Die epistemische Funktion anthropogenetischer Narrative bei Hans Blumenberg

Oliver Müller

Hans Blumenberg ist mit seiner Metaphorologie, mit seinen Arbeiten zum ‚Unbegrifflichen‘ und mit seinen geistesgeschichtlichen Studien zur Genese und Legitimität der Neuzeit bekannt geworden. Parallel zur Publikation dieser umfangreichen, ‚ideengeschichtliche Problemkrimis‘ genannten Bücher, hat er in den 1970er Jahren intensiv an einer ‚phänomenologischen Anthropologie‘ gearbeitet, wie wir seit den aus dem Nachlass veröffentlichten Schriften wissen.1 Vgl. Blumenberg und Sommer, Zu Den Sachen Und Zurück; Blumenberg und Sommer, Beschreibung Des Menschen. Dass er insbesondere seine Theorie zur Unbegrifflichkeit auf anthropologische Hintergrundannahmen stützte, konnte man auch vor den Nachlassveröffentlichungen schon wissen; in einzelnen Texten, wie etwa Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, skizzierte er einige Motive seiner Anthropologie.2 Vgl. Blumenberg, Wirklichkeiten in Denen Wir Leben.

Die Ausarbeitung einer komplex angelegten phänomenologische Anthropologie mag sein eher ‚esoterisches‘ Projekt neben den ‚exoterischen‘ Schriften geblieben sein, doch war die anthropologische Fundierung seiner Theorie der Metapher oder des Mythos schon in den veröffentlichten Texten unverkennbar. Besonders deutlich konnte man dies an den anthropogenetischen Einstiegen in seine Werke ablesen, insbesondere in Arbeit am Mythos von 1979 und Höhlenausgänge von 1989.3 Vgl. Blumenberg, Arbeit Am Mythos; Blumenberg, Höhlenausgänge. In beiden Büchern erzählt Blumenberg gleich zu Beginn, wie die ‚ersten Menschen‘ sich in der Welt orientierten und was ihr Menschsein charakterisierte. Er erzählt dort Menschwerdungsgeschichten, die eine gewisse (intuitive, quasi-evolutionstheoretische) Plausibilität haben mögen, aber im Grunde nicht belegbar sind. Die diese Werke eröffnenden Anthropogenesen als Imaginationsräume zu verstehen sind, die zentrale Momente seiner Anthropologie illustrieren oder veranschaulichen sollen. Doch sind sie nicht auf die literarische Funktion der Illustration zu begrenzen; sie scheinen bei Blumenberg als ‚imaginative Beweise‘ zu fungieren – wenn man das so nennen kann.

Da die epistemische Funktion dieser anthropogenetischen Passagen nicht leicht zu fassen ist, will ich mich in diesem Text mit diesen Anthropogenesen näher befassen. Dafür will ich (1.) zunächst die anthropogenetischen Narrative darstellen, dann (2.) die Grundzüge von Blumenbergs phänomenologischer Anthropologie skizzieren,4 Dieser Teil ist größtenteils folgendem Text entnommen: Müller, „Phänomenologische Anthropologie. Hans Blumenbergs Lebensprojekt“, S. 325-347 . um schließlich (3.) den epistemischen Status und die methodische Funktion dieser anthropogenetischen Narrative zu diskutieren.

1.

Die anthropogenetischen Narrative, die mich hier interessieren, kann man in zwei Typen unterteilen: die einen haben (a) den ‚ersten Menschen‘, der aus dem Wald in die Savanne heraustritt und sich seiner eigenen Sichtbarkeit bewusst wird, zum Thema. Die anderen (b) erzählen den Rückzug der ‚ersten Menschen‘ in die schützenden Höhlen als erste ‚Kulturräume‘. Ob es sich hier überhaupt um ‚Narrative‘ handelt, kann man kritisch diskutieren. Denn es werden keine Geschichten im engeren Sinne erzählt. Doch scheinen mir die Beschreibungen, die Blumenberg vom Verhalten der ‚ersten Menschen‘ gibt, zumindest kryptonarrativ zu sein, das heißt: die ‚Szenen‘, die er hier entwirft, könnten leicht in eine Erzählung überführt werden. Tentativ scheint mir ‚Imaginationsraum‘ ein gut geeigneter Begriff zu sein, um diese kryptonarrativen Beschreibungen zu erfassen.

(a) In Höhlenausgänge schreibt Blumenberg:

„Der Mensch ist das sichtbare Wesen in einem emphatischen Sinne. Er ist betroffen von seiner Sichtbarkeit durch die Auffälligkeit des aufrechten Ganges und durch die Wehrlosigkeit seiner unspezifischen Ausstattung [...]. Aufklärung in einem elementaren Sinne als Sehenlassen dessen, was ist, bringt auch immer um dasselbe Stück Zuwachs den Menschen in eine realistische Sichtbarkeit für sich und die anderen, zwingt ihm das Bewußtsein seiner Nacktheit und Wehrlosigkeit auf.“5 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 55 .

Bereits in Arbeit am Mythos hatte er konstatiert:

„Wie auch immer das vormenschliche Wesen ausgesehen haben mag, das durch einen erzwungenen oder zufälligen Wechsel seines Lebensraumes veranlaßt wurde, den sensorischen Vorteil der Selbstaufrichtung zum bipeden Gang wahrzunehmen und gegen alle internen Nachteile der organischen Funktion zu stabilisieren – es hatte in jedem Fall den Schutz einer verborgeneren und angepaßten Lebensform verlassen, um sich den Risiken des erweiterten Horizonts seiner Wahrnehmung als denen seiner Wahrnehmbarkeit auszusetzen. Es war noch kein Vorstoß der Neugierde, kein Lustgewinn an der Erweiterung, kein Hochgefühl des Gewinns der Vertikalität, sondern bloße Nutzung einer Überlebenschance im Ausweichen vor dem Selektionsdruck, der auf irreversible Spezialisierung hingetrieben hätte. Es war ein Situationssprung [...]. Dazu gehört die Fähigkeit zur Prävention, der Vorgriff auf das noch nicht Eingetretene, die Einstellung aufs Abwesende hinter dem Horizont. Alles konvergierend auf die Leistung des Begriffs.“6 Blumenberg, Arbeit Am Mythos, S. 10 .

In Beschreibung des Menschen klingt es folgendermaßen: „Der theoretische Betrachter jener Urszene, in der der Vorfahre des Menschen aus dem schrumpfenden tertiären Regenwald auf die Savanne heraustritt, nimmt die radikal veränderten Bedingungen der Optik ohne weiteres wahr: wer hier zuerst sehen will, tut es unter dem Risiko, dabei zuerst gesehen zu werden.“7 Ebd., S. 777 . In diesem Text zieht Blumenberg auch die Parallele zur Paradieserzählung der Bibel, die seiner Interpretation nach ebenfalls die Sichtbarkeit zum Thema macht, weil diese für ihn eine Grunderfahrung des Menschseins ist: „Der mythische Augenblick, in dem der Stammvater der Menschen mit dem Versuch sich zu verbergen scheitert, reflektiert den Schock der vorzeitlichen Erfahrung des aus dem bergenden Urwald auf die freie Wildbahn hinausgedrängten Vormenschen, der sich in einer bis dahin ungekannten Weise der Sichtbarkeit ausgesetzt fand.“8 Ebd., S. 785 .

Blumenberg greift also einen Moment in der Entwicklung in der Menschheitsgeschichte heraus, die an den aufrechten Gang geknüpft ist, und verdichtet diese zu einem szenenhaften Auftritt des ersten Menschen auf die Savanne. Dies ist insofern kryptonarrativ, als dass Blumenberg hier einen Vorgang beschreibt, der das Heraustreten der fiktiven ersten Menschen aus dem Urwald auf die Savanne als einen Imaginationsraum begreift, der uns die Erfahrung dieser ersten Menschen, die sich ihrer Sichtbarkeit schockhaft gewahr werden, unmittelbar begreifbar machen soll. Auffällig häufig spricht Blumenberg in diesem Zusammenhang von einer „Szene“, die an den Auftritt im Theater erinnert („Urszene“, „Lebensszene“). Er bewegt sich hiermit in der Tradition, die conditio humana über Theatermetaphern zu erfassen. Wenn er von der „Bühne der Welt“ spricht, erinnert dies auch an Bildtradition des ‚theatrum mundi‘. In Blumenbergs visibilitätstheoretisch fundierter Anthropologie ist dieser theaterhafte Auftritt eine Schlüsselszene in der Menschwerdung – denn das Bewusstsein der eigenen Sichtbarkeit würde zu reflexiven Strategien führen, die das Selbst- und Weltverhältnis grundlegend ändern würden (siehe dazu Kap. 2).

(b) Das Pendant zur Savanne als Ort des Auftritts des ‚ersten Menschen‘ ist die Höhle. Die Höhle bietet nämlich „Zufluchten aus der Sichtbarkeit“.9 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 55 ff. Durch die Rückkehr in die Höhle können sich die ‚ersten Menschen‘ der exponierten Sichtbarkeit entziehen. Im Schutz der Höhle können Menschen andere kulturelle Fähigkeiten entwickeln, die über die mit der Selbsterhaltung verbundenen Reflexionsprozesse hinaus gehen. Der Mensch werde als homo pictor (Blumenberg verweist auf Hans Jonas) zum „träumenden Tier“, denn: die

„Kinder der Höhle, die niemals das Recht des Stärkeren und das der jagenden Ernährer für sich geltend machen konnten, erfanden den Mechanismus der Kompensation. Sie sicherten nicht das Leben, aber lernten ihm alles zu geben, was es lebenswert machen würde. Auf sie gehen die ersten Tropfen eines Überflusses zurück, der sich immer dann seine Bahn brach, wenn es nicht mehr ums blanke Überleben ging. Im Schutz der Höhlen, unter dem Gebot der Mütter, entstand der Widerspruch des freien Schweifens der Zurückbleibenden, entstand die Phantasie.“10 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 29 f.

Auch wenn wir nicht genau wissen können, wie es in den urzeitlichen Höhlen zuging, fungiert ‚die Höhle‘ für Blumenberg ebenfalls als ein Imaginationsraum, der Grundzüge seiner Anthropologie verdeutlichen soll. Auch hier handelt es sich ebenfalls nicht um Narrative im engen Sinne, sondern erneut um szenenartige Mutmaßungen über das Geschehen in der Höhle:

„Aus dieser Deszendenz kam der erste, der etwas Nichtgesehenes vorstellig machen, etwas Unerlebtes erzählen konnte, während die heimkehrenden Jäger ihre ewig langweiligen Jagdgeschichten aufwärmten. Geschichten zu erzählen, ohne dabei gewesen zu sein, wurde das Privileg der Schwachen. Der Genuß, etwas passieren zu lassen, ohne es zu erleiden, war das Geheimnis des Unhelden. Sie kompensierten ihre Schwäche, erfuhren aber auch, daß jeder Zuwachs ihrer Kunst ihnen das Gefallen und den Applaus derjenigen verschaffte, von denen ihr Anteil am Behagen abhängig war. Das Überflüssige kam als das seltsamste Produkt des Lebens in die Welt und verstand es, sich zum Bedürfnis zu machen.“11 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 30 .

So würden Magie und Kulte entstehen, die „Schwachen“ würden auch die „Hüter der Tempel“ werden.12 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 30 . Die Unterscheidung zwischen den ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ bleibt zentrales Moment dieser Höhlenimaginationen, durchaus mit einem subversiven Unterton:

„Die Höhle als der perfekte Rückzugsraum für die Jäger von der freien Wildbahn setzt deren Ansprüchen auf alleinige Normierung des Nachwuchses nach den Bedürfnissen der Jägerhorde Grenzen. Sie nötigt ihnen die Anerkennung dieser Grenze von Talenten ab, deren frühzeitliche Ausbildungshöhe uns gerade durch die Schärfe jener Ausgangssituation begreiflich wird. Kultur ist und wird bleiben eine ‚Verschwörung‘ gegen die exklusive Standardisierung des Menschlichen durch die Tüchtigsten, Nützlichsten, Stärksten – ohne die alles andere nicht ginge –, mag dieser Konflikt auch seinen Namen wechseln [...]. Der vom Jagdtrieb Ausgeschlossene wird zum Träumer, Erzähler, Narren, Bildermacher, Possenreißer, zur Bereicherung der für den Lebenshunger zunächst toten Zeiten, der Dunkelzeiten [...]. Fiktion und Kompensation kommen aus derselben Quelle.“13 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 33 .

Diese Darstellung des Geschehens in den urzeitlichen Höhlen verwendet Blumenberg mitunter auch zur Einführung einiger seiner anthropologischen Grundbegriffe:

„So war es beim Erzählen nicht geblieben. Die Schwachen hatten das Prinzip der Fernwirkung, der Handlung in absentia et per distans begriffen, vielleicht am Grundgedanken der Falle, die man anlegt, um wegzugehen und nur noch zu warten, daß sie ihr Werk tue [...]. Was die Höhle begünstigt, kann man in seiner Gesamtheit und ohne perspektivische Selektion als ‚Kultur der Sorge‘ bezeichnen. Sie lehrt die Technik zu beherrschen, der unmittelbaren Wahrnehmung nicht Gegebenes zu vergegenwärtigen: das Abwesende und Ausstehende oder Bevorstehende operabel zu machen. Im Bild, im Symbol, im Namen und schließlich im Begriff werden die Dringlichkeiten einer Realität ‚vorführbar‘, aus der man sich in dem Maße zurückziehen konnte, wie man über jene Repräsentanten verfügte. Daß es Magie – und noch nicht Theorie – gewesen sein mag, in der sich solche Verfügung ausbildete, macht für deren Grundeinstellung der Distanz, aus der Enge in die Weite, die geringere Differenz. Die ‚Weite‘ der Wirklichkeit wird als Möglichkeit vorstellbar.“14 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 30,35 .

Nach der Darstellung dieser beiden kryptonarrativ eingeführten Erfahrungsräume der ‚ersten Menschen‘ – die Savanne als offene ‚Bühne der Welt‘ und die Höhle als subversiver Ort für Phantasie und Kultur – will ich nun die Grundzüge von Blumenbergs phänomenologischer Anthropologie skizzieren.

2.

In einem ersten Schritt will ich Blumenbergs phänomenologische Anthropologie zunächst in der philosophischen Anthropologie, wie sie sich seit den 1920er Jahren etablierte, verorten (a), bevor ich dann einige seiner zentralen Begriffe erläutern will (b).

(a) Die explizite Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie bleibt in den veröffentlichten Schriften meist recht knapp, nicht zuletzt deshalb, weil sich Blumenberg hauptsächlich mit geistesgeschichtlichen Fragen befasst.15 Die ausführlichsten Überlegungen finden sich sicher in Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. Wie sich in Beschreibung des Menschen bestätigt, geht es ihm in der Rezeption der Anthropologie immer auch um die Frage nach ihrer Legitimität, womit Blumenberg sich auch in der ‚anti-anthropologisch’ geprägten akademischen Landschaft der damaligen Bundesrepublik positionierte, die in seiner Wahrnehmung weitgehend von Heidegger-Schülern, mit denen er sich in Konkurrenz sah, und von der Frankfurter Schule geprägt wurde, zu der er Abstand hielt.16 Siehe vor allem Blumenberg u. a., Briefwechsel 1961-1981 und weitere Materialien.

Mit der Aufnahme von anthropologischen Motiven stellt sich Blumenberg in eine Linie mit Kants Kartierung der menschlichen Vernunft als endliche Vernunft und setzt bei dem Widerspruch „zwischen den Unendlichkeitsimplikationen der Vernunft und ihrer Verfahren zu den anthropologischen Endlichkeitsbedingungen“ an.17 Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 92 . Daher sei es Aufgabe der Anthropologie, die Endlichkeit der Vernunft, aber auch ihre leibliche Einbettung mit der spezifischen Ausprägung der menschlichen Sinnesorgane zum Thema zu machen, um rationale Fähigkeiten aus den Charakteristika des menschlichen Organismus zu deuten – immer im Hinblick auf eine gefährdete Lebensform, die vernünftig ist, weil es ihr um Selbsterhaltung geht.18 Ebd., S. 41 . Vor diesem Hintergrund werden Gedankenfiguren wie der aufrechte Gang und Kompensationstheorien im Anschluss an Arnold Gehlen und Paul Alsberg zu Fluchtpunkten seines Denkens. Die bereits erwähnte Anthropogenese um den auf die Savanne heraustretenden ‚ersten’ Menschen ist hier ebenso zu nennen wie die an Gehlen angelehnte Formel von „Handlungszwang“ bei „Evidenzmangel“: Handeln sei, so Blumenberg „die Kompensation der ‚Unbestimmtheit’ des Wesens Mensch.“19 Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“, S. 108 . Insofern sei der menschliche Wirklichkeitsbezug „indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch’.“20 Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“, S. 115 . In seiner Anthropologie geht es um die „Möglichkeit eines Lebens“, „das die genauen Passungen zu einer ihm adäquaten Welt nicht mehr hat und mit dieser unter allen sonst bekannten Bedingungen für Lebewesen tödlichen Desolation fertig geworden ist und ständig fertig zu werden hat.“21 Blumenberg, Lebenszeit Und Weltzeit, S. 63 .

Neben Anleihen bei Gehlen bildet Ernst Cassirers Figur des animal symbolicum einen weiteren Ankerpunkt seines anthropologischen Denkens.22 Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“, S. 114 . Symbolisierungsleistungen, die Orientierung an Metaphern, die Selbstverständigungen über Mythen und Narrative sind charakteristisch für die humane Lebensform. Eher unterschwellig als explizit stützt er sich in seinen Überlegungen auch auf Cassirers Funktionsbegriff, dessen anthropologische Formulierung sich im Essay on Man findet: „[I]f there is any definition of the nature or ‘essence’ of man, this definition can only be understood as a functional one, not a substantial one. [....] Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is not his metaphysical or physical nature – but his work. It is this work, it is the system of human activities, which defines and determines the circle of ‘humanity’.“23 Cassirer und Lukay, An essay on man, S. 75 f. Vor diesem funktionsbegrifflichen Hintergrund setzt Blumenberg beim Menschen als eine „zu besetzende“ oder besser „umzubesetzende“24 Siehe zur Methode der „Umbesetzung“ Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 75 ; siehe auch Kopp-Oberstebrink, „Umbesetzung“, S. 350-362 . Leerstelle an: „Die Anthropologie hat nur noch eine ‘menschliche Natur’ zum Thema, die niemals ‘Natur’ gewesen ist und nie sein wird. Daß sie in metaphorischen Verkleidungen auftritt [...] berechtigt nicht zu der Erwartung, sie werde am Ende aller Konfessionen vor uns liegen.“25 Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“, S. 134 . Menschen verstehen sich über das, was sie nicht sind, über Gott, Tier, Maschine, und entwickeln darüber Formen der Selbstdeutung. Die Kultur bietet ein unerschöpfliches Reservoir an Deutungsformen, das Blumenberg durch die philosophische Anthropologie bewahrt haben will. Wenn er mit Blick auf Cassirer sagt, dass man von einer „elementaren Obligation“ sprechen müsse, „Menschliches nicht verloren zu geben“,26 Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 170. ist dies auch eine Aufgabe der Anthropologie als eine Art ‚Erinnerungs-Archiv‘ humaner Selbstdeutungsmöglichkeiten. Dies spiegelt sich in der Liste von klassischen und kuriosen „Definitionsessays“ wider, die Blumenberg in Beschreibung des Menschen versammelt, wie etwa „das Tier, das versprechen darf“, „das Wesen der unbestimmten Gefühle“, „das hungrige Wesen schlechthin“, „ das tauschende Tier“, „sozusagen eine Art Prothesengott“, „das Wesen, das sich an alles gewöhnt“, „das Wesen, das vor sich selber Angst hat“, „das Wesen mit Berührungsfurcht“, „das Wesen, das sich langweilt“, „das Tier, das sich selbst vervollkommnen kann“.27 Ebd., S. 512 ff.

Funktionsbegriffliches Denken im Anschluss an Cassirer heißt nicht nur, den Bestand der Kulturformen im Blick auf ihre Orientierungsleistungen zu analysieren, sondern auch grundlegender zu fragen, was Kultur überhaupt für den Menschen ‚leisten’ soll. Anders als für Cassirer ist das animal symbolicum für Blumenberg auch eine Figur für das Prekäre, das Nicht-Selbstverständliche der menschlichen Existenz: Der Mensch als animal symbolicum „beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist.“28 Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“, S. 116 . Es ist charakteristisch für Blumenbergs Denken, dass er sich Figurationen aneignet, indem er sie in ein überraschendes Gewand steckt: Und so sagt er an einer Stelle auch, dass das animal symbolicum letztlich nur die anspruchsvollere Definition für den Menschen als trostbedürftiges Wesen sei29 Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, S. 156 . – und lässt damit Cassirers anthropologische Figur mit der Trostbedürftigkeit verschmelzen, einem der schillernden Kernbegriffe seiner eigenen Anthropologie.

(b) Auf der Grundlage seiner anthropologischen Revision der Phänomenologie (die hier aus Platzgründen nicht dargestellt wurde) und im Rückgriff auf die genannten Motive der philosophisch-anthropologischen Reflexionstradition arbeitet Blumenberg selbst einige die menschliche Existenz charakterisierende Aspekte näher aus. In Anbetracht des fragmentarischen Charakters seiner Anthropologie soll keine geschlossene Darstellung versucht werden, vielmehr werden folgende zentrale Themen herausgegriffen und in ihrer konzeptionellen Verknüpfung erläutert: i) Sichtbarkeit, ii) Existenzrisiko, iii) Distanz, iv) Trostbedürftigkeit.30 Verschiedene Aspekte von Blumenbergs Anthropologie wurden in der Forschung diskutiert. Siehe etwa Merker, „Geschichte(n) der Paläoanthropologie“, S. 111-125 ; Trierweiler, Hans Blumenberg, anthropologie philosophique; Heidenreich, Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg; Dierse, „Hans Blumenberg. Die Zweideutigkeit Des Menschen“, S. 121-129 ; Haefliger, Imaginationssysteme; Moxter, Erinnerung an Das Humane.

i) Sichtbarkeit

Da Sichtbarkeit, wie gesehen, der Schlüsselbegriff in Blumenbergs phänomenologischer Anthropologie ist, wie sie ihm nach seiner Kritik an Husserl vorschwebt,31 Siehe dazu ausführlicher Müller, „Phänomenologische Anthropologie. Hans Blumenbergs Lebensprojekt“. konstatiert er in Zu den Sachen und zurück programmatisch, dass sich aus dem Problem der Sichtbarkeit im Grunde „alles“ ergebe, was „Anthropologie“ heißen könne.32 Blumenberg und Sommer, Zu Den Sachen Und Zurück, S. 166 f. In der Ausarbeitung der Sichtbarkeitsthematik verschränkt er leibphilosophische, evolutionär-anthropologische und kulturreflexive Deutungsformen. Der Mensch ist grundsätzlich sichtbar, weil „ein in der Achse seiner größten Ausdehnung aufgerichteter Leib“ aus seiner Umgebung „provokativ“ heraustritt:33 Ebd., S. 144 . „Wenn der Gewinn an Wahrnehmungsraum durch die Optik des aufrechten Ganges unvermeidlich geknüpft war an das gleichzeitige Gesehenwerdenkönnen, dann war es dessen lebensdienliche Verhaltensimplikation, die eigene Sichtbarkeit unter Kontrolle und Disposition zu bringen. Also sich selbst zusehen zu können, während man anderen zusah“.34 Ebd., S. 281 f. Der Mensch ist insofern „betroffen“, als dass er „vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt ist“, als dass er die anderen „als Sehende im Dauerkalkül seiner Lebensformen und Lebensvorrichtungen hat.“35 Ebd., S. 778 . Blumenberg folgert hieraus, dass sich aus jenem „Dauerkalkül“ auch die Fähigkeit zur Reflexion auf das eigene Ich und auf eine ‚Innerlichkeit’ ausbilden, weil wir uns anderen auf bestimmte Weise darstellen wollen, unsere Sichtbarkeit kontrollieren wollen. Die Fähigkeit zu Selbsterkenntnis sei aus Selbstdarstellung entstanden. Es sei eigentümlich für Menschen, dass sie zur Heuchelei und zur Schauspielerei fähig sind, also die Diskrepanz zwischen äußerer Darstellung und innerer Haltung leben können.36 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 785, 282 ff. Der hieraus entstehende Differenzierungsgewinn wird erst in einem zweiten Schritt zur Selbsterkenntnis. Daher sagt Blumenberg auch pointiert, dass die Selbstdarstellung einen „Vorrang“ vor der Selbsterkenntnis habe.37 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 283 . Auch wenn das Thema der Sichtbarkeit in seinen veröffentlichten Texten gelegentlich aufblitzt, finden sich erst in Beschreibung des Menschen ausführlichere Untersuchungen, insbesondere das von Manfred Sommer mit dem Titel „Variation der Visibilität“ versehene Manuskript aus dem Nachlass.38 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 777–895 .

Das Gesehenwerdenkönnen ist wiederum verschränkt mit einem gesteigerten Sehenkönnen.39 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 785 . Die passive Optik ist als Komplement zur aktiven Optik zu verstehen, die Sehen, theoretisches und kontemplatives Betrachten mit allen Implikationen für die abendländische Philosophie und ihre entsprechenden okularen Leitmetaphoriken umfasst. Die Exponiertheit durch den aufrechten Gang hat in Blumenbergs evolutionsbiologischer Fiktion den Effekt, dass Menschen ein neues optisches Weltverhältnis entwickeln, das bis zur Theoriefähigkeit reicht. Theoretisches Verhalten entsteht aus der Fähigkeit zu Präventionen und aus der Betrachtung des Himmels. Die anthropologische Figur des contemplator caeli und der erweiterte Blick durch das Fernrohr als Signum des neuzeitlichen Selbstverständnisses waren in Blumenbergs philosophischem Interesse,40 Blumenberg, „‚Contemplator Caeli‘“, S. 113-124 ; Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 117 ff. der den Menschen vor diesem Hintergrund auch ganz elementar als „Zuschauerwesen“ versteht.41 Blumenberg und Sommer, Zu Den Sachen Und Zurück, S. 167 . Vor diesem Hintergrund verschränkt Blumenberg das Risiko des Gesehenwerdens mit dem „mundanen Trauerspiel“42 Blumenberg und Sommer, Zu Den Sachen Und Zurück, S. 163 ., das mit dem Auftritt der ersten Menschen auf die Bühne der Welt zur Aufführung gebracht wird. Anthropologische Reflexion entsteht aus der Doppelfunktion, gleichzeitig Zuschauer zu sein und das Risiko der Existenz selbst leben zu müssen.43 Siehe dazu auch Blumenberg, Schiffbruch Mit Zuschauer. Paradigma Einer Daseinsmethapher.

ii) Existenzrisiko

Die anthropologische Verunsicherung bleibt seit der bereits in seiner Dissertationsschrift von 1947 verwendeten Formel von der ‚sich selbst nicht mächtigen Existenz’ Blumenbergs Thema, wobei sich die Fragestellung immer mehr verschiebt hin zur Vorstellung des Menschen als einem „riskanten Wesen“, das nicht nur ‚von außen’ gefährdet ist, sondern das „sich selbst mißlingen kann.“44 Ebd., S. 550 . Der Mensch leide darunter, dass er nicht in gleicher Weise ‚Natur’ ist wie die übrige Natur, sondern durch eine „Nicht-Selbstverständlichkeit seines Vorhandenseins“ charakterisiert ist.45 Ebd., S. 634 . Menschen sind nicht einfach ‚da’, sondern bedürfen einer Begründung und sogar Rechtfertigung ihrer Existenz: „Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, weil seine Existenz unvernünftig, nämlich: ohne erbringbaren Grund ist. Es ist die Seinsgrundfrage in ihrer anthropologischen Fassung.“46 Ebd., S. 638 ; siehe dazu Müller, „Hans Blumenberg on Visibility“, S. 35-53 .

Diese Kontingenzzumutung ist eines der zentralen Themen von Blumenbergs Anthropologie, was sich in der Definition des Menschen als das „gewollt sein wollende Wesen“, das nicht nur durch einen nackten Zufall existieren will,47 Ebd., S. 639 . verdichtet. Der Mensch ist „das der Versöhnung mit seinem Dasein bedürftige Wesen.“48 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 256 . Das permanent drohende ‚sich selbst misslingen können’ führt zu Selbstvergewisserungsprozessen, die nicht mehr primär durch die Frage: Was ist der Mensch? geleitet werden, sondern durch die Frage: Wie ist der Mensch möglich?49 Ebd., S. 535 . Der „Mensch ist die verkörperte Unwahrscheinlichkeit. Er ist das Tier, das trotzdem lebt.“50 Ebd., S. 550 . Diese Kontingenzbewältigung im Blick auf die ‚Grundlosigkeit’ unserer Existenz korrespondiert nun mit der Überforderung angesichts eines „Absolutismus der Wirklichkeit“,51 Blumenberg, Arbeit Am Mythos, S. 9 ff. den es mit Entlastungsvorgängen zu bewältigen gilt. Der zentrale Begriff ist hierbei die ‚Distanz‘, um den Blumenberg einige seiner Überlegungen zu den Möglichkeiten, der überfordernden Wirklichkeit zu begegnen, gruppiert.

iii) Distanz

Die Antwort auf die Frage, wie der Mensch überhaupt möglich ist, könnte, so Blumenberg, schlicht lauten: „durch Distanz“.52 Ebd., S. 570 ; siehe dazu auch Klein, Auf Distanz Zur Natur. Das bedeutet zunächst, dass Menschen Distanz schaffen, indem sie Namen und Geschichten erfinden, die der Wirklichkeit eine Gestalt geben und in eine deutbare und damit beherrschbare Ordnung einfügen, etwa indem eine unbestimmte Angst in Momente konkreter Furcht vor etwas rationalisiert wird: „Furcht bekam Gestalt, und ihre Gestalten wurden vertrieben, beschworen, besänftigt, besiegt.“53 Blumenberg, Arbeit Am Mythos, S. 11 ; Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 26 ff. Diese protokulturelle Leistung korrespondiert mit der Tatsache, dass der Mensch ein „präventive[s] Wesen“54 Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 13 . ist: Der aufrechte Gang hat den Wahrnehmungshorizont erweitert, der optische Distanzgewinn wurde als Vorteil erkannt. Die immer wieder verwendete und vermutlich bei Cassirer gefundene Formel „actio per distans“55 Ebd., S. 593 ; Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 10 ff. steht im Zentrum der These, dass sich Rationalitätsformen aus den Leistungen der Distanz entwickeln. Allein schon die Fähigkeit zum begrifflichen Denken sei aus der actio per distans entstanden, weil ein Begriff etwas bezeichnen kann, was räumlich und zeitlich in die Ferne gerückt ist. Daher spricht Blumenberg von der „grundlegenden Fähigkeit des Menschen, das Abwesende als Anwesendes behandeln und nutzen zu können, auch das als nicht-existierend Abwesende“.56 Ebd., S. 632 . Und vor diesem Hintergrund sieht er auch eine funktionale Verwandtschaft von Falle und Begriff.57 Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 13 f. Auch Mythen, Symbole, Metaphern und Kulturformen überhaupt erlauben, die Wirklichkeit ‚auf Abstand zu halten’ und in Vertrauen schaffende Selbst- und Weltdeutungsvorgänge zu transformieren. In diesem Kontext spielt für Blumenberg auch die Technik eine zentrale Rolle, die er früh als philosophisches Thema entdeckt hat – und die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass er sich von Heideggers „seinsgeschichtlichem“ Technik-Begriff distanzierte und sich für anthropologische Fragestellungen öffnete.58 Blumenbergs ab Ende der 1940er Jahre entstandenen Texte zur Philosophie der Technik finden sich neuerdings in einem Band versammelt: Blumenberg, Schmitz, und Stiegler, Schriften zur Technik.

Blumenberg versteht den Begriff der Distanz nicht nur lokal, sondern auch temporal. Im Distanzgewinn sind auch Zeitstrukturen eingeschrieben: die verzögerte Reaktion erlaubt einen Zeitgewinn und dieser verbindet sich mit der Fähigkeit zur Prävention. Blumenberg beschreibt den Menschen daher auch als das „Wesen, das zuvorkommen muß“.59 Blumenberg und Haverkamp, Theorie Der Unbegrifflichkeit, S. 109 . Zögern für Zeitgewinn ist für ihn eine anthropologische Kategorie.60 Ebd., S. 608 . Zögern ist ein Merkmal für menschliche Kultur überhaupt, die er durch den „Verzicht auf die raschen Lösungen“ charakterisiert sieht.61 Siehe Blumenberg, „Nachdenklichkeit“. Vor diesem Hintergrund hat Blumenberg auch den anthropologischen Beinamen „cunctator“, Zögerer, ins Spiel gebracht, und den Menschen Homo cunctator genannt.62 Ebd., S. 276 .

iv) Trostbedürftigkeit

Der vielleicht ungewöhnlichste Begriff in einer modernen philosophischen Anthropologie dürfte derjenige der Trostbedürftigkeit des Menschen sein,63 Siehe dazu Dober, Ethik des Trostes; Moxter, „Trost“, S. 337-349 . auch wenn die consolatio philosophiae eine respektable Tradition hat. Da Menschen die Selbstverständlichkeit ihres Existierens fehlt und sie nach einem Grund ihrer Existenz fragen müssen, es aber weder eine letztgültige Antwort auf die Seinsgrundfrage noch eine universale Sinnstruktur der Welt gibt, sind Menschen trostbedürftig: „Wer den Sinn entbehrt, ist des Trosts bedürftig.“64 Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, S. 59 . Dabei greift Blumenberg Georg Simmels Definition des Menschen als „trostsuchendes Wesen“ auf und reklamiert das Trostbedürfnis für seine Anthropologie: „Die Fragestellung nach der Möglichkeit und Funktionsweise des Trosts scheint tief hineinzuführen in den Komplex der Eigenschaften, die eine philosophische Anthropologie zu thematisieren hätte.“65 Ebd., S. 623 . Der Trost ist eine „grundlegende Explikation der menschlichen Realität“,66 Ebd., S. 627 . weil sie die Grundlosigkeit des menschlichen Daseins erfasst: Auf eine „sehr elementaren Weise“ könne dem Menschen „überhaupt nicht geholfen werden“.67 Ebd., S. 626 . Im Trost geht es nicht nur um den „freiwilligen Verzicht auf Änderung der Realität“,68 Ebd., S. 626 . sondern auch eine „Vermeidung des Bewußtseins“ von dieser Realität.69 Ebd., S. 631 . Leider sind Menschen jedoch gezwungen, einen Realitätssinn zu entwickeln, der den Tröstungsversuchen entgegenläuft, weil er uns Menschen ‚auf den Boden der Tatsachen’ stellt, und daher sind wir „zwar trostbedürftig, reell jedoch untröstlich“.70 Ebd., S. 630 .

Wie oben erwähnt, überblendet Blumenberg seine Figur des Menschen als trostbedürftiges Wesen mit Cassirers animal symbolicum. Das heißt: kulturelle Formen können Menschen trösten, die sich qua ihrer Konstitution den Sinn ihrer Existenz und ihres Strebens erklären wollen. Das heißt aber auch: Trost kann nur vorübergehend gespendet werden. Das ist einer der Gründe, warum Blumenberg in seinen anthropologischen Überlegungen immer auch für die Rehabilitierung der Rhetorik eintritt.71 Siehe Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an Die Aktualität Der Rhetorik“; dazu auch Haverkamp, „Die Technik Der Rhetorik. Blumenbergs Projekt“, S. 435-454 . Die „Mittel des Trostes“ seien nämlich „rhetorischer Natur“: Rhetorik „ist ja nicht nur eine Kunst der demagogischen Verführung, sie hat auch immer ihre Bedeutung gehabt für die Formen der Seelsorge und der Herbeiführung gehobener Gestimmtheit und Lebensfreude des Menschen, gewiß oft unter Verschleierung der wahren, aber als wahr erkannten doch noch nicht behebbaren Gründe für das menschliche Elend.“72 Ebd., S. 655 . Im Blick auf Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nennt Blumenberg diesen pragmatischen Zug seiner Anthropologie auch „Paraethik“. Eine Paraethik ist „eine Moralistik der pragmatischen Verfahren, mit denen man unter den Bedingungen der Welt dennoch überleben kann.“73 Ebd., S. 501 ; siehe dazu auch Müller, „Hans Blumenbergs Anthropologische Paraethik“, S. 256–82 .

Wenn Blumenbergs Anthropologie nach dieser Darstellung eher düster erschienen sein mag, ist das dem Platz geschuldet – und nur die halbe Wahrheit. Das Prekäre der menschlichen Natur, das potentiell Misslingende, die denkerischen Ab- und Irrwege menschlicher Orientierungsversuche präpariert Blumenberg für seine Leser auch durchaus verschmitzt. Bisweilen scheint es sogar so, als beobachte er nicht nur mit einer geradezu entomologischen Genauigkeit, sondern auch mit einer gewissen Heiterkeit, wie sich das animal symbolicum immer wieder von Neuem verirrt.

3.

Abschließend will ich nun diskutieren, welche epistemische Funktion die anthropogenetischen Narrative in Blumenbergs Philosophie haben. Dabei scheinen mir vor allem folgende Fragen relevant zu sein: Warum sollte man sich überhaupt vorstellen wollen, wie sich die ‚ersten Menschen‘ verhalten haben? Und: Warum kann es philosophisch bedeutsam sein, die Menschwerdung anhand der Imaginationsräume der Savanne und der Höhle nachvollziehbar zu machen? Und schließlich: Welche Art von Wissen wird mit diesen anthropogenetischen Kryptonarrativen transportiert?

(a) Zunächst scheinen die anthropogenetischen Einstiege von Arbeit am Mythos und Höhlenausgänge schlicht einen illustrativen Charakter haben. Die Beschreibung des Auftritts des ersten Menschen auf die Savanne kann die Thematik der Sichtbarkeit ebenso veranschaulichen wie die ausführliche Beschreibung der Höhlensituation; die Inszenierung der ‚Schwachen‘ in den troglodytischen Szenarien wären dann einfach ein Stilmittel im Rahmen dieser Illustrationen. Hätten diese Beschreibungen einen rein illustrativen Charakter, dann könnte man sagen, dass Blumenberg auf diese anthropogenetischen Einstiege auch hätte verzichten können. Sie wären illustratives Material, das seine Anthropologie literarisch bereichert. Doch wird man damit ihrer Funktion wirklich gerecht?

(b) Über die illustrative Funktion hinaus könnten die anthropogenetischen Imaginationsräume auch der Plausibilisierung dienen. Das Sichtbarkeitstheorem wird durch die Geschichte des auf die Savanne tretenden ‚ersten Menschen‘ nachvollziehbar gemacht. Die Höhle als Ort der Phantasie zu beschreiben, leuchtet angesichts der Höhlenmalereien unmittelbar ein. Damit hätten die Anthropogenesen eine epistemische Funktion. Sie haben zwar nicht den (formalen oder materialen) Wahrheitsanspruch eines Arguments oder einer empirisch beweisbaren Aussage. Doch schließen sie unmittelbar an unsere Erfahrungsräume an – wir machen die Erfahrung des Gesehenwerdens täglich und wir kennen die Höhlensituation z.B. von unserem Rückzug in unser Arbeitszimmer – und erzeugen damit einen Wiedererinnerungseffekt. Diese Kryptonarrative drücken eine Art ‚anthropologische Wahrheit‘ aus, die wir unmittelbar verstehen, auch wenn sie nicht beweisbar, sondern nur beschreibbar sind. Oder, mit einem italienischen Sprichwort gesagt: sie sind non vero ma ben trovato. Sie sind nicht wahr, aber gut erfunden – weil sie etwas ausdrücken können, was der ‚Erhellung‘ der menschlichen Existenz dient.

(c) Man kann auch diskutieren, wie sich diese Kryptonarrative zum philosophischen Gedankenexperiment verhalten. Anders als Gedankenexperimente, stellen Blumenbergs Anthropogenesen keine kontrafaktischen Situationen dar, sie haben eher den Gestus des ‚so ungefähr hätte es sein können (doch leider wissen wir es nicht genau)‘. Damit erzählen sie – wie es in einem Gedankenexperiment der Fall sein müsste – keine erhellende Alternativgeschichten der Menschwerdung, die uns helfen könnten, ein anthropologisches Problem aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu sehen und damit besser zu verstehen. Dies trifft auf Blumenbergs Anthropogenesen nicht zu. Insofern sind sie m.E. keine Gedankenexperimente. Möglicherweise könnte aber der Begriff des ‚Gedankenspiels‘ auf Blumenbergs Anthropogenesen Anwendung finden.

(d) Zudem könnte man fragen, ob es sich bei den Anthropogenesen um Gleichnisse oder Parabeln handelt. Auch dies scheint mir nicht der Fall zu sein, nicht nur, weil die didaktische Pointe fehlt (die vielleicht kein Muss wäre), sondern vor allem, weil die Kryptonarrative, anders als z.B. im Fall von Platons Höhlengleichnis keine Szenerie entwerfen, um etwas anderes, die Grundlagen der Erkenntnistheorie, zu veranschaulichen. Bei Blumenberg werden dagegen menschliche Grunderfahrungen bildlich veranschaulicht, die sich in seine Anthropologie begrifflich übersetzen lassen. Man kann Höhlenausgänge auch als einen Kommentar zu Platon zu verstehen: Platon hatte die Höhle nur als Gleichnis für seine Erkenntnistheorie benutzt, aber nicht erkannt, dass in der Höhlensituation selbst schon so viel anthropologisches Potential steckt, das man philosophisch ausschöpfen sollte. Insofern, könnte man sagen, ‚entparabelisiert‘ Blumenberg das Höhlengleichnis geradezu.

(e) Es scheint kein Zufall zu sein, dass diese Anthropogenesen Geschichten des Anfangs oder von Anfängen sind. Blumenberg reagiert damit auf das menschliche Bedürfnis, wissen zu wollen, was ganz am Anfang stand. Ursprungserzählungen, Letztbegründungen, Prinzipien rekurrieren alle auf dieses Bedürfnis nach Erkenntnisgewissheit – die nach Blumenberg nicht zu erreichen ist. Insofern ist insbesondere der Anfang von Höhlenausgänge eine große Meditation über die Sehnsucht, Wissen über unseren Anfang zu erhalten; zunächst phylogenetisch und ontogenetisch, aber auch in grundlegender philosophischer Hinsicht. Das erste Kapitel von Höhlenausgänge ist mit „Erinnerung an den Anfang“ überschrieben und Marcel Proust ist einer der Referenzautoren: Blumenbergs Anamnesis-Variationen sind eine ‚Suche nach dem verlorenen Anfang‘. Neben der individuellen Erinnerung und dem individuellen Verblassen der Erinnerung wie im Fall des Geburtstraumas (auf das Blumenberg hartnäckig zu sprechen kommt), gibt es für ihn auch eine Art Erinnerung der Gattung. Wir Menschen wissen nicht, woher wir kommen, sehnen uns aber nach Erklärungen, Deutungen und Geschichten. Blumenbergs Anthropogenesen wären dann Anfangserzählungen, die auf das Bedürfnis nach dem Wissen um unseren Anfang reagieren – während sie als Kryptonarrative gleichzeitig signalisieren, dass wir uns immer schon in Deutungsvorgängen befinden:

„Sie sind Hypothesen auf einen unbekannten Text, dessen Autor nach seinen Absichten niemals befragt werden könnte, den dennoch zu verstehen und sich bei diesem Verständnis zu beruhigen oder wenigstens zu trösten jedenfalls nicht die Untröstlichkeit des völligen Unverständnisses für die condicio humana zu erleiden übrig läßt.“74 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 23 .

(f) Schließlich kann man auch fragen, ob Blumenberg nicht noch mehr will, nämlich einen Philosophiestil vorführen, den man als „nichtdoktrinär“ im Sinne Michael Hampes verstehen kann.75 Siehe Hampe, Die Lehren Der Philosophie. Eine doktrinäre Philosophie will andere Menschen dazu bringen, sich Behauptungen anzuschließen, um sie auf diese Weise zu erziehen. Nichtdoktrinäre Philosophien wollen weniger etwas behaupten als vielmehr etwas beschreiben, zeigen, erzählen, um den Grund deutlich zu machen, warum jemand etwas behauptet. Blumenberg könnte vor diesem Hintergrund diese Einstiege seine Bücher wählen, um die Genese der Philosophie aus dem Erzählen deutlich zu machen – und um sich damit gegen eine doktrinäre Philosophie des Behauptens zu positionieren. Thesen wie „der Mensch ist das sichtbare Wesen in einem emphatischen Sinne“ mögen zwar stark behauptenden Charakter haben, doch genau dieser Satz wird dann über das Aufrufen jenes Imaginationsraumes ‚begründet‘ und nicht z.B. mit Rekurs auf evolutionsbiologische Literatur (ohnehin sind derartige Behauptungen bei Blumenberg nicht ohne Ironie). Blumenberg evoziert eine Einsicht in ein Charakteristikum der menschlichen Existenz über den Bildhorizont seiner Kryptonarrative.

(g) Im Sinne eines Ausblicks könnte man fragen, ob Blumenbergs Philosophie dem Pragmatismus nahesteht und ob er sich insgesamt von einem pragmatistischen Wahrheitsbegriff leiten lässt, der auch auf seine Anthropogenesen ‚ausstrahlt‘. Dass Blumenberg einen (im weiten Sinne) pragmatistischen Ansatz verfolgt, mag z.B. folgende Bemerkung aus Höhlenausgänge verdeutlichen: „Philosophie ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit ausgewählt worden sind. Sie sind dann auch nichts anderes als Hypothesen, mit dem Unterschied, daß sie keine Anweisung für mögliche Experimente oder Observationen enthalten, sondern ausschließlich etwas verstehen lassen, was uns sonst als ganz und gar Unbekanntes und Unheimliches gegenüberstehen müßte.“76 Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 22 .

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