Unter geistigen Fakultäten verstand man klassischerweise kognitive Vermögen oder Fähigkeiten wie die Sinne, die Vorstellungskraft, das Gedächtnis, der Verstand – auch „Intellekt“ genannt – und der Wille). Sie spielten im (spät-)aristotelischen und platonischen Denken der Renaissance eine wichtige Rolle, bevor in der frühen Neuzeit die traditionellen Ansichten über die metaphysische Struktur der Welt und unseren erkenntnistheoretischen Zugang zu ihr fundamental überdacht wurden. Frühneuzeitlichen Philosophinnen und Philosophen standen den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Ansichten ihrer Vorgänger im Allgemeinen und deren Ansichten über geistige Fakultäten im Besonderen oft sehr kritisch gegenüber. Dennoch sprachen praktisch alle von ihnen (auf die eine oder andere Weise) über geistige Fakultäten oder Vermögen, und viele von ihnen strukturierten sogar ihre Kognitions- und Erkenntnistheorien entlang einer Diskussion dieser Fakultäten. Gleichzeitig vertraten frühneuzeitliche Autoren von René Descartes bis Thomas Reid, die im Zentrum dieses Artikels stehen, überraschend unterschiedliche Ansichten darüber, was geistige Fähigkeiten, Vermögen oder Fakultäten wirklich sind, wie sie miteinander in Beziehung stehen und worin ihre kognitiven Leistungen bestehen.
Während sich auch platonische Philosophen der Renaissance (wie Ficino und Pico della Mirandola) auf kognitive Fakultäten bezogen, waren es aristotelische Autoren dieser Zeit, die die ausgefeiltesten Theorien zur Metaphysik der Fakultäten oder geistigen Fähigkeiten entwickelten. Großen Einfluss auf frühneuzeitliche Philosophinnen und Philosophen übten dabei jesuitische Autoren wie Toletus, Suárez und die sog. Conimbricenses (eine Gruppe von Gelehrten, die zwischen 1592 und 1606 eine Reihe an Aristoteles Kommentaren in Coimbra und Lissabon veröffentlichten) aus. Insbesondere zwei ihrer Ansichten zogen den Spott und die Kritik ihrer frühneuzeitlichen Nachfolgerinnen und Nachfolger auf sich. Zum einen entwickelten Aristoteliker ihre Theorien der kognitiven Fakultäten oder Vermögen ausgehend von der hylomorphistischen Annahme, dass natürliche Substanzen Komposita aus Form und Materie sind. Während die Form von Lebewesen in ihrer Seele besteht, die wesentlich mit einer Reihe von Vermögen oder Fakultäten ausgestattet ist, die für die Lebensfunktionen dieser Wesen (z.B. ihren Stoffwechsel) und die kognitiven Funktionen (wie die Wahrnehmung und ggf. ihren Verstand) verantwortlich sind. In Anlehnung an Aristoteles‘ De anima2 wurden diese Vermögen auch als „Seelenteile“ bezeichnet. Zum anderen übernahmen viele jesuitische Philosophen die thomistische Auffassung, dass die Fakultäten oder seelischen Vermögen echte Dinge oder res sind, die sich real von der ihnen zugrundeliegenden Seele unterscheiden und als unmittelbare (effiziente) Ursachen ihrer jeweiligen Operationen fungieren.3
Was nun die erste Annahme betrifft, so lehnten viele Philosophinnen und Philosophen der frühen Neuzeit den Hylomorphismus ab und ersetzten ihn durch ein korpuskularistisches Weltbild, demzufolge materielle Dinge lediglich Aggregate kleiner Körper (oder Korpuskeln) sind, deren Bewegungen sich allein durch mechanistische Naturgesetze erklären lassen. Dies gilt auch für mindestens einige der Prozesse, die Aristoteliker mit Rückgriff auf die Fakultäten oder Vermögen einer Form oder Seele von Lebewesen zu erklären versuchten. So argumentierte etwa Descartes dafür, dass wir uns tierische Körper schlicht als Maschinen vorstellen können, die allein mechanistischen Gesetzen unterliegen, so dass ihre vegetativen und grundlegenden Wahrnehmungsfunktionen „in dieser Maschine alle von Natur her nicht mehr und nicht weniger allein aus der Disposition ihrer Organe folgen als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten aus der Bewegung ihrer Gegengewichte und Räder“. Entsprechend sah Descartes auch „keinen Anlass […] irgendeine […] vegetative oder sensitive Seele“ in den Tieren anzunehmen.4
Nicht-aristotelische Philosophinnen und Philosophen der frühen Neuzeit lehnten überdies die Auffassung ab, geistige Vermögen oder Fähigkeiten seien eigenständige Dinge oder res, die als Ursachen fungieren. Im Namen vieler von ihnen klagte Locke, es sei im besten Fall irreführend, von geistigen Vermögen „als von ebenso vielen selbständigen handelnden Wesen zu reden und sie auch so darzustellen. Denn wenn jemand fragte, was es war, das die Speisen in unserm Magen verdaut hat, so ließe sich leicht und befriedigend antworten, dass es die Verdauungsfähigkeit war. Was bewirkte, dass etwas aus dem Körper ausgeschieden wurde? Die Ausscheidungsfähigkeit. [...] Ebenso war es im Geist die intellektuelle Fähigkeit oder der Verstand, der verstand, und die Wahlfähigkeit oder der Wille, der wollte oder anordnete.“5
Abgesehen von dem Hinweis auf die (vermeintliche) Absurdität der Annahme, Fakultäten oder Vermögen seien eigenständige Akteure, beinhaltet Lockes Kritik eine weitere Beschwerde, die in der frühen Neuzeit so populär war, dass sie sogar ihren Weg in die Schönen Künste fand. Es handelt sich um den Vorwurf, Fakultäten oder geistige Vermögen seien explanatorisch wertlose Postulate, der durch Molières Komödie Le malade imaginaire6 berühmt wurde. In einer Szene dieses Theaterstücks besteht ein philosophisch geschulter Medizinstudent eine Prüfung, indem er die Frage, warum Opium einen zum Einschlafen bringe, mit dem Verweis auf dessen einschläfernde Kraft (virtus dormitiva) beantwortet, „deren Natur es ist, die Sinne schläfrig zu machen“. Die philosophische Pointe, die hinter diesem Witz steht, ist die, dass die Erklärung des Auftretens eines Ereignisses X mit Berufung auf eine Kraft oder Fähigkeit, X hervorzubringen, so lange nicht erhellend ist, als wir nicht erklären können, worin diese Kraft, X hervorzubringen, besteht.7 In diesem Sinne lehrten Antoine Arnauld und Pierre Nicole, dass die Rede von „Kräften“ und „Vermögen (faculté)“ müßig oder bestenfalls vorläufig ist, da sie die wirklichen Ursachen der Dinge nicht spezifiziert und oft nur die eigene Unkenntnis dieser Ursachen verbirgt.8 Und selbst Leibniz machte sich über diejenigen lustig, die die Fähigkeit einer Uhr, die Zeit anzuzeigen, mit einem „stundenanzeigendem Vermögen“ (faculté horodeictique) oder die Fähigkeit einer Mühle, Getreide zu zerkleinern, mit ihrem „Mahlvermögen“ (faculté fractive) erklären wollten.9
All diesen Bedenken gegenüber der aristotelischen Fakultätspsychologie zum Trotz spielten Diskussionen über Fakultäten oder geistige Vermögen eine zentrale Rolle in der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie. Viele Philosophinnen und Philosophen dieser Zeit – sowohl jene, die zum Rationalismus neigten, als auch jene, die zum Empirismus neigten – betrachteten diese Diskussionen sogar als zentral für das Projekt der Philosophie selbst, da sie ein genaues Verständnis unserer kognitiven Fähigkeiten oder Fakultäten als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Suche nach Wissen und Wahrheit ansahen. So kündigte Nicolas Malebranche in seiner Suche nach der Wahrheit an, er untersuche darin „die ganze Seele des Menschen, […] die Natur all ihrer Kräfte und bestimme ihren rechtmäßigen zur Verhütung der Irrtümer notwendigen Gebrauch.”10 In ähnlicher Weise eröffnete John Locke seinen Essay Concerning Human Understanding mit der Bemerkung, dass wir gut daran täten, wenn wir zunächst „unseren eigenen Verstand betrachteten, unsere eigenen Kräfte prüften, um zu sehen, welchen Dingen sie angemessen seien“. Locke hoffte, dass, wenn man nur „die Kapazität unseres Verstandes wohl erwöge, den Umfang unserer Erkenntnis einmal feststellte und die Grenzlinie ausfindig machte, die […] das für uns Faßliche und das Unfaßliche voneinander scheidet, […] [dass sich dann] die Menschen vielleicht unbedenklicher mit der eingestandenen Unkenntnis auf dem einen Gebiet zufrieden geben und ihr Denken und Reden mit mehr Erfolg und Befriedigung dem andern zuwenden.“11
Doch nicht nur der epistemische Wert unserer geistigen Fakultäten oder Fähigkeiten wurde in der frühen Neuzeit kontrovers diskutiert.12 Ebenso eine zentrale Rolle spielten die Diskussionen über geistige Fakultäten in frühneuzeitlichen Versuchen, eine Logik oder Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis zu entwickeln. Im Einklang mit ihren spätscholastischen Vorgängern betrachteten viele frühneuzeitliche Denkerinnen und Denker die Logik als die Kunst des richtigen Denkens, die Regeln für die Lenkung unserer kognitiven Fähigkeiten und unseres geistigen Vermögens bereitstellt, um ein richtiges Verständnis der Dinge zu erlangen und Fehler zu vermeiden. Im Gegensatz zu ihren aristotelischen Vorgängern hielten sie Aristoteles‘ Logik für diese Aufgabe jedoch für ungeeignet und schlugen daher neue Methoden oder Logiken zur Lenkung der eigenen Fakultäten und geistigen Fähigkeiten vor.13 So entwickelte Francis Bacon in seinem Novum Organon seine berühmte Methode der Induktion, die auf der Ansicht beruht, dass unsere Sinne zwar letztlich für unsere Erkenntnis unverzichtbar sind, aber dass aus ihnen auch „das bei weitem größte Hindernis und der Anstoß zu Irrungen […] erwächst.“14 Bacon hielt es daher für notwendig, „die Stufen der Gewissheit zu bestimmen, die sinnliche Wahrnehmung durch Rückführung auf ihre Gründe zu sichern, aber das den Sinnen folgende Spekulieren des Geistes zu verwerfen“15 Der richtige Weg, die Sinneseindrücke für das wissenschaftliche Verständnis eines Dings zu nutzen, besteht nach Bacon darin, unsere Sinneserfahrungen mit ihm in sogenannten Naturgeschichten (d.h. in systematischen Aufzeichnungen seiner verschiedenen Zustände) zu organisieren, aus denen wir schließlich allgemeine Gesetze über seine kausale Natur oder Form ableiten können.16 Eine solche Methode erfordert das Zusammenwirken verschiedener Fakultäten, wie z.B. der Sinne, des Gedächtnisses und des Verstandes (verstanden als die Fähigkeit, allgemeine Gesetze zu erfassen und abzuleiten).
René Descartes schlug eine auf Intuition und Deduktion basierende Methode vor, die gänzlich auf die Sinne verzichtete und sich an mathematischen und geometrischen Überlegungen orientierte. Nach dieser Methode, die er in seinen Regeln zur Ausrichtung der Geisteskraft (Regulae ad directionem igenii)17 entwickelt hat, sollten wir nur das als echtes Wissen akzeptieren, „was wir klar und evident intuitiv erkennen oder sicher deduzieren können“.18 Entsprechend sollten wir in einer Wissenschaft nur das akzeptieren, was wir intuitiv oder gedanklich als zweifelsfrei wahr erkennen können, oder was wir aus solchem mit Gewissheit ableiten können. Zu diesem Zweck sollten wir „verwickelte und dunkle Propositionen stufenweise auf einfachere zurückführen und danach versuchen, von der Intuition der allereinfachsten über dieselben Stufen zur Erkenntnis aller anderen aufzusteigen.“19 Die Sinne spielen in dieser Methode keine Rolle. Descartes betonte sogar, dass er mit dem Akt der Intuition „nicht das Vertrauen in die unbeständigen Sinne“ versteht, „sondern einen so einfachen und deutlichen Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das, was wir einsehen, schlichtweg kein Zweifel mehr übrigbleibt“.20 Damit bedient sich Descartes‘ Methode nur des Verstandes und des Gedächtnisses: Letzteres wird für unsere Deduktionen benötigt, da „die Deduktion [...] ihre Gewissheit [...] dem Gedächtnis entnimmt.“21
Im Gegensatz dazu betonten frühneuzeitliche Empiristen nicht nur die Rolle der Sinneseindrücke für unsere Erkenntnismöglichkeiten, sondern zögerten auch, ihre Methoden im Sinne einer Logik zu entwickeln, die Regeln für die Steuerung unserer Fakultäten oder geistigen Fähigkeiten liefert. Stattdessen versuchten sie, unser Wissen durch eine Methode voranzubringen, die unsere Gedanken im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Ideen klärt, aus denen sie letztlich hervorgehen oder durch die sie konstituiert werden.22 Ihren Methoden zufolge fungieren die Fakultäten in erster Linie als Quellen von Ideen, die unsere Gedanken mit Inhalten versorgen. Dementsprechend haben frühneuzeitliche Empiristen die traditionelle Liste der Fakultäten (bestehend aus Sinnen, Einbildungskraft, Gedächtnis, Verstand und Wille) entscheidend erweitert. In Anlehnung an Locke23 identifizierten sie Empfindung und Reflexion als die beiden ultimativen Quellen einfacher Ideen und postulierten eine Reihe weiterer Fähigkeiten für die Erzeugung komplexer Ideen.24
Diese im Empirismus verbreitete Methode, unsere Gedanken anhand der ihnen zugrundeliegenden Ideen zu klären, fand einen prominenten Gegner in Thomas Reid. Dieser kritisierte die von dieser Methode vorausgesetzte Annahme, dass unser Erkennen in erster Linie auf Ideen ausgerichtet sei. Statt solche Ideen anzunehmen sollten wir nach Reid davon ausgehen, dass der Geist von Natur aus mit verschiedenen Fakultäten oder Vermögen ausgestattet ist, die uns zu einer Reihe kognitiver Aktivitäten befähigen und mittels derer wir Dinge direkt wahrnehmen, erinnern oder erfassen können, ohne dass wir dazu irgendwelche epistemischen Vermittler benötigen.25
Angesichts der allgemeinen Bedenken gegen die in Abschnitt 2 erwähnten aristotelischen Annahmen über geistige Fakultäten oder Vermögen mag die frühneuzeitliche Betonung der Untersuchung der geistigen Fähigkeiten für erkenntnistheoretische Zwecke überraschen. Aber frühneuzeitlichen Autorinnen und Autoren waren dabei nicht inkonsistent. Dass sie keine Bedenken hatten, über geistige Fähigkeiten zu sprechen, lag an ihrer Zuversicht, dass eine solche Rede auf eine eindeutig nicht-aristotelische und damit unproblematische Weise ausgelegt werden könne. Frühneuzeitlichen Autorinnen und Autoren entwickelten eine Reihe unterschiedlicher metaphysischer Theorien dazu, was geistige Fähigkeiten eigentlich sind.26 Diese Theorien lassen sich in zwei Kategorien einteilen: (semi-) realistische Theorien einerseits und anti-realistische oder reduktionistische Theorien der geistigen Fakultäten oder Vermögen andererseits.
Realisten vertraten die Auffassung, dass der Geist im Wesentlichen mit bestimmten irreduziblen Fakultäten ausgestattet ist, die nicht als unabhängige Entitäten oder res zu verstehen sind, sondern als Fähigkeiten des Geistes. Gemäß dieser realistischen Auffassung verfügt der menschliche Geist von Natur aus über bestimmte Fähigkeiten oder Vermögen wie einen Intellekt und einen Willen, d.h. die Fähigkeit, Ideen oder extra-mentale Gegenstände wahrzunehmen, und die Fähigkeit, Willensakte zu vollziehen. Semi-Realisten behaupteten, dass zumindest einige geistige Fakultäten irreduzibel sind, während andere – wie z.B. die sinnliche Wahrnehmung, das Gedächtnis und die Vorstellungskraft – zumindest teilweise mechanistisch (weg-)erklärt werden können. Viele Philosophinnen und Philosophen der frühen Neuzeit vertraten zumindest in Bezug auf einige unserer geistigen Fakultäten oder Vermögen eine realistische Position. Zu ihnen gehören Autoren wie René Descartes, John Locke, George Berkeley und Thomas Reid. In seinen Meditationen vertrat Descartes beispielsweise die Ansicht, dass man unsere geistigen Fakultäten oder Vermögen „nicht als […] Teile [des Geistes] ansprechen [kann], weil es ein und derselbe Geist ist, der will, der sinnlich wahrnimmt, der einsieht.“27 John Locke ging, wie oben gesehen, davon aus, dass der Verstand mit mehreren Fähigkeiten oder Fakultäten ausgestattet ist – von der Empfindung über die Reflexion bis hin zur Abstraktion –, ohne dass er die Notwendigkeit sah, die ontologische Natur von Fähigkeiten oder Fakultäten weiter zu erklären. Dasselbe gilt für Berkeley,28 der den Geist oder die Seele von ihren Ideen als ein aktives Wesen unterscheidet, “das sie erkennt oder wahrnimmt und verschiedene Operationen wie Wollen, Vorstellen, Erinnern mit ihnen vornimmt”. In ähnlicher Weise argumentierte Thomas Reid,29 dass „ein Vermögen eine Sache ist, die so sehr von ihrer eigenen Art und so einfach in ihrer Natur ist, dass sie keine logische Definition zulässt“, und hielt es für offensichtlich, dass, metaphysisch gesprochen, „ein Vermögen eine Qualität ist und nicht ohne ein Subjekt existieren kann, zu dem sie gehört“.30 Dies gilt auch für die sog. Fakultäten, da für Reid „das Wort ‚Fakultät‘ am richtigsten auf jene Vermögen des Geistes angewandt wird, die ursprünglich und natürlich sind und die einen Teil der Konstitution des Geistes ausmachen“.31
Andere frühneuzeitliche Philosophinnen und Philosophen lehnten die Annahme irreduzibler Fähigkeiten aus genau denselben Gründen ab, die sie an ihren aristotelischen (oder „peripatetischen“) Vorläufern kritisierten. Stellvertretend für viele andere beschwerte sich Malebranche über die Cartesianer seiner Zeit, indem er schrieb: „Sie kritisieren diejenigen, die sagen, dass das Feuer von Natur aus brennt oder dass es bestimmte Körper durch ein natürliches Vermögen in Glas verwandelt, und doch zögern einige von ihnen nicht zu sagen, dass der menschliche Geist von Natur aus die Ideen aller Dinge in sich hervorbringt, weil er die Fähigkeit des Denkens besitzt. Aber, bei allem Respekt, diese Begriffe sind in ihrem Mund nicht sinnvoller als im Mund der Peripatetiker.“32 Frühneuzeitliche Autoren schlugen mehrere Strategien vor, um die weit verbreitete Rede von geistigen Fähigkeiten, Vermögen oder Fakultäten zu erklären. Drei davon sind besonders erwähnenswert: der reduktive Materialismus, der Okkasionalismus und der Klassifikationismus.
Im Einklang mit seiner materialistischen Auffassung, dass „die Welt ([...] das heißt die gesamte Masse aller existierenden Dinge) […] körperlich“33 ist, verteidigte Thomas Hobbes die Strategie des reduktiven Materialismus in Bezug auf Fakultäten. Seiner Lehre nach besteht „[d]ie Natur des Menschen […] aus der Summe seiner natürlichen Fähigkeiten und Kräfte, wie z. B. seiner Fähigkeiten zur Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung, Sinnesempfindung, Vernunft etc.“34 Die materielle Natur dieser Vermögen oder Fakultäten versuchte dadurch zu erweisen, dass er eine rein materialistische Theorie ihrer Akte lieferte, die es ermöglichte, die ihnen zugrunde liegenden Vermögen als die körperlichen Strukturen aufzufassen, die diese materiellen Handlungen möglich machen. So argumentierte Hobbes beispielsweise, dass „Sinn nichts anderes sein kann als Bewegung in „einigen der inneren Teile […] der Sinnesorgane“.35 Alle Veränderung ist nun aber eine Bewegung oder ein Conatus (der auch Bewegung ist) in den inneren Teilen des Bewegten. […] Diese Bewegungen vollziehen sich in den Sinnesorganen, durch die wir die Dinge wahrnehmen.” Darauf aufbauend argumentierte Hobbes weiter, dass „die Imagination […] nichts anderes als eine […] erschlaffende oder abgeschwächte Empfindung“ sei,36 d.h. die die fortwährende, aber nachlassende Bewegung in unserem Körper, nachdem ihre Ursache beseitigt wurde, und dass unsere Fähigkeit des Denkens aus nichts anderem bestehe als unserer Fähigkeit, Zeichen syntaktisch zu manipulieren: „Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts als das Berechnen (das heißt das Addieren und Subtrahieren) der Folgen allgemeiner Namen“.37
Im Einklang mit seiner okkasionalistischen Überzeugung, dass Gott die einzige wahre Ursache ist, während natürliche Ursachen nur Anlässe für Gott sind, um die entsprechenden Wirkungen hervorzurufen,38 lieferte Nicolas Malebranche eine okkasionalistische Erklärung der geistigen Fakultäten oder Vermögen, der zufolge diese mit Blick auf Gottes Aktivitäten wegerklärt werden können. Zu diesem Zweck unterschied Malebranche zunächst zwischen zwei Arten grundlegender kognitiver Fakultäten oder Vermögen: zwischen dem Willen und dem Verstand, auf die alle anderen geistigen Fähigkeiten, Vermögen oder Fakultäten (wie Einbildungskraft, Gedächtnis usw.) reduziert werden. In einem zweiten Schritt definierte Malebranche den Verstand als das Vermögen, „verschiedene Ideen zu empfangen, das heißt, verschiedene Dinge wahrzunehmen“, und den Willen als das Vermögen, „verschiedene Neigungen zu unterhalten oder verschiedene Dinge zu wollen“.39 In einem dritten Schritt schließlich versuchte er, diese geistigen Fakultäten oder Fähigkeiten durch Gottes gesetzmäßige Eingriffe zu erklären: Unsere Fähigkeit, Ideen zu empfangen, ist einfach darauf zurückzuführen, dass Gott beschlossen hat, unserem Geist anlässlich bestimmter Zustandsweisen unserer Seele und unseres Körpers bestimmte Ideen zu offenbaren.40 Unsere Fakultät des Willens beruht auf einem „Eindruck […], welche[n] der Urheber der Natur […] in der Seele zum Guten überhaupt entstehen lässt“, so dass wir „beständig die Wahrheit und Güte zum Endzweck haben“.41 Da wir jedoch unsere durch Gott induzierte Neigung zum Guten im Allgemeinen auf viele verschiedene besondere Güter richten können, postulierte Malebranche eine weitere Instanz, die dafür verantwortlich ist, unseren Willen auf ein bestimmtes Gut zu lenken. Malebranche nannte diese Instanz unsere „Freiheit“ und definierte sie als „die Fähigkeit des Verstandes, diesen Eindruck auf Objekte zu lenken, die uns gefallen, so dass unsere natürlichen Neigungen auf ein bestimmtes Objekt gerichtet werden, die bis dahin vage und unbestimmt auf ein universelles oder allgemeines Gut gerichtet waren“.42 Seit Malebranche seine Theorie des Willens veröffentlicht hat, wurde kontrovers darüber debattiert, ob Malebranches „Vermögen der Freiheit“ tatsächlich mit seinem Okkasionalismus vereinbar ist.43
Die meisten der in diesem Abschnitt behandelten frühneuzeitlichen Autoren betrachteten geistige Fakultäten, Vermögen oder Fähigkeiten als Eigenschaften des Geistes: Fähigkeiten, mit denen der Geist geistige Handlungen oder kognitive Operationen vornimmt. Benedikt Spinoza und David Hume lehnten diese Vorstellung vom menschlichen Geist als einer Substanz oder Entität, die mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet ist, durch die sie bestimmte Operationen ausführt, ab. Stattdessen vertraten sie eine Bündeltheorie des Geistes, nach der der menschliche Geist nichts anderes als eine Sammlung oder ein Bündel von Ideen ist.44 Nach dieser Theorie ist der Geist nicht die Art von Entität, die geistige Handlungen vollziehen oder Trägerin eines Vermögens sein könnte. Folgerichtig lehnten Spinoza und Hume auch die traditionelle kausale Auffassung von geistigen Fähigkeiten oder Fakultäten als den kognitiven Operationen zugrunde liegenden Ursachen ab und ersetzten diese durch eine klassifikatorische Auffassung von Fähigkeiten. Dieser Auffassung zufolge sind Namen von geistigen Fähigkeiten oder Fakultäten (wie „Intellekt“ oder „Vorstellungskraft“) lediglich allgemeine oder universelle Ausdrücke, die bestimmte Klassen von Ideen bezeichnen (und nicht diesen Ideen zugrunde liegende Ursachen). Wie Spinoza es ausdrückte, sind Vermögen nach dieser Auffassung „entweder reine Einbildungen oder nichts als metaphysische Entitäten […], anders formuliert nichts als Allgemeinbegriffe, die wir aus besonderen Dingen zu bilden gewohnt sind.“45 Spinoza legte jedoch großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Intellekt oder Verstand einerseits und der Imagination oder Vorstellungskraft andererseits, deren Ideen sich durch ihren epistemischen Charakter unterscheiden: Die Ideen des Intellekts bestehen aus adäquaten Ideen, die ihre Objekte so darstellen, wie sie wirklich sind, während die Ideen der Imagination aus inadäquaten Ideen bestehen.46 Indem er leugnete, dass wir eine Idee von Vermögen haben,47 schloss sich Hume Spinozas klassifikatorischer Auffassung der geistigen Fähigkeiten oder Fakultäten an. Im Gegensatz zu Spinoza unterschied er jedoch die Vorstellungen der verschiedenen geistigen Fähigkeiten und Fakultäten nicht auf Basis ihres epistemischen Charakters, sondern auf Basis ihrer phänomenalen Qualität und ihrer relativen Stellung in der Kette unserer mentalen Prozesse. Am deutlichsten wird dies mit Blick auf Humes Unterscheidung zwischen Sinnes- und Reflexionseindrücken. Ein Sinneseindruck zeichnet sich Humes Ansicht nach dadurch aus, dass er „uns Hitze oder Kälte, Hunger oder Durst, Lust oder Unlust der einen oder anderen Art empfinden“ lässt. Weiter gibt es nach Hume von „diesem Eindruck […] ein Abbild, welches bleibt, nachdem der Eindruck aufgehört hat“ und Hume nennt dieses Abbild „Idee“ („idea“, manchmal auch übersetzt als „Vorstellung“).48 Einen Abschnitt später identifiziert Hume schwache Abbilder unserer Eindrücke, die ihre Existenz überdauern, als „reine Vorstellung“, die er der „Einbildungskraft“ zuordnet, während der stärkeren Abbilder dieser Eindrücke dem „Erinnerungsvermögen“ zuordnet.49 Nun erzeugt eine Vorstellung oder Idee der Einbildungskraft, „wenn sie in der Seele von neuem entsteht, neue Eindrücke […], welche im eigentlichen Sinne Eindrücke der Reflexion genannt werden können“.50 Fakultäten wie die Sinne oder die Reflexion, aber auch das Erinnerungsvermögen und die Einbildungskraft sind für Hume damit nicht als Ursachen bestimmter Perzeptionen zu verstehen, sondern als Bezeichnungen von phänomenologisch und operational unterschiedener Klassen von Perzeptionen (vgl. Schmid 2015: 192-195).
Die weitgehende Einigkeit der Philosophinnen und Philosophen der frühen Neuzeit über die Bedeutung der Sprache der Fakultäten sollte deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich in ihren metaphysischen Ansichten über die Natur der geistigen Fakultäten, Vermögen oder Fähigkeiten sowie in ihren erkenntnistheoretischen Auffassungen über ihre Zuverlässigkeit und ihre kognitiven Funktionen fast ebenso uneinig waren.