsten handelt es sich um Enhancement („Schönheitschirurgie“).
Ob es sich bei einem Zustand um eine Krankheit handelt oder nicht, ist aber längst nicht nur deshalb wichtig, weil davon abhängt, ob die Ärztin/der Arzt therapeutisch tätig ist. Krank zu sein bringt gewöhnlich eine deutliche Veränderung des moralischen Status mit sich. Kranke haben auf der einen Seite häufig einen größeren Anspruch auf Hilfe und Schonung, auf der anderen Seite ergeben sich für sie möglicherweise neue Verpflichtungen (z.B. Bettruhe) oder der Verlust von Rechten (Führerscheinverlust). Darüber hinaus verändert Kranksein u.U. das Selbstverständnis eines Menschen und seine soziale Rolle, was ethisch berücksichtigt werden muss (wird z.B. jemand ‚pathologisiert‘?). Entsprechend vielfältig ist die Debatte darum, was man darunter verstehen sollte, dass jemand krank ist.21
Die Fortschritte der Medizin, insbesondere auch der genetischen Diagnostik, führen aber zunehmend dazu, dass man nicht nur feststellen kann, ob jemand eine Krankheit im herkömmlichen Sinn hat, sondern auch, ob jemand das Potential dazu hat, später einmal eine derartige Krankheit zu bekommen.22 Das wirft die Frage auf, ob man von der betreffenden Person sagen sollte, dass sie schon länger (u.U. von Geburt an) krank ist, sich aber erst später die Symptome der Krankheit zeigen werden, oder ob sie nur ein erhöhtes Krankheitspotential hat, aber noch nicht krank ist. Für beides scheint es klare Fälle zu geben. Im Fall einer HIV-Infektion wird zwar manchmal zwischen der Infektion und der eigentlichen AIDS-Erkrankung unterschieden, aber angesichts der deutlichen körperlichen Einflüsse des Virus von Anfang an, ist es naheliegend, schon den Infizierten als krank zu betrachten. Andererseits gibt es viele Krankheiten, deren Ätiologie erwiesenermaßen genetische Anteile hat, ohne dass man auf die Idee käme, die genetisch vorbelasteten Menschen als krank anzusehen. An der Entstehung von Depressionen sind beispielsweise genetische Faktoren beteiligt, aber nicht jeder Mensch, der sie in seinen Erbanlagen hat, ist depressiv. Dazwischen gibt es Beispiele, in denen eine genetische Anlage zwangsläufig zum Ausbruch der Krankheit führt, z.B. Chorea Huntington, und wo sich deshalb die Frage stellt, ob sie im Grunde schon von Geburt an krank sind, aber ohne es zu merken. Da damit zu rechnen ist, dass die Medizin die genetischen Einflüsse auf unsere Gesundheit immer besser durchschaut, wird die Frage, ob jemand krank ist, das Potential dazu hat oder vielleicht nur das Pech hat, auch ohne dieses Potential krank zu werden, immer wichtiger werden.
Allerdings wirft die diagnostische Möglichkeit, ein Krankheitspotential zu erkennen, auch unabhängig von der Frage, ob es dafür ausreicht, jemanden als krank anzusehen, ethische Probleme auf. Denn auch hier drohen Diskriminierung und Stigmatisierung. Bewerber*innen für besonders exponierte Berufe (z.B. Piloten) könnten beispielsweise genötigt werden, sich genetisch testen zu lassen. Es fragt sich deshalb, ob und inwieweit die eigenen Potentiale bzw. deren Mängel Teil der individuellen Privatsphäre sind, die gegen Zugriff von außen ethisch geschützt ist (Informationelle Selbstbestimmung).
Zugleich gilt auch für die Privatsphäre, dass wir verantwortlich mit ihr umgehen müssen. Deshalb ist es ein weiteres interessantes ethisches Problem, inwieweit wir dazu verpflichtet sind, unsere Potentiale und Dispositionen kennen zu lernen, wenn dies technisch möglich ist, oder ob wir hier ein Recht auf Nichtwissen haben. Ethisch relevante Gründe, die unter Umständen dafürsprechen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung über unsere Potentiale und das Recht auf Nichtwissen einzuschränken, liegen am ehesten in der mit dem Potential verbundenen Bedrohungen Dritter. Allerdings bedeuten allein die Krankheits-Potentiale selten eine unmittelbare Gefahr. Man könnte allenfalls von jemandem mit einem hohen genetischen Risiko für eine monogene Erbkrankheit wie Chorea Huntington erwarten, sich testen zu lassen, bevor er oder sie ein Kind zeugt. Aber auch das ist strittig.
Die stetig wachsende Fähigkeit von Medizinern, die in uns schlummernden Vorboten unserer (möglichen) Zukunft aufzuspüren, bietet viel Stoff für die Moralphilosophie. Das gilt auch für das nächste verwandte Thema.
Im Zusammenhang mit der DCD war schon davon die Rede, dass nach unserem Lebensverständnis der Tod endgültig und unwiderruflich ist. Endgültigkeit und Irreversibilität spielen in der medizinischen Ethik aber auch an anderen Stellen eine Rolle: dort, wo es um Unheilbarkeit geht und wo ein Mensch als sterbend betrachtet wird.
Unheilbarkeit ist der Verlust des Potentials, wieder gesund zu werden. Insofern könnte man meinen, dass es die Grenze ärztlichen Handelns bildet. Tatsächlich war es in der Antike für die Ärzte wichtig, diagnostisch feststellen zu können, ob eine Krankheit unheilbar war, weil sie sich dann bemühten, aus der Behandlungsbeziehung zu entkommen. Und noch im 20. Jahrhundert war die Einstellung verbreitet, dass Ärzte allein dafür zuständig seien, Krankheiten zu bekämpfen, so dass sie auch im Fall von unheilbar todkranken Menschen keine Alternative dazu sahen, als weiter gegen den Tod anzukämpfen. Es war deshalb ein wichtiger Teil der medizinethischen Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das ärztliche Aufgabenspektrum um palliative Tätigkeiten zu erweitern. Ärztliche Hilfe hört nach heutigem medizinethischem Verständnis nicht auf, wenn eine Krankheit als unheilbar diagnostiziert ist, sondern muss weiter dem Wohlbefinden des Patienten gewidmet werden.
Unter Umständen ist in einer solchen Situation aber auch ein ärztliches Handeln erlaubt, das in anderen Situationen verboten wäre. Zumindest ist das eine verbreitete Haltung in der sogenannten Sterbehilfe-Debatte. Dort, wo ärztliche Tötung auf Verlangen oder ärztlich assistierter Suizid nicht als moralisch vollkommen unzulässig angesehen werden, findet sich häufig die Einschränkung auf unheilbar erkrankte oder sogar sterbende Menschen. Das spiegelt sich auch in den gesetzlichen Regelungen in verschiedenen Ländern wider: Nicht jeder dürfe Suizidassistenz in Anspruch nehmen, nur unheilbar schwer erkrankte, stark leidende Menschen. Der Verlust ihres Potentials, weiter ihr Leben zu führen, macht es plötzlich moralisch denkbar, diesem aktiv ein Ende zu setzen.
Aus Sicht der theoretischen Medizin wäre es zudem interessant zu fragen, wie sich Unheilbarbarkeit und die Möglichkeit und Unmöglichkeit, wieder gesund zu werden, zueinander verhalten. Ich habe eingangs erläutert, dass es möglich ist, dass etwas mit einem geschieht, ohne dass man das Potential dazu gehabt hätte (etwa der Aufstieg Arminia Bielefelds aufgrund eines Korruptionsskandals in der Bundesliga). Bekanntlich ist es möglich, dass jemand das Potential hat, gesund zu werden, und doch das Pech, nicht wieder zu genesen. Könnte es aber auch geschehen, dass jemand das Potential, wieder zu genesen, verliert, aber aufgrund glücklicher Umstände trotzdem gesund wird? Es wird vermutlich damit zusammenhängen, wie sich die Genesung erklären ließe und wie nicht.
Es gibt nicht nur Potentiale für Krankheiten, sondern viele Krankheiten bringen es auch mit sich, dass sich unsere Potentiale verändern, häufig zum Schlechten. Nicht selten bedeutet dies nicht nur Kummer für uns, sondern auch eine Bedrohung für andere Menschen. Fasst man den Potentialitätsbegriff sehr weit, dann erwerben wir beispielsweise mit manchen Krankheiten das Potential, andere Menschen anzustecken. Doch, wie gesagt, man muss den Begriff sehr weit fassen, damit er passt. Ein Ansteckungspotential ist nur uneigentlich ein Potential, andere Menschen krank zu machen.
Eine besondere ethische Bedeutung haben durch Krankheiten hervorgerufene Dispositionen zu schädigendem Verhalten, insbesondere im Rahmen einer psychischen Störung. Selbst- und Fremdgefährdung sind rechtliche Gründe, einen Menschen auch gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen. Die Idee dahinter ist, dass dieser Mensch wegen seiner Erkrankung in einer konkreten Situation anders als andere Menschen ein Potential in sich trägt, andere Menschen unmittelbar (zumeist körperlich) zu schädigen.
Interessanterweise kommt einem hier der Potentialitätsbegriff anders als im Fall der Ansteckungsgefahr nicht seltsam vor, obwohl es sich fraglos um eine negative Disposition handelt, andere Menschen zu schädigen. In meinen Augen ist das schon ein erstes Anzeichen dafür, dass sich das teleologische Element in unserem Potentialitätsbegriff verändert, wenn es sich nicht bloß um ein Geschehen (wie z.B. eine Ansteckung) handelt, sondern um ein Tun. Aus einem objektiven wird ein subjektives Ziel. Dabei muss es sich nicht um eine geplante Absicht handeln. Der psychisch verwirrte Mensch, der dazu neigt, plötzlich aufzubrausen und um sich zu schlagen, hat ein Potential zu Gewalttätigkeiten, auch wenn seine Attacken keine intentionalen Handlungen sind. Es reicht, dass es etwas ist, was er tut, was ihm nicht nur zustößt.
Manchmal ist das Verhalten, zu dem jemand ein Potential hat, aber auch intentional. Oder zumindest ist der Akteur steuerungsfähig und lässt es intentional zu, dass sich sein Gewaltpotential Bahn bricht. Dann kommen zwei neue ethische Gesichtspunkte ins Spiel: die Freiheitsrechte des Akteurs und seine Verantwortung. Inwieweit darf man wegen des Potentials eines Akteurs diesen in seiner Freiheit einschränken? Und wovon hängt es ab? Ist das Szenario aus dem Film „Minority Report“ zu rechtfertigen, in dem potentielle Mörder schon vor der Tat aus dem Verkehr gezogen werden? Wenn aber nicht, wo liegt der Unterschied zur Freiheitsbeschränkung bei psychiatrisch festgestellten Gefährdungspotentialen? Wo beginnt umgekehrt die Schuldfähigkeit des Akteurs, der sein Potential realisiert? – Ich werde darauf noch einmal zurückkommen.
Medizin hat es nicht nur mit dem Verlust des Potentials, wieder gesund zu werden, zu tun, Potentiale sind häufig auch das Ziel ärztlichen Handelns. Das gilt dann, wenn es Teil der Krankheit ist, ein Potential verloren zu haben, das man einmal besaß, beispielsweise die Immunabwehr, oder wenn es zur normalen Entwicklung gehört, ein Potential zu erwerben, diese Entwicklung aber gestört ist, wie beispielsweise die Sprachentwicklung. Behandlungsziel ist dann jeweils die Herstellung des Potentials. Es kann aber auch Ziel ärztlicher Tätigkeit sein, spezifische Potentiale zu vermitteln, die einem Menschen im Umgang mit Krankheit und Gesundheit helfen (Empowerment). Aus ethischer Sicht sind Potentiale als Behandlungsziele aber in aller Regel unproblematisch und nicht selten begrüßenswert, weil sie die Patienten stärken.
Ein besonderes Thema ist in diesem Zusammenhang die Impfung, also die Stärkung der körpereigenen Abwehr zur Krankheitsverhinderung. Anders als viele andere Beispiele der medizinischen Steigerung eines Potentials, dienen Impfungen häufig nicht nur dem individuellen Patientenwohl, sondern haben auch einen gesundheitsstrategischen Zweck: die Krankheit soll eingedämmt werden. Zunächst sieht dies nach einer weiteren Instanz des grundsätzlichen Problems aus, zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und sozialen Verpflichtungen für die Gemeinschaft zu vermitteln. Es kommt allerdings eine Besonderheit dazu, die mit unserem Thema zusammenhängt. Impfungen dienen der Gemeinschaft auf besondere Weise: dadurch, dass sie sich gegen die Möglichkeit (das Potential?) eines Menschen richten, seinerseits eine Gefahr für andere Menschen zu sein. Der Geimpfte hilft also nicht einfach der Gesellschaft, sondern er tut dies dadurch, dass er verhindert, die Gesellschaft zu schädigen. Das ist beispielsweise für die ethische Beurteilung der Impfpflicht im Rahmen der Corona-Pandemie wichtig. Es macht aus ethischer Sicht einen Unterschied, ob man eine Impfung gegen Covid-19 als Akt der Solidarität gegenüber vulnerablen Mitmenschen ansieht (wozu man plausiblerweise nicht genötigt werden darf) oder als Vorsorge dagegen, dass man sie wissentlich einer Gefahr aussetzt (was rechtlich geboten sein kann).
Ethisch interessanter als die üblichen Fälle der Wiederherstellung von Potentialen sind Situationen, in denen medizinische Behandlungen Potentiale beeinträchtigen. Dies kann zum einen als bewusste Begleiterscheinung der Behandlung bzw. als riskierte Nebenwirkung geschehen. Traditionell gilt in der medizinischen Ethik der Grundsatz, Patient*innen nicht zu schaden. In der Regel ist aber eine Abwägung erforderlich, zwischen dem intendierten Behandlungsziel einerseits und den dafür in Kauf genommenen Kosten andererseits. Zu diesen Kosten können natürlich auch Beeinträchtigungen von Potentialen zählen. Eine Augenoperation kann dazu führen, dass ich ein paar Stunden lang nichts sehen kann; ein Neuroleptikum kann meine Beweglichkeit einschränken.
Zum anderen kann eine Behandlung in seltenen Ausnahmefällen auch direkt darauf abzielen, Potentiale einzuschränken. Ethisch bedeutsame Beispiele sind die Sterilisation, um keine Kinder mehr zeugen oder bekommen zu können, medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei Kindern mit uneindeutigem Geschlecht, die das Potential zur Genderentwicklung fixieren sollen, oder Amputationen bei Personen mit Body Identity Integrity Disorder (BIID), die Gliedmaßen als körperfremd empfinden und von ihnen befreit werden möchten.
Wenn bislang von Potentialen die Rede war, dann waren dies häufig Potentiale für ein Geschehen, in dessen Realisierung jemand irgendwie involviert ist (zum Beispiel indem sein Organismus die Körpertemperatur reguliert oder indem er geboren wird). In dem letzten Abschnitt meines Beitrags möchte ich kursorisch auf die Bedeutung einer speziellen Klasse von Potentialen für die medizinische Ethik eingehen: Potentiale, die wir als psychische Wesen haben. Es gibt mindestens drei Themenbereiche, in denen diese Potentiale eine besondere Rolle spielen.
Ich habe oben im Zusammenhang mit der Hirntoddebatte schon angesprochen, dass für viele Menschen der Tod darin besteht, dass sozusagen innen definitiv das Licht ausgeht. Auch wenn das als Todesverständnis wenig plausibel ist, so zeigt sich darin eine Idee, die sich in vielen medizinethischen Erwägungen wiederfindet: Es macht einen großen Unterschied, ob ein Mensch noch etwas davon mitbekommt – ob er es wahrnimmt, spürt, erlebt –, was mit ihm geschieht, oder nicht; oder ob er zumindest eines Tages wieder aufwacht und hinterher erfährt, was mit ihm geschehen ist. Wenn ein Mensch hingegen weder bei Bewusstsein ist, noch das Potential dazu hat, das Bewusstsein zurück zu erlangen, dann beeinflusst dies deutlich seine moralische Situation. In der Hirntod-Debatte erlebt man es deshalb immer wieder, dass sich Zweifel daran, dass Hirntote tot sind, auf die Befürchtung zurückführen lassen, sie könnten doch noch (‚systemisch‘, ohne Gehirn?) etwas davon spüren, dass ihnen Spenderorgane entnommen werden. Ist hingegen sichergestellt, dass man das Bewusstsein niemals wiedererlangen wird, dann scheint es eher gleichgültig zu sein, was mit einem geschieht.
Ähnlich ist häufig die Haltung gegenüber einer anderen Gruppe von Menschen, Patient*innen im Wachkoma, medizinisch als „Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW)“ bezeichnet.23 Diese Menschen haben so schwere neurologische Störungen, dass sie kein bewusstes Erleben haben und zu keinen zielgerichteten Verhaltensweisen fähig sind. Häufig ist das Wachkoma nur ein Durchgangssyndrom und der Zustand der Patient*innen bessert sich langsam wieder, selbst noch nach Monaten. Da Patient*innen im Wachkoma aber noch viele Jahre leben können, kann irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem medizinisch feststeht, dass sie das Potential zu einem bewussten Innenleben unwiderruflich verloren haben. Und dann fragt es sich, welchen Einfluss diese Feststellung auf unsere Haltung diesen Personen gegenüber haben sollte, beispielsweise auf die Behandlung hinzukommender lebensbedrohlicher Erkrankungen. Historisch sind solche Erkrankungen häufig als „Erlösungen“ angesehen wird.
Nicht selten wird der Verlust des Bewusstseins-Potentials auch als eine Art Ende der Existenz dieser Menschen betrachtet. Als beispielsweise im Jahr 2005 bei der Amerikanerin Terry Schiawo unter großer öffentlicher Anteilnahme und gegen den erbitterten Widerstand ihrer Eltern und des damaligen Präsidenten, George W. Bush, die künstliche Ernährung eingestellt wurde und sie starb, ließ ihr Mann in den Grabstein eingravieren:
Departed This Earth February 25, 1990
At Peace March 31, 2005
Erdenbürger sind wir dieser Idee zufolge offenbar nur solange, wie wir zumindest das Potential dazu haben, bei Bewusstsein zu sein.
Diese Idee hat auch eine faszinierende Rückseite, dass nämlich das Potential, unser Bewusstsein immer weiter fortzusetzen, uns zugleich die Möglichkeit verschafft, weiter zu existieren. Das ist der Grundgedanke der Posthumanisten. Ihnen zufolge haben wir etwas in uns, unser Bewusstsein, das uns im Prinzip unsterblich macht. Man muss nur die geeigneten technischen Mittel entwickeln, um unser Bewusstsein rechtzeitig von seinem sterblichen biologischen Körper zu befreien und es dafür in eine andere, stabilere elektronische Umgebung umzusiedeln. Die grundsätzliche Unabhängigkeit unseres Bewusstseins von seinem neuronalen Substrat verschafft uns das Potential eines ewigen Lebens.
Offenkundig hängt die Plausibilität dieser posthumanistischen Vorstellung von der Annahme ab, dass wir tatsächlich das Potential haben, immer weiter bei Bewusstsein zu sein, auch wenn unser Körper zerstört ist, solange es nur zuvor irgendeine Art von Daten-Transfer gegeben hat. Denn, wie schon mehrfach erwähnt, Potentiale beziehen sich immer auf eine Realisierung bei der betreffenden Person. Ob wir also wirklich ein Potential haben, endlos weiter bei Bewusstsein zu sein, hängt auch davon ab, ob es dann noch wir sind, die das entsprechende Bewusstsein haben. Die üblichen Überlegungen in der Debatte zur personalen Identität, zur Rolle eines kontinuierlichen Bewusstseinsstroms für die diachrone Identität einer Person, scheinen deshalb durch den Rückgriff auf ein Potential nicht überflüssig zu werden.
Wie oben schon erläutert, sind medizinische Behandlungen eigentlich nur dann moralisch zulässig, wenn neben der medizinischen Indikation die aufgeklärte Einwilligung der Patienten vorliegt.24 Eine große Gruppe von medizinethischen Problemen ergibt sich nun daraus, dass manche Menschen nicht in der Lage sind, eine derartige Einwilligung zu geben, ohne dass man sie deshalb von medizinischen Behandlungen ausschließen möchte. Ganz grob kann man vier Situationen unterscheiden, an die man dabei denken kann:
Es kann sich um Kinder handeln, die diese Fähigkeit noch nicht erworben haben.
Es kann sich um Menschen handeln, die aufgrund einer schweren kognitiven Beeinträchtigung (zum Beispiel Demenz) diese Fähigkeit dauerhaft verloren haben
Es kann sich um Menschen handeln, die aufgrund einer schweren kognitiven Beeinträchtigung diese Fähigkeit niemals erwerben können.
Es kann sich um Menschen handeln, die diese Fähigkeit zeitweilig verloren haben, zum Beispiel aus Krankheitsgründen oder infolge einer medizinischen Maßnahme wie beispielsweise einer Narkose.
Fähigkeiten, davon gehe ich aus, bilden eine Teilmenge der Potentiale. Das Potential, aufgeklärt in eine medizinische Behandlung einzuwilligen, setzt sich aus drei verschiedenen Teilpotentialen zusammen: einem kognitiven Potential, die eigene medizinische Situation und die möglichen Behandlungsmaßnahmen zu verstehen, einem evaluativen Potential, mögliche Alternativen gegeneinander abzuwägen und zu bewerten, und einem dezisionalen Potential, auf der Basis dieser Bewertung eine Entscheidung zu treffen. Wie wir nun aber aus eigener Erfahrung mit allen drei Potentialen wissen, können Sie unterschiedlich stark ausgeprägt sein, in Abhängigkeit von der jeweiligen Person, aber auch von der konkreten Entscheidungssituation. Dieser graduelle Charakter der drei Teilpotentiale steht in einer gewissen Spannung zu der Idee, medizinische Behandlungen an das Vorliegen einer aufgeklärten Einwilligung zu binden. Ob eine solche Einwilligung vorliegt, scheint häufig eine Frage des mehr-oder-weniger zu sein, nicht des entweder-oder. Die Medizinethik trägt dem normalerweise dadurch Rechnung, dass sie die Anforderungen an die Qualität der Einwilligung in Beziehung zur Bedeutung, zu den Erfolgsaussichten und zu den Risiken und Nebenwirkungen der betrachteten medizinischen Maßnahmen setzt.
Ethisch problematischer als der graduelle Charakter dieser Potentiale sind die dahinterstehenden normativen Voraussetzungen. Mit der Fähigkeit, alternative Behandlungsoptionen gegeneinander abzuwägen, ist natürlich implizit gemeint, dass es sich um eine richtige oder zumindest vernünftige, nachvollziehbare Bewertung handeln müsse. Dasselbe gilt für die Fähigkeit, auf der Basis dieser Abwägungen eine Entscheidung zu fällen. Wenn eine Patientin beispielsweise zu dem Urteil gelangt, dass es viel besser für sie (und überhaupt) wäre, einen entzündeten Blinddarm operativ entfernen zu lassen, statt unweigerlich an einer Sepsis zu sterben, und sie sich dann trotzdem gegen eine Operation entscheidet, könnte man sagen, dass es ihr offenbar an der Fähigkeit mangelt, sich auf der Basis einer Bewertung zu entscheiden. Man könnte sich aber auch daran erinnern, wie häufig wir selbst eine Handlungsoption für insgesamt besser gehalten und trotzdem etwas Anderes getan haben – allen philosophischen Versuchen, Willensschwäche als unmöglich zu entlarven, zum Trotz. Dass wir gelegentlich willensschwach sind, heißt sicher nicht, dass wir nicht die Fähigkeit haben, auf unseren Bewertungen aufbauend zu handeln, wieso sollte dasselbe nicht auch von der Patientin gelten, die die Blinddarmoperation ablehnt? Es zeige vielmehr, könnte man auch sagen, dass sie in der Lage ist, frei zu handeln.
Es ist ein umstrittenes Thema in der handlungstheoretischen Debatte der Willensschwäche, ob es einen fundamentalen Unterschied zwischen Willensschwäche und Zwangshandlungen gibt, also zwischen der Fähigkeit, frei darin zu sein, das Richtige zu tun – nur dass man sich gerade trotzdem dagegen entschieden hat –, und einer Unfreiheit wegen der Unfähigkeit, seine Handlungsentscheidungen an seinen Bewertungen auszurichten.25 In der Medizinethik zeigt sich, wie wichtig dieser Unterschied zwischen freien, wenngleich idiosynkratischen Entschlüssen für das medizinisch Unvernünftige und unfreiwilligen, beeinträchtigten Entschlüssen ist.
Dieses Problem hängt eng mit dem nächsten, letzten Thema zusammen, das ich wirklich nur streifen kann.
Patient*innen sind Personen. Viele medizinethische Gesichtspunkte setzen voraus, dass die Patient*innen eine zeitübergreifende Existenz haben, die es erforderlich machen kann, Behandlungsentscheidungen mit Blick auf ihre Vergangenheit und Zukunft zu treffen. Das gilt in dem trivialen Sinn, dass eine Diagnose die Ätiologie von Beschwerden umfasst. Es betrifft aber auch die soziale Einbindung (wohnt seit 20 Jahren mit ihrem Bruder zusammen), Lebensereignisse (ist mit 14 Jahren aus Syrien nach Deutschland geflohen) und moralisch und/oder rechtlich relevante vergangene Akte (hat seine Mutter gebeten, ihn nichts ins Krankenhaus bringen zu lassen). Ohne Bezug auf die Zukunft einer Person lassen sich zudem fundamentale ethische Kategorien wie Schaden und Wohltun nicht verstehen. Auch der Begriff des Potentials setzt eine diachrone Identität der Person voraus, denn, wie schon häufiger gesagt, ein Potential kann man nur für etwas haben, das an einem selbst realisiert wird.
Ewas weniger trivial ist vielleicht die Feststellung, dass eine spezifische Eigenschaft, die für das Leben der meisten von uns konstitutiv ist, ebenfalls eine diachrone Identität voraussetzt, weil sie ihrerseits auf Potentialen beruht, die Eigenschaft, eine handelnde und deshalb auch intentionale Person zu sein. Was Handlungen sind, ist in der Handlungstheorie notorisch umstritten. Weitgehender Konsens besteht aber darüber, dass Handlungen ihre Erklärlichkeit aus Handlungsgründen wesentlich ist. Man versteht, warum eine Handlung geschieht, wenn man die Motive erfährt, aus denen sie durchgeführt wird. Auf bestimmte Weise erklärlich zu sein, ist allerdings noch kein Potential – so wenig wie es ein Potential gibt, beschrieben zu werden, oder wie die Zahl 42 das Potential hat, durch 7 teilbar zu sein. Wenn etwas erklärt wird, dann geschieht nichts mit dem Erklärten.
Das Besondere an der Erklärlichkeit von Handlungen ist aber, dass sie ein Potential beim Akteur voraussetzt. Indem wir einem Akteur intentionale Einstellungen zuschreiben, aus denen er oder sie handelt, beschreiben wir die Handlungen als Realisierungen eines sehr spezifischen, menschlichen Potentials, rational auf die Welt zu reagieren.26 Insofern medizinethische Erwägungen also die Patientin oder den Patienten als intentional handelnde Person betreffen, die etwas möchte, glaubt, plant, verabscheut, fürchtet usw., betrachtet sie sie als Trägerin eines Potentials mit einer zeitüberdauernden Identität.
Je länger ich mich mit der Aufgabe beschäftigt habe, der Rolle von Potentialen in den verschiedenen Themenbereichen der medizinischen Ethik nachzugehen und mögliche Brücken zu theoretischen Fragen zu schlagen, desto klarer wurde mir, dass das Resultat unvollständig werden würde. Ich hoffe aber, es ist mir gelungen, zumindest ein paar Topics zu identifizieren, an denen solche Verbindungen fruchtbar ansetzen könnten:
dass Potentialität diachrone Identität voraussetzt,
dass Potentiale manchmal auch aktuale Komponenten haben,
dass man Potentiale auch graduell haben kann,
dass es einen Unterschied zwischen (ausgesetztem) Besitz und Erwerb eines Potentials gibt,
dass auch etwas mit einem geschehen kann, wozu man das Potential hat, ohne dass dadurch das Potential realisiert würde,
oder sogar, dass etwas mit einem geschieht, wozu man kein Potential hat,
dass die teleologische Komponente eines Potentials möglicherweise anderes funktioniert, wenn es sich um ein Potential zu einem Tun handelt, und nicht nur ein Potential zu einem Geschehen.
Hier, scheint es mir, gibt es erhebliches Potential für eine wechselseitig Befruchtung von ganz theoretischer und ausgesprochen praktischer Philosophie.