Abenteuer in Afrika

Variation eines ethno-linguistischen Dissertationsthemas[1]

Katharina Monz
Universität zu Köln

<1>  Dieser Artikel stellt die zusammenfassende Übertragung eines zentralen Themas meiner Dissertationsschrift [Mots croisés de la mobilité – paroles d’aventure et de voyage] aus dem Französischen dar, welche unterschiedliche Aspekte internationaler Mobilität im westafrikanischen Raum zum Thema hatte. Im Folgenden geht es darum, das vor allem im Großraum Mali bekannte aventure “Abenteuer“ näher zu betrachten und auf Basis der Darstellung durch seine Akteure vorzustellen. Diese Darstellungen habe ich in Gesprächen gesammelt, die zwischen 2017 und 2022 in Mali und Nachbarstaaten, vornehmlich auf Bambara und Französisch mit Anleihen in mehreren anderen Sprachen, geführt wurden. Neben 31 in der Dissertationsschrift namentlich erwähnten, gab es Dutzende weitere Gesprächspartner, die ihre Beiträge zu dieser Forschung nicht mit ihrem Namen versehen und/oder zitiert haben wollten und stattdessen um anonyme Paraphrasierung des Gesagten baten. Die Gespräche wurden während persönlicher Treffen und via WhatsApp-Sprachnachrichten geführt, wobei Mitschnitte und Mitschriften je nach Vorgabe des jeweiligen Gesprächspartners erfolgten.

<2>  Zu Zwecken der Perspektiverweiterung stelle ich den Beobachtungen meines Dissertationsprojektes eingangs eine weitere Verknüpfung der Hauptbegriffe aventure, Abenteuer, und (West-)Afrika zur Seite. Ziel dieser kurzen Darstellung, wie die beiden Begriffe außerhalb der wissenschaftlichen Forschung miteinander verknüpft werden, ist es, Bezeichnungen aus der Forschung auf ihre Alltagstauglichkeit hin abzuklopfen. Ist die Art und Weise, wie wir den Begriff aventure in der Forschung zu Migrationspraktiken nutzen kompatibel damit, wie er auch in anderen Kontexten verstanden und genutzt wird, eröffnet uns dies neue Möglichkeiten, die Ergebnisse unserer Forschung zu verbreiten und zur Diskussion zu stellen. Gerade wenn diese Forschung unterschiedliche Aspekte von internationaler Migration zum Gegenstand hat, ist dies von großem Wert, stellt doch die grenzüberschreitende Bewegung von Menschen eines der großen Kernthemen des aktuellen öffentlich-politischen Interesses dar.

<3>  Der Begriff des Abenteuers, so wie wir ihn im Deutschen heutzutage kennen und nutzen, kann dem DWDS folgend als “außergewöhnliches Geschehen“ definiert werden. Wir beschreiben mit ihm ein “ungewöhnliches, spannendes Erlebnis“, ein “gefahrvolles, verwegenes Unternehmen“ (s.a. Roth 2013) oder auch ein “unverbindliches Liebeserlebnis“, eine “Episode“.[2]

<4>  Dabei hat der Begriff eine lange Reise hinter sich, um zu dem zu werden, was er heute ist. Halten wir uns auch für den historischen Abriss an das DWDS, welches eine digitalisierte und vom Herausgeber überarbeitete Version des 1993 erschienen Etymologischen Wörterbuchs des Deutschen beinhaltet. Hier finden wir für den Begriff “Abenteuer“ den folgenden Eintrag:

 

Abenteuer n. ‘erregendes Erlebnis, mutwillig eingegangenes Wagnis, Liebesaffäre’. Mhd. āventiure, ābentiur ‘Begebenheit, gewagtes Beginnen mit ungewissem Ausgang, Schicksal’ wird Ende des 12. Jhs. aus gleichbed. afrz. aventure entlehnt, dem vlat. *adventūra ‘Ereignis, Geschehnis’ vorausgeht. Dies ist eigentlich Plur. Neutr. des substantivierten Part. Fut. von lat. advenīre ‘herankommen, ankommen’, also als das, ‘was sich ereignen wird, das sich Ereignende’ zu erklären. Die Bedeutung ‘Liebesaffäre’ (seit Mitte des 16. Jhs. üblich) klingt vereinzelt schon in mhd. Zeugnissen an. – abenteuerlich Adj. ‘voller Abenteuer, außergewöhnlich, gewagt’, mhd. āventiurlich, spätmhd. ābenturlich ‘voll ungewöhnlicher Dinge’. abenteuern Vb. ‘auf Abenteuer ausgehen, Abenteuer suchen’, mhd. āventiuren. Abenteurer m. ‘wer auf Abenteuer ausgeht, Glücksritter’, mhd. (selten) āventiurære ‘wer auf ritterliche Wagnisse auszieht’ (Anfang 13. Jh.), auch ‘Krämer, Wanderhändler, Gaukler, Spielmann, Schausteller’ (Ende 14. bis 16. Jh., vereinzelt bis Anfang 18. Jh.); die neuere Bedeutung ‘Glücksritter’ (18. Jh.) steht unter Einfluß von engl. adventurer, frz. aventurier.[3]

 

<5>  Für den französischen Begriff aventure bietet es sich an, sich an den TLFi zu halten, der dieses als ein Ereignis beschreibt, das jemandem im Laufe der Zeit auf mehr oder weniger unvorhergesehene, meist unvorhersehbare, Art und Weise widerfährt. Dabei kann die Person eher passiv betroffen sein und die Ereignisse mehr oder minder stark erleiden oder sie kann aktiv beteiligt sein, indem sie die Ereignisse mehr oder minder stark fordert und leitet und die Unwägbarkeiten weniger erleidet, als dass sie sie erfährt.[4] Mit aventurier wird eine Person (nominal) bezeichnet oder (adjektivisch) beschrieben, die einen mehr oder minder direkten Bezug zum Abenteuer hat, wobei auch hier wieder danach unterschieden werden kann, wie passiv oder aktiv die betroffene Person beteiligt ist, bzw. wie stark sie sich auf den positiven Ausgang des Zufalls verlässt.[5] Als Ergänzung sei erwähnt, dass der französische Begriff aventurier im DWDS als bildungssprachliches, veraltetes Synonym zum Abenteurer und Glücksritter geführt wird.[6] Wir haben also eine direkte Verknüpfung der deutschen mit der französischen Bezeichnung, sowohl für die Aktivität als auch für den der Aktivität Nachgehenden, wodurch das Bild eines aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallenden Ereignisses entsteht, an dem die das Ereignis erlebende Person unterschiedlich stark und aktiv beteiligt sein kann.

<6>  Genährt wird dieses Bild von (schriftlichen wie mündlichen) Erzählungen, wie sie beispielsweise im Abenteuerroman des europäischen Spätmittelalters und seiner frühen Neuzeit zu finden sind. Hier wird der Abenteurer als jemand dargestellt, der “dem Volk entstammend und meist in dienender Stellung“ zunächst “bewußt auf Abenteuer auszieht“, später jedoch auch als jemand, der “gepackt wird vom stets wechselnden Geschick, das ihn herumwirbelt, ihm bald günstig, bald widrig ist, der sich durchschlägt, allen Mühen zum Trotz, sich vielleicht von unten heraufarbeitet zum Glück und Herr der Lage wird“ (Merker & Stammler 1926/2020:1).
Behalten wir diese Kurzdefinition im Kopf, wenn wir im Folgenden den geographischen Fokus auf den afrikanischen Kontinent legen. Teile dieser Darstellung werden uns hier wieder begegnen.

 

Aufbruch ins Unbekannte

<7>  Bringt man das Abenteuer rein sprachlich in Verbindung mit dem afrikanischen Kontinent, weckt dies eine Reihe Assoziationen, die – wenn auch nicht ausschließlich, so doch stark – schriftlich verankert sind. Die aktuell vermutlich am weitesten verbreitete und am häufigsten evozierte Assoziation ist die eines Abenteuerurlaubs, einer spannenden touristischen Aktivität, welche von einem Hauch der Gefahr umweht wird. Dieser Hauch, Heike Baldauf-Quilliatre spricht in ihrer Analyse von Reisekatalogen für das südliche Afrika von “wohldosiertem Abenteuer“ (2011:198), ist wichtig. Einerseits darf er nicht fehlen, denn ohne ihn handelte es sich nicht um ein Abenteuer, sondern um eine einfache Reise. Andererseits darf er nicht mehr als eben ein Hauch sein; echter Gefahr an Leib und Leben möchte man sich schließlich in seinem Urlaub nicht ausgesetzt sehen. So handelt es sich bei Abenteuerurlauben in Afrikas Steppen und Savannen (Stichwort “Abenteuer Wildnis“ wie in der bekannten BR-Fernsehreihe;[7] s. Krems 2002) in den allermeisten Fällen um organisierte Touren, die rudimentärer daherkommen, als ein Aufenthalt in einem Sternehotel, und dem Gast entsprechend abverlangen, “gewisse Einschränkungen und Anstrengungen in Kauf“ zu nehmen (Baldauf-Quilliatre 2011:201). Gleichzeitig hat der Gast diese etwas anstrengendere Reise gebucht, er hat sich also aktiv für dieses explizit als besonders, außergewöhnlich, häufig auch “exotisch“ (Baldauf-Quilliatre 2011; s.a. exemplarisch Stern 2004; Tourist Austria International 2007; Falz & Benn 2016; Hohenester 2007) beworbene Erlebnis entschieden. Dies tut er in dem Wissen, als Kunde König zu bleiben, die Reise also nicht auf sich selbst gestellt zu unternehmen, sondern von einer gewissen Entourage begleitet und abgesichert zu sein. Diese Absicherung beinhaltet die Anführung und Leitung durch Fahrer, Führer und notfalls eventuell auch eine parat stehende Eskorte, um sichergehen zu können, dass die Reise im Rahmen des Beworbenen stattfindet, also weder den im Vorfeld klar definierten Zeitrahmen, noch die ebenfalls abgesprochenen sogenannten abenteuerlichen Aktivitäten und Begegnungen sprengt (Baldauf-Quilliatre 2011:202). Egal, ob es sich letztendlich um Individual- oder Gruppenaktivitäten handelt, hat der Abenteuerurlaub so etwas von einem Besuch auf einem deutschen Abenteuerspielplatz (s. Siegfried 2015) bzw. in einem Safari- oder sonstigen Freizeitpark (Böhm 2022; s.a. “Deep in Africa Adventure Trail“ im Phantasialand u.ä.): Er bietet dem Besucher einen moderaten Nervenkitzel, da dieser zwischen Büschen Verstecken spielen kann, dabei aber immer im eingezäunten Areal verbleibt, also in den Bahnen des durch eine Versicherung abgedeckten Regelfalls.

<8>  Sinn und Zweck des Abenteuerfalls “Reise in Afrika“ ist es, zu “erleben und [zu] entdecken“ (Baldauf-Quilliatre 2011: 200; s.a. Roth 2013). Dies bringt den Fall aktueller touristischer Aktivitäten in die Nähe einer anderen Assoziation mit dem Wortpaar Abenteuer und Afrika, nämlich der historischer Reisen von Europäern (Schweinfurth, Czekanowsky, Stanley, Barth, Livingstone etc.) auf den Nachbarkontinent, den es aus europäischer Sicht zu entdecken galt.

<9>  Anhand der deutschen Schlagwörter Afrika und Abenteuer findet sich so eine ganze Bandbreite an Berichten und Erzählungen von Personen, die von Europa nach Afrika aufgebrochen sind und ihre Erfahrungen und Erlebnisse nach ihrer Rückkehr in der Rückschau als Abenteuer erzählen;[8] im Extremfall wird sogar der ganze Kontinent “erzählt“ (Freyberg 1943). Zu den rückblickend als Abenteuer dargestellten Bewegungen nach und in Afrika zählen frühe Reiseberichte aus dem 17. Jahrhundert (Dirks, Schmitz & Strauß 1911), aber vor allen Dingen die Erzählungen von Forschungs- und Entdeckungsreisen aus dem späten 18. und besonders aus dem 19. Jahrhundert (Fiedler 2005; Schiffers 1962; Reybaud 1836; Kappel 1996; Livingstone & Pleticha 1980; Wagner 1863), welche neben Reisen und Entdecken auch die Jagd, das Abenteuer und das Kennenlernen von Natur und Menschen zum Gegenstand hatten (Becker 2002; Roth 2013). Von Anfang des 20. Jahrhunderts kommen Lebenserinnerungen (Landbeck 1923; s.a. Roth 2013) und Expeditionsberichte (Gebhard 1911; Stanley 1892; Barth 1986; Jaspert 1929) hinzu und abschließend lassen sich einige Wortmeldungen aus bzw. zum Militär einbeziehen, wenn Aktivitäten der französischen Fremdenlegion und Armee, aber auch anderer nationaler Militärverbände in Afrika mit dem Begriff Abenteuer versehen werden (s. Sodeur 1859; Mehler & Werner 2008; Krems 2002).

<10> Zusätzlich zu diesen Erzählungen und Berichten von tatsächlichen Bewegungen, findet sich auch in Unterhaltungsliteratur eine Verknüpfung der Schlagworte Abenteuer und Afrika, wobei der Übergang zwischen den oben genannten historischen Berichten und der nun folgenden Trivialliteratur nicht zuletzt ob der Frage der Glaubwürdigkeit des Erzählten und Berichteten fließend ist (s. Roth 2013; s.a. Eming & Schlechtweg-Jahn 2017). Dies ist in erster Linie im Bereich Jugendliteratur der Fall (s. bspw. Talbott 2004), wo Afrika als Handlungsort vornehmlich zur Darstellung des Fremden und Unbekannten (Becker 2002; De Beer 2015), als “exotische Kulisse für die Abenteuerhandlung dient […]“ (De Beer 2015:7) und welche vielfach eindeutige Anleihen an kolonialen afrikabasierten Abenteuerromanen machen (De Beer 2015; Pellatz 2002; Becker 2002; Krems 2002). Als zentrales Thema dieser ebenfalls unter der Beschreibung Abenteuerliteratur laufenden Romane kann der “Aufbruch in die Fremde und die Überwindung der fremden Welt“ (De Beer 2015:1) notiert werden. Auch einige an Erwachsene gerichtete Romane haben Abenteuer in Afrika zum Thema, wobei es hier vielfach um “das Abenteuer des Verlorengehens und Sichverlierens“ geht (Göttsche 2015:121) und Protagonisten sich durch Begegnungen (stückweise) innerlich wandeln (Eming & Schlechtweg-Jahn 2017) und dadurch vielleicht auch schlussendlich (wieder)finden.

<11> Abschließend kann mit Göttsche (2015:121) festgehalten werden, dass das Abenteuer, ob es nun in Afrika oder anderswo stattfindet, als “gesteigerte Form des Lebens“ anzusehen ist. Diese Formulierung kann als Übergang dienen zur eingangs angekündigten und nun folgenden paraphrasierenden Zusammenschrift der Dissertation.

 

Das westafrikanische aventure als Forschungsgegenstand

Pour connaître le verre, il faut pas rester dedans.
I bɛ munun munun, ka don tugun nin.
Il faut sortir pour connaître et comprendre les choses.
(Bouba)
Um das Glas zu kennen, darf man nicht darin bleiben.
Du musst es umrunden, um dann wieder rein zu gehen.
Man muss herausgehen, um die Dinge kennenzulernen und zu verstehen. (
Bouba)

 

<12> Werfen wir nach dieser sicher verkürzenden Einleitung und Kontextualisierung einen wissenschaftlicheren Blick auf eine andere Form des Abenteuers, die sich ebenfalls auf dem afrikanischen Kontinent abspielt, diesmal jedoch außerhalb geregelter Bahnen und ohne luxuriöse Reisebedingungen. Es handelt sich um das frankophon westafrikanische aventure, das Abenteuer temporärer Migration, wie es von Akteuren eben jener Migration im Rahmen meiner Dissertation dargestellt wurde.

 

Wie kommt es zum aventure? – eine Kontextualisierung

<13> Wie jedes road movie auch, beginnt das Gespräch über das aventure im frankophonen Westafrika nicht mit der Erzählung von Bewegung, sondern mit einer Einstellung auf ihrem Fehlen: Vermittelt werden soll das Gefühl, zwangsweise nicht mobil zu sein, von außen blockiert zu sein und zu werden; être bloqué, calé, coincé, stuckness (Sommers 2012). Dieses Außen, welches den späteren aventurier blockiert, ist zum einen eine häufig nicht näher benannte Krise, la crise, sɛngɛn, fatigue. Mit diesem generischen Begriff – häufig auch im Plural les crises genutzt – wird die grundsätzliche (sozio-ökonomische) Situation vieler westafrikanischer Staaten und der damit verbundene schwierige Alltag ihrer Bewohner beschrieben. Im Extremfall kann diese Blockade durch Krisen als lebensbedrohlich gelten, wobei es sich weniger um eine explizite Gefahr für Leib und Leben, sondern vielmehr um eine metaphorische Betrachtung handelt: Dem Leben entspricht Bewegung, bouger, und die Abwesenheit von Bewegung, die Immobilität, auch stasis, entspricht dem Tod (Comaroff & Comaroff 2001:271). Sein Bewegungsmoment zu verlieren bedeutet zu stagnieren, und damit in den Prozess des Sterbens überzugehen (s. Masquelier 2019:206). Diese Verbindung von Mobilität und Leben bzw. Immobilität und Tod findet ihren Ausdruck in diversen Bambara Redensarten. Das beginnt bereits damit, dass das Leben neben den allgemeinen häufig auf den Stoffwechsel bezogenen Begriffen si “Alter, Lebenszeit“ und baloLeben, Nahrung“ auch mit metaphorischen Begriffen wie diɲɛnatigɛ “Erdenwandel, Zeit eines Menschen auf Erden“ (von diɲɛ “Erde“ und ka natigɛüber-/durchqueren“) und diɲɛsosigi “Leben, Lebenszeit auf Erden“ (von diɲɛErde“ so “Haus“ ka sigibauen“) bezeichnet wird. Besonders diese beiden Metaphern finden verstärkt Anwendung in Lebensweisheiten wie diɲɛnatigɛ ma dabɔ lafiya kama “Das Leben ist nicht zum Ausruhen da“, diɲɛnatigɛ ye taama ye, i t’a don a bɛ da yɔrɔ min na “Das Leben ist eine Reise und du weißt nicht, wo ihr Ende liegt“ oder auch diɲɛsosigi dabɔra wuli ka jɔ kama “Das Leben ist dafür da, aufzustehen“. In Bezug auf den Tod finden sich zusätzlich Formulierungen wie saya bɛn’i sɔrɔder Tod wird dich finden“, in denen anklingt, dass man als Mensch eine Art Wettlauf mit dem Tod führt und von letzterem eingeholt wird, sobald man sich nicht mehr (schnell) genug bewegt. Auf Basis dieses grundsätzlichen Verständnisses von Leben als mit Bewegung verhaftet, und wissend dass das Abenteuer eine besondere Art der Bewegung darstellt, greift hier Göttsches (2015:121) weiter oben zitierte Beschreibung des Abenteuers als “gesteigerte Form des Lebens“ besonders gut.

<14> Der zweite externe Grund für das Gefühl, blockiert zu sein, ist die Jugend, die hier als liminaler Status zwischen Kindheit und Erwachsenendasein verstanden wird. Dieses Dazwischen mag eine Zeit lang spannend sein, wird von meinen Gesprächspartnern jedoch als endlos verlängert dargestellt, weil ihnen von der Gesellschaft der Erwachsenen der Aufstieg verweigert würde. Dieser Aufstieg käme dadurch zustande, dass man(n) eine Arbeit fände, die einem erlaubte, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Dieses Ende der Abhängigkeit von Eltern und erweiterter Familie bei gleichzeitiger Übernahme von Verantwortung für Personen, welche wiederum von einem selbst abhängig sind – dies beinhaltet neben den Kindern auch die Ehefrau(en) – wird durch das Festhalten an Pfründen und Posten von den Älteren, les vieux, verhindert, die gleichzeitig die von ihnen verursachte verlängerte Jugend ihrer Söhne als faulheitsbedingt kritisieren.

<15> Seinen stärksten Ausdruck findet dieses Verharren in der untergeordneten Stellung des Jugendlichen im fast schon banalen Umstand, dass die Jugend sitzt. Erwachsene zeichnen sich durch Mobilität aus, durch Bewegung, welche das Geld einbringen soll, das die Familie benötigt. Die Jugend hingegen sitzt, während sie auf den Statuswechsel zum Erwachsenendasein wartet, ihre Hosenböden durch: “The image of idle young men who fray their pants by just sitting captures the misery of an existence that has them burdened by immediate needs yet unable to plot a way out” (Masquelier 2019:2). Die hier dargestellte Inaktivität, die in der Gesellschaft als Zeichen von Faulheit gilt, ist inhärent maskulin, wie man einem in Westafrika gebräuchlichen frankophonen Sprichwort entnehmen kann: La beauté de l’homme c’est le travail, “die Schönheit eines Mannes ist seine Arbeit“. Dieser Satz ist in den Straßen vieler westafrikanischer Großstädte omnipräsent; er gehört zu den beliebtesten maquillages, Zeichnungen und Aufklebern auf Taxen und Bussen. Er vereint in einem kurzen scheinbar einfachen Satz mehrere primordiale Aspekte dessen, was es im westafrikanischen Raum zu bedeuten scheint, ein Mann zu sein. Der Mann grenzt sich biologisch wie sozial von der Frau und, bezogen auf seine persönliche Entwicklung, auch vom Jungen/Jugendlichen ab. Dieser Mann ist beau “schön“, also vrai homme, ein echter Mann, wenn er arbeitet und so Geld erwirtschaftet. Er darf und muss seinen Stolz also daraus beziehen, dass er arbeitet, sich bewegt, bouger, um seine Familie zu ernähren. Diese seine Aktivität macht ihn schön. Im Gegenzug macht fehlende Aktivität, Inaktivität, ihn hässlich und sollte Grund sein, sich zu schämen. Dies wird in einigen Redewendungen auf Bambara explizit gemacht, die einen Dreiklang aus Inaktivität, sitzender Position und Impotenz herstellen. Einem biologisch erwachsenen Mann seine andauernde Inaktivität oder seine abstoßende Faulheit vorzuwerfen, bedeutet also sich im Vulgären zu bedienen, um ihm folgendes zu sagen: I sigilen b’i minnenw kan oder I sigilen b’i (kɔkili) fla kan. Dem Wortlaut nach übersetzt sagt man hier, der Mann säße “auf seinen Eiern“, was mehrerlei transportiert: Zunächst stellt die Zuhörerschaft fest, dass der Sprecher dermaßen von der Inaktivität seines Gegenübers gestört ist, dass er seine guten Manieren vergisst und Begriffe nutzt, von denen er höchstens passive Kenntnisse haben sollte; kɔkili bezeichnet ausschließlich (männliche) Eier, minnenw bedeutet zunächst Gegenstände wie Werkzeug, im übertragenen Sinne aber auch die primären Geschlechtsmerkmale des Mannes. Selbst wenn der Sprecher eine Aussprache des Wortes umgeht und I sigilen b’i fla kan,Du sitzt auf deinen beiden“ sagt, gibt es keine Verwechslungsgefahr, was mit fla, zwei, gemeint sein kann. Der zweite Aspekt, der auffällt, ist, dass der angesprochene Mann keine Pause macht, sondern dergestalt inaktiv ist, dass er sitzt: er ist faul. Hinter dieser Einschätzung versteckt sich das Wissen, dass es für einen Mann, der in Form ist, keine Arbeit im Sitzen gibt. Nur Kinder, Alte und Frauen sitzen bei bestimmten Aktivitäten; un homme qui se respecte bouge, “ein Mann, der sich respektiert, bewegt sich“. Beim dritten Aspekt wird man auch in europäischen Sprachen explizit, denn es wird vermittelt, dass der Mann nicht steht. Nun auch inhaltlich vulgär, wird dem angesprochenen Mann vorgeworfen, seine Geschlechtsteile nur zum Draufsitzen zu nutzen. Er ist also noch weniger als ein Mann, welcher sich nicht respektiert: Ein sitzender Mann ist kein echter Mann – er ist wie das Kind oder der alte Mann, welches noch nicht und welcher nicht mehr die Geschlechtsteile nutzt – oder er ist gar kein Mann, sondern eine Frau. Man kann sich einen Mann nicht anders vorstellen als in Aktion, denn durch seine Arbeit, au champs comme au lit, “auf dem Feld wie im Bett“, grenzt er sich von den Anderen ab. Seine Vorherrschaft in Haus und Hof ist davon abhängig, was bedeutet, dass sobald er sich der Faulheit, saliya, hingibt, er sich nicht mehr bewegt und seiner Verantwortung nicht gerecht wird. In logischer Konsequenz verliert er seinen Status als Chef der Familie, dutigi, und wird wieder Teil der denbaya. Der erste der beiden Begriffe, dutigi, bezeichnet Wort für Wort den Besitzer des familiären Hofes. Dies ist in den mit Abstand meisten Fällen ein Mann, nicht unbedingt der Vater, jener Mann, welcher finanziell für all jene, die auf dem Hof leben, denbaya, aufkommt. Das Verhältnis zwischen dutigi und denbaya kann selbstverständlich das einer (Bluts-)Verwandtschaft seindenbaya kommt von den, (leibliches) Kind – aber die Bezeichnung bezieht sich vor allem auf ein durch Verantwortung und (finanzielle) Abhängigkeit markiertes Verhältnis. So umfasst denbaya neben den Kindern auch die Frau(en), Arbeiter, Angestellte und entfernte Verwandte, welche (zeitweise) im Hof leben, und vom dutigi abhängen.

<16>Der Vorwurf, ein Mann wisse mit seinen Geschlechtsteilen nichts anderes anzufangen, als sie als Kissen zu nutzen, um faul herumzusitzen, ist sicher an der Grenze zur Beleidigung. Gleichzeitig wird er nicht nur biologisch erwachsenen Männern gemacht, sondern auch einem warnenden Zeigefinger gleich, mise en garde, Jugendlichen gegenüber formuliert, welche alt genug für den Sprung ins Erwachsenenalter sind, diesen jedoch (noch) nicht machen. Hier hört man ihn häufig im Zusammenhang mit Varianten folgender Warnung:

 

N’i ma wuli k’i jɔ, saya bɛn’i sɔrɔ i sigiyɔrɔ la, ka sɔrɔ i ma dɔ kɛ dɔ ye. Fadenw bɛ yɛlɛ i la. O ye i kɛlen ye fadensago ye. Bɔfu safu.

Wenn du nicht aufstehst, wird der Tod dich auf deinem Stuhl finden, finden, dass du nichts getan hast. Die Kinder deines Vaters [aber nicht deiner Mutter] werden über dich lachen. Du wirst genau das geworden sein, was diese sich für dich erhofft hatten. Umsonst geboren, umsonst gestorben.

 

<17> Was hier formuliert wird, ist die Hoffnung, der Jugendliche möchte sich aus der sitzenden Position des Kindes erheben und die Dinge wie ein Mann in die Hand nehmen. Der Sprecher erinnert ihn daran, dass niemand die Stunde seines Todes kenne und dass ein Mann, welcher vor dem Tod einige Dinge getan haben muss – eine Familie gründen und ernähren – besser jetzt damit beginnen solle. Wissend, dass unter den Kindern von Ko-Frauen Konkurrenz herrscht, wäre es eine große Genugtuung für diese Halbgeschwister und eine ebenso große Schmach für die eigene Mutter, würde man(n) selbst ohne Nachkommen sterben. So von der Welt zu gehen, wie man in sie gekommen war – mit nichts, fubedeutet, dass dieses Leben, wie auch die Person, die es gelebt hat, keinerlei Wert hat. Immobilität, stasis (Comaroff & Comaroff 2001:271), ist also intrinsisch gebunden an, wenn nicht sogar äquivalent mit sozialem und körperlichem Tod. Inaktivität, sitzende Position, Impotenz und letztendlich auch den Tod miteinander in Verbindung zu setzen, und dies alles dem (jungen) Mann auf den Kopf zuzusagen, muss diesen beschämen. Das ist auch intendiert, denn man versucht, den Mann dergestalt zur Aktivität zu drängen. Dies kommt, wie eingangs bereits geschrieben, daher, dass man sich in Mali und Nachbarstaaten, einen Mann nur in Aktivität vorstellen kann. Inaktivität ist also automatisch eine fast schon verbrecherisch zu nennende Faulheit, gegen welche es aus einem sehr einfachen Grund anzukämpfen gilt. Auf Bambara gehen Faulheit und Tod Hand in Hand, sie entstammen derselben Wortwurzel sa, sterben: sali, das Sterben, saya, der Tod, saliya, die Faulheit, sayabagatɔ, der Sterbende, salibagatɔ, der Faule. Diesem Bild beschämender Inaktivität folgend, fällt auf das malische grin – die Teerunde, zu der sich viele (junge) Malier (fast) täglich treffen – ein fahles Licht von Apathie und von sich im Kreis drehenden Gesprächen; ein bedrückender Teufelskreis, der nur dann durchbrochen wird, wenn ein Mitglied den Schritt wagt, sein Projekt, projet, anzugehen und sich auf den Weg zu machen, se mettre en mouvement. Dieser erste Schritt besteht nicht darin, loszugehen, ka sira minɛ, sondern zunächst einmal darin, aufzustehen, ka wuli (Canut 2018), was auf das eben Gesagte verweist.

<18> Dabei sind die eigentlichen Gründe für die Mobilität multipel und nicht immer im Einzelnen nachvollziehbar. Auch werden sie häufig zusammengeführt unter der sehr allgemeinen Formulierung je me cherche, “Ich suche mich/meinen Platz“, oder unter einem Bild von (körperlichem) Zwang: Taali juru bɛ ne na kann man mit “ich muss gehen“ übersetzen, obwohl “es zieht mich (hinaus)“ dem Bild gerechter wird, denn juru bezeichnet neben dem Abstrakta Zwang auch ganz konkret das Seil.

<19> Das aventure von Frauen – es sind nach wie vor sehr wenige, obwohl die Zahlen offensichtlich steigen – wird von außen häufig als Flucht, fuite, beschrieben und auch die Frauen stellen es häufig als letzten Ausweg aus einer ansonsten ausweglosen Situation dar, welche wiederum zwei gegensätzliche Ursachen haben kann. Zum einen handelt es sich um den defavorablen sozialen Kontext, der Frauen immer noch in nur sehr engen Grenzen Agentivität zugesteht und sie, zu denbaya zählend, unter die Vormundschaft ihres Mannes oder eines männlichen Verwandten ihrer selbst oder des Mannes stellt. Als zweite Ursache für einen Aufbruch ins Abenteuer, wird die Flucht vor der eigenen Vergangenheit angegeben, was sich mit dem Wortspiel sungurunsungurunba beschreiben lässt. Der erste Begriff bezeichnet eine junge Frau, versehen mit dem Augmentativ -ba wird aus ihr jedoch eine Prostituierte.

 

Erste Schritte, Begegnungen und Unterbrechungen

<20> Dass die Gründe für das aventure sich auf die persönliche Ebene beziehen, findet Widerhall in der weiteren Darstellung der eigentlichen Bewegung, welche als individuell beschrieben wird (s.a. Eming & Schlechtweg-Jahn 2017). Man entscheidet für sich – häufig genug, ohne andere mehr als allgemein über das Projekt zu informieren – aufbrechen zu wollen und vollführt die ersten Bewegungen alleine. Da es sich bei den aventuriers jedoch nicht um einige wenige junge Leute handelt, sondern um Tausende, die jedes Jahr losziehen, um ihr Glück (vorläufig) woanders zu finden, kreuzen sich die Wege einzelner aventuriers zwangsweise hier und dort. Dieses zufällige Kreuzen und zeitweise in die gleiche Richtung Unterwegssein lädt dazu ein, neue Bekanntschaften zu knüpfen und sich Stück für Stück ein Netzwerk, réseau, aufzubauen. Im Extremfall können die hier entstehenden Verbindungen so eng werden, dass einige aventuriers von einer neuen Familie, nouvelle famille, surrogate kin (Masquelier 2019) sprechen, die sich unterwegs bildet. Spannend ist hier, dass für die Beschreibung einer neuen Familie ausschließlich der französische Begriff famille, welcher nach europäischem Verständnis Blutsverwandtschaft voraussetzt, bemüht wird, statt auch den Bambara Begriff somɔgɔw zu verwenden, welcher sich wörtlich übersetzt auf Personen des Hauses bezieht und all jene inkludiert, welche (gerade) in Haus und Hof leben.

<21> Rein sprachlich hieran anknüpfend, in der Realität jedoch anders gelagert, ist eine weitere Beziehung, die sich im Rahmen eines Netzwerks bilden kann: Es handelt sich um die Beziehung zwischen kɔrɔ und dɔgɔ, dort, wo der aventurier sich (zeitweise) niederlässt. Kɔrɔ bezeichnet den Älteren, den großen Bruder, den, der sich um einen kümmert und einen beschützt, während dɔgɔ den Jüngeren, den kleinen Bruder bezeichnet, welcher vom Großen lernt, von ihm abhängig ist und ihm dafür Respekt und Folge schuldet. Die Beziehung zwischen kɔrɔ und dɔgɔ ist also vergleichbar mit der oben bereits angesprochenen Beziehung zwischen dutigi und denbaya, nur dass erstere häufig zwischen zwei Personen besteht, wo bei denbaya vom Plural ausgegangen werden sollte und man den Begriff ins Deutsche mit “Kinderschar“ – oder in der Possessivkonstruktion e denbaya, die von Dir Abhängigen mit “die Deinen“ – übertragen könnte. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen kɔrɔ und dɔgɔ kann in der Fremde, zumindest zeitweise, zu einer Zusammenarbeit führen, welche von Pierre Cisse (2009:48) als travail et parenté bzw. travail de tutelle beschrieben wird.

<22> Der Weg, den der aventurier nimmt, wird als route oder chemin beschrieben. Er führt nicht geradewegs vom Ausgangspunkt A zum Ziel B, sondern hat außer dem Ausgangspunkt nur vage Vorstellungen von Möglichkeiten und Optionen als Ziel. Entsprechend häufig sind Umwege, welche jedoch nicht als solche, sondern eher als Abzweige beschrieben werden, die genommen werden, um sich dann doch umzuentscheiden. Die Frage danach, wohin ein aventurier gehe, wird meist mit einem Achselzucken beantwortet. Man spaziert, balader, viel mehr als dass man geht, man macht sich auf den Weg und sieht dann, was sich ergibt, man zieht nicht ins Leere sondern in die große, freie Welt, partir non dans le vide mais dans le libre.

<23> Auf diesen, sich immer wieder kreuzenden, mitunter auch einmal entgegenlaufenden, Wegen trifft der aventurier auf eine Konstante, die seine Bewegung auszeichnet. Es handelt sich um den routier und seinen parantikɛ, Männer, die ihr Einkommen darin finden, den Personen- und Warentransport, transport routier, auf und neben den goudrons, den asphaltierten Hauptstraßen des westafrikanischen Raums, zu garantieren. Der routier ist der Chef, der Fahrer, der sich auf der Strecke auskennt und die Verantwortung trägt. Der parantikɛ, auch appranti, ist seine Aushilfe, ein Jugendlicher oder junger Mann, der in den Beruf eingeführt wird und neben dem Taschengeld, dass er für seine Arbeit erhält, vor allem etwas von der Welt sehen will. Das Selbstverständnis der routiers ist, dass sie chevaliers de la route, Ritter der Straße, und rois de la brousse, Könige des Hinterlandes, sind, die unangefochtenen Chefs außerhalb der Städte, wo sie ihre Freiheit leben. Von außen werden sie einerseits für diese Freiheit und ihren Mut bewundert, sind andererseits aber auch als Opportunisten verschrien, die jede Möglichkeit für trafic, ein halbseidenes Geschäft mit Gütern, welche regulierenden Bestimmungen unterliegen oder ganz verboten sind, ɲamanɲaman, aufgreifen.

<24> Auf die von außen auferlegte Blockade hatte man eingangs mit dem Aufstehen geantwortet, man hatte die Dinge in die Hand genommen und war losgezogen. Dabei lässt sich nicht verstecken, dass innerhalb dieser großen Bewegung, welche das aventure darstellt, immer wieder Phasen der Immobilität existieren. Diese sind zwar auch in den allermeisten Fällen von außen begründet, werden jedoch ganz anders beschrieben als die Ausgangssituation der Mobilität. Zunächst muss dabei festgehalten werden, dass es diese momentanen Unterbrechungen der Bewegung sind, die überhaupt erst die Möglichkeit zum Gespräch zwischen Forscherin und aventurier bieten. Egal, ob auf etwas oder jemanden zu warten ist, ob man sitzt und Tee trinkt oder nach einer Gelegenheit sucht, dass man innehält, um über Optionen nachzudenken, all diese Unterbrechungen der geographischen Mobilität werden von den Gesprächspartnern zum Austausch mit der Forscherin genutzt. Für das aventure jedes Einzelnen noch wichtiger als die Teilnahme an der Forschung, ist jedoch der Umstand, dass diese Momente geographischer Immobilität keines Falls mit der passiven, im Extremfall den Tod herbeiführenden Immobilität von vor dem aventure zu verwechseln sind. Jetzt, einmal unterwegs, handelt es sich um ein taktisches, ein aktives Warten (Canut 2020), ein Bereitsein, fast schon auf dem Sprung sein, être prêt, préparé, sur le point de (re)partir, (Bissell 2007:282; Jeffrey 2010:33). Dieses aktive Warten kann besonders gut an den vielen über die ganze Großregion verteilten gares routières und places, den Busbahnhöfen, beobachtet werden, wo aktiv wartende aventuriers auf ebenfalls aktiv wartende routiers treffen und sich unter sich wie untereinander austauschen. Die Busbahnhöfe können also als Verkehrs- wie Kommunikationsknoten bezeichnet werden und sind als Zentren der Vorbereitung sowohl für die initiale Aufnahme als auch spätere Fortsetzungen eines Mobilitätsprojektes anzusehen.

<25> Dabei ist es wichtig, nicht aus den Augen zu lassen, dass das aktive Warten nicht mit einer akribischen Vorbereitung gleichzusetzen ist. Das Approximative und Unvorhersehbare der gesamten Mobilität wird auch hier regelmäßig betont, wenn der positive Ausgang eines aktiven Wartens damit beschrieben wird, man habe sein Glück getroffen, rencontrer sa chance, oder es habe sich eine Gelegenheit ergeben, die man beim Schopf gefasst habe, saisir l’opportunité quand elle se présente.

 

Aventure – Definitionsversuche

<26> Über die langanhaltenden Gespräche versuchen sich einige Gesprächspartner neben den ausführlichen Beschreibungen auch an kürzeren Definitionen des aventure. Dabei wird das aventure von ihnen zuerst ethnisch verankert, indem sie von Soninkémännern als einer Art “natürlicher aventuriers“ sprechen. Diese Formulierung hört man in Mali vor allen Dingen von außerhalb, vereinzelt aber auch innerhalb der Gemeinschaft der Soninke. Hintergrund dieser Aussage ist, dass seit Generationen von jungen Soninkemännern an der Schwelle zum Erwachsenenleben stehend erwartet wird, zu einer Art Wanderjahre aufzubrechen, bevor sie sich in ihrer Heimat niederlassen und eine Familie gründen (Gaibazzi 2015). Erzählt wird diese Mobilität von außen als eine sich an einem innerethnischen Netz ausrichtende, zu welchem Zugehörige anderer Ethnien als Außenstehende keinen Zugang habe, weshalb sie sich selbst durchschlagen müssen, bis sie ein eigenes Netzwerk aufgebaut haben. Vor diesem historischen Hintergrund von den Wanderjahren junger Soninkemänner, definieren aventuriers das aventure heute als einen Dreiklang aus Männlichkeit, Jugend und Armut und als etwas für die mandingsprachigen Regionen, besonders Mali, typisches: Sortir aller dans l’aventure-là, c’est, les Maliens-mêmes avec ça, on dirait c’est dans le sang d’un Malien (Pascal). “Ins Aventure aufbrechen, ist für Malier, man könnte sagen, dass es im Blut eines Maliers liegt.“

<27> Wie der generische Begriff Migration auch, wird das aventure häufig als eine Männersache, une affaire des hommes, angesehen und dargestellt (vgl. Göttsche 2015:123), obwohl es durchaus auch Frauen gibt, die ins aventure aufbrechen. Tatsächlich ist aber bis heute die Anzahl an Frauen, welche im Rahmen von familiären Migrationsbewegungen und damit mit dem präzisen Ziel, einen Verwandten zu besuchen oder einem solchen zu folgen, unterwegs sind, deutlich höher, als die jener, welche sich mit dem Antrieb ihr persönliches Glück zu finden alleine auf den Weg machen.

<28> Der zweite häufig genannte Aspekt des aventure ist, dass es von Jugendlichen betrieben wird, une affaire des jeunes; wobei sich der Begriff des Jugendlichen, wie oben bereits erwähnt, vor allem auf jene bezieht, die an der sozialen Schwelle zum Erwachsenenalter stehen. Das aventure könnte also als eine Liminalitätserfahrung, ein rite de passage, Übergangsritus, verstanden werden, den man von sich aus sucht (s.a. Göttsche 2015:123; Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:8). Dieser Umstand, dass der Jugendliche selbst die Entscheidung trifft, das bequeme Leben eines Kindes, für das gesorgt wird, hinter sich zu lassen, und die Verantwortung eines erwachsenen Mitgliedes der Gesellschaft zu übernehmen, sorgt dafür, dass ihm, entgegen der sonst üblichen Zurückhaltung jungen Leuten Geld anzuvertrauen, von der Großfamilie häufig für das Projekt eines aventure nicht unerhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Dies sorgt für einen beflügelten Start, verstärkt aber gleichzeitig auch juru, die Bindung an die Familie und die Schuld ihr gegenüber, welche der Jugendliche zeit seines Lebens abzuleisten hat. Mit der Rückkehr aus dem aventure ist der Übergang aus der Jugend ins Erwachsenendasein gemacht, man ist bereit, sich zu etablieren, das heißt einem festen Beruf nachzugehen, zu heiraten und eine Familie zu gründen und zu ernähren und (finanzielle) Verantwortung gegenüber der Großfamilie zu übernehmen.

<29> Auch wenn viele aventuriers von der Verwandtschaft Geld erhalten haben, um ins aventure aufbrechen zu können, wird diese Art der Mobilität in einem dritten Schritt trotzdem als eine Sache von armen Menschen beschrieben, une affaire des pauvres. Diese Überlegung findet ihren Widerhall darin, dass das aventure ins Bambara mit taama, “Reise“ aber auch “gehen“ und “das (Weg-)Gehen“ übersetzt wird; der aventurier ist taamaden, von taama und den, “Kind“ und “Derjenige der etwas tut“. Weiter betont werden kann diese Bewegung ohne Hilfsmittel, indem von dugumataama, also einer Reise über die Dörfer, auf dem Boden, und von dugumasira, la route par en bas, gesprochen wird. Hier wird sprachlich das Zufußgehen mit Armut gleichgesetzt, was grundsätzlich von Forschern bestätigt wird (Diaz Olvera, Plat, Pochet 2002; Diaz Olvera & Kane 2002), wobei festzuhalten ist, dass die im Zusammenhang mit dem aventure beschriebene Armut relativ ist: Einerseits haben wirklich reiche Personen eine Migration, egal ob in Form eines aventure oder anders, nicht nötig, weil sie sich internationale Bewegungen in Form von (Flug-)Reisen leisten können. Andererseits sind wirklich arme Personen auch nicht unter den aventuriers zu finden, da sie sich ob der Bestreitung ihres Lebensunterhaltes derart unsicher sind, dass sie keinerlei auch noch so bescheidene Mittel für ein aventure zur Seite legen können und deshalb gar nicht erst über ein solches Projekt nachdenken, geschweige denn es aktiv anzugehen.

<30> Um sich einer Definition des aventure weiter zu nähern, kann man es von anderen Migrationsbewegungen aus dem frankophonen afrikanischen Raum abgrenzen. Dies macht beispielsweise mein Gesprächspartner Ibrahim, wenn er sich an einer Stelle unseres Austausches nicht nur als Abenteurer bezeichnet, sondern auch von verbrennen und Kampf spricht: Je suis aventurier, brûleur, j’ai fait le combat! Als brûleur werden jene beschrieben, welche von Nordafrika aus in Richtung Europa aufbrechen und die Grenzen und mitunter auch ihre Pässe verbrennen, harga (arab.), während mit combat die erfolgreiche Überquerung des Mittelmeers bezeichnet wird. Als aventurier bezeichnet Ibrahim sich, bevor er in Nordafrika zum brûleur wird, um dann, in Europa angekommen, von seinem combat zu berichten. Der Begriff des aventure bezieht sich für ihn, wie für viele andere auch, also in erster Linie auf Bewegungen auf dem afrikanischen Kontinent.

<31> Aus den unterschiedlichen Gesprächen hallen einige französische Begriffe und Formulierungen (in kursiv) besonders nach, die häufiger zur Beschreibung des aventure genutzt werden als andere, was in Summe zu folgender Arbeitsdefinition führt:

 

L’aventure, c’est sortir, chercher son bonheur – avant tout financier –, soutenir la famille à la maison, faire des économies pour un mariage future et un business envisagé, mais aussi se balader, vivre son indépendance de la grande famille et de la société, et puis, un beau jour, retourner et s’établir.

Das westafrikanische Abenteuer bedeutet hinauszugehen, sich auf die Suche nach seinem – vor allem finanziellen – Glück zu machen, seine Familie zu Hause zu unterstützen, etwas zur Seite zu legen für eine spätere Hochzeit und ein geplantes Business, ein professionelles Projekt. Es bedeutet aber auch zu flanieren, seine Unabhängigkeit von Großfamilie und Gesellschaft zu leben, um eines schönen Tages zurückzukommen und sich niederzulassen.

 

<32> Durch diese Definition grenzt sich das aventure von der Reise, voyage, ab, die, obwohl ebenfalls mit taama ins Bambara übersetzt, als internationales déplacement, “geografische Abwesenheit“, verstanden wird. Voyage und déplacement werden als Bewegungen mit einem im Vorfeld fixierten Ziel und von meist relativ präziser Dauer beschrieben, während das aventure beides im Vagen und dem Zufall überlässt.

 

Die Frage der Ankunft in einer Gast-Gesellschaft

<33> Unter dem Wortspiel Quel accueil en société d‘accueil? widmet sich ein größeres Kapitel der Dissertation der Frage nach Ankunft und Aufnahme in den Gast- bzw. Aufnahme-Gesellschaften. Das Wortspiel basiert rein auf dem Französischen Begriff accueil, “Aufnahme“ und “Willkommen“; im Bambara gibt es keinen generischen Begriff für die Gesellschaft, in die man reist, es wird höchstens der präzise ethnische, nationale, religiöse oder sonstige Sammelbegriff genutzt. Trotzdem hat das Wortspiel in seiner Formulierung als Frage seinen Platz in der Arbeit, denn die aventuriers erzählen vielerlei unterschiedliche Episoden, welche auf eine schlechte bis nicht existente Aufnahme ihrer selbst im Ausland hindeuten. Da ist zum einen der Umstand, regelmäßig kriminalisiert zu werden, was Eingang in Stereotype über Nationalitäten und Ethnien findet, welche überregional verbreitet werden. Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung malischer routiers als willfährige Gehilfen für den Drogentransport im Senegal, wobei der Fokus des Diskurses darauf liegt, dass malische Männer für ein Liebesabenteuer zu allem bereit seien. Ein anderes Beispiel ist das der rétrécisseurs de sexe, der Unterstellung, Nigerianer würden Männern im frankophonen Westafrika den Penis stehlen, um ihn dann gegen teure Medizin wiederkehren zu lassen. Mit solcherlei kriminalisierenden Erzählungen geht häufig eine weitere abwertende Beschreibung einher: der sogenannten question de civilisation (s. Taussig 1984). Es handelt sich hier darum, den Anderen als weniger bis gar nicht zivilisiert darzustellen, wobei der Begriff der Zivilisation nicht unbedingt mit einem sogenannten westlichen Lebensstil gleichzusetzen ist. Vielmehr geht es hier meist um eine Abgrenzung der Stadt vom Umland, arrière-pays oder brousse (s. Masquelier 2019; Jackson 2002; Gervais-Lambony & Landy 2007), und um nationale und regionale Zugehörigkeiten, wobei die aventuriers immer aus den “weniger entwickelten“, sous-developpés, Regionen und Ländern kommen (s. Schmitz 2008:8). Für eine solche Abwertung werden Dinge, um die es aus Sicht der gastgebenden Gesellschaft in einer anderen Region im Argen zu stehen scheint, mit den Personen dieser Region gleichgesetzt und ihnen zur Last gelegt; egal ob es sich dabei um Müll auf den Straßen, einen Krankheitsausbruch, übergroßen Kinderreichtum oder einen dunkleren Phänotypen handelt. Im Extremfall wird aus dem Absprechen von Zivilisation ein Abschreiben von Menschlichkeit und eine damit einhergehende Neuzuschreibung von animalischen Eigenschaften, eine Animalisierung. Dies findet seinen Ausdruck in Beleidigungen wie Parasit, Affe, Hund, Biene oder auch Ratte. Obwohl die Fremden so herabgewürdigt werden, findet häufig trotzdem eine gleichzeitige Darstellung als Konkurrenz und Last für die Gesellschaft dar. Von hier ist es nicht mehr weit bis zum offenen Aufruf, teilweise durch die politische Führung eines Landes oder einer Region, Ausländer aufzugreifen und eigenhändig aus dem Land zu werfen. Wenn diese Option von den Betroffenen als unausweichlich empfunden wird und nur noch der Zeitpunkt unsicher zu sein scheint, sprechen Nicholas De Genova (2002), Johannes Machinya (2020) und andere von deportability. Dergestalt eingeschüchtert und offen diskriminiert, berichten viele aventuriers von Anderen, welche ihr Bewegungsmoment verloren haben und sich dort, wo sie gerade sind, in sich zurückziehen, um in nun passiv wartender Haltung zu verharren. Statt aktiv zu warten befinden sie sich wieder in der eingangs beschriebenen von außen auferzwungenen Immobilität, welche als lebensgefährlich empfunden wird.

<34> Warum also nicht heimkehren, retourner, zumal, wenn die Rückkehr von vorneherein als das langfristige Ziel angesehen wurde? Getreu dem Motto, man müsse bis zum Ende Herr seines Abenteuers sein (Bredeloup 2008:301), reicht es nicht, heimzukehren, wenn man es, wie im Fall inaktiven Wartens, in der Fremde nicht mehr aushält. Obwohl wissenschaftlich relativ wenig beschrieben, ist die erfolgreiche Rückkehr aus dem aventure integraler Bestandteil dessen. Dies bedeutet, dass selbst wenn man die Taschen nicht voll Geld haben kann, man doch auch nicht mit leeren Händen nach Hause kommen sollte. Man weiß schließlich genau, dass nicht zuletzt jene, welche einem den Aufbruch finanziell ermöglicht hatten, erwarten, mit Zins und Zinseszins ausgezahlt zu werden; juru.

<35> Das Geld, das der Heimgekehrte unterwegs zur Seite gelegt hatte, ist jetzt das Maß, an welchem über seinen Erfolg entschieden wird. Kann er die Großfamilie miternähren? Hat er genug gespart, um endlich zu heiraten? Kann er sich eine berufliche Karriere aufbauen und nach Möglichkeit Jüngere nachziehen? Kann er Jüngeren den Aufbruch ins aventure ermöglichen? All diese Fragen wollen zumindest vorläufig mit “Ja“ beantwortet werden, damit Familie und Gesellschaft das aventure als gelungen und den ehemaligen aventurier als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ansehen werden. Sollte dem nicht so sein, was häufig genug der Fall ist, gelten aventure und aventurier als gescheitert, échec, was laut und deutlich formuliert und in Form vielfältiger pejorativer Bezeichnungen an den Betroffenen herangetragen wird: mal revenu, maudit, aventurier raté. So fällt es vielen aventuriers schwer, den Punkt zu finden, an dem sie sich siegessicher auf den Heimweg machen können. Stattdessen treibt die Angst, das aventure könne als mesaventure ausgelegt werden, wenn die eigene Familie in der Heimat in der Zwischenzeit mehr zustande gebracht hat als man selbst, den Einen oder Anderen dazu, die Heimkehr immer wieder hinauszuzögern. Gelegentlich klingt in den Gesprächen auch die Überlegung an, es der sogenannten alten Garde gleichzutun; jenen aus vorherigen Generationen des aventure, welche es vorgezogen hatten gar nicht, statt erfolglos heimzukehren, retourner avec succès ou ne pas revenir du tout.

 

Und ihre Beantwortung in Taten

<36> Unterwegs werden von den aventuriers eine Reihe von Taktiken angewendet, um trotz schlechter Aufnahme in der Ferne zurecht zu kommen. Exemplarisch handelt es sich darum, still, muet, und unsichtbar, invisible, zu werden, um nicht durch Sprache und Aussehen aufzufallen, und im Extremfall anonym zu werden, bis man verschwinden kann, disparaître. Letzteres bedeutet, alle Brücken hinter sich abzubrechen, die eigene Identität zu verschleiern und sich beispielsweise auf dem Weg übers Mittelmeer der Papiere zu entledigen, um keine Heimat mehr zu haben, in welche man abgeschoben werden könnte. Weniger extrem ist die Taktik, sich in der Fremde zusammenzutun und die eigene(n) Sprache(n) als Geheimsprache(n) zu nutzen, oder zu versuchen, in der Aufnahmegesellschaft hohe Kontakte, zu grands types, zu knüpfen, welche einen beschützen können. Eine Variante hiervon wird vor allem malischen routiers nachgesagt: Multiplier les têtes de pont. Viele Brückenköpfe zu bilden bedeutet in den unterschiedlichen Regionen und Ländern, wo man regelmäßig hinfährt, eine Frau zu heiraten, um deren Familie als Rückhalt und Unterstützung zu gewinnen. Ebenfalls wird berichtet, dass es immer wieder Menschen gibt, die auf die Kriminalisierung, welche sie in der Fremde erfahren, reagieren, indem sie tatsächlich kriminell werden. Diese Taktik wird auch als manière des routiers bezeichnet, als ihre spezielle Art, die meist mit ka pan ni dɔ ta ye fo ka tunun, “mit den Sachen eines anderen durchbrennen und verschwinden“, beschrieben und anekdotisch belegt wird.

<37> Um sich vor Repressalien zu schützen und so weit wie möglich akzeptiert zu werden, setzen aventuriers zusätzlich zu den hier beschriebenen Taktiken auf die Grundhaltung, ihr aventure als Zeit anzusehen, in welcher die eigene Würde nicht als oberstes Gebot anzusehen ist. So machen sie sich im Ausland häufig unersetzlich, indem sie Arbeiten übernehmen, welche sie in der Heimat kategorisch abgelehnt hätten, und von welchen sie Mitgliedern der eigenen Gesellschaft nicht erzählen möchten. Diese Arbeiten können solche sein, welche in der Heimat einer bestimmten Kaste zugeschrieben sind (Cisse 2009, Pelckmans 2013), aber auch solche, welche als nieder, schmutzig und unwürdig gelten und mitunter als “slave-like“ (Jónsson 2008:19) beschrieben werden.

<38> Zusätzlich zu diesen allgemeinen, geschlechtsneutralen Taktiken wurde eine weitere, diesmal inhärent weibliche Taktik beschrieben, welche auf die für Frauen schwieriger zu überquerenden Grenzen innerhalb der CEDEAO antwortet. Da an diesen Grenzen, die mit einem Personalausweis überquerbar sind, Frauen häufig nach dem Einverständnis des Mannes, welcher im Personalausweis vermerkt ist, gefragt werden, existiert die Praxis der sogenannten Adoption eines Ehemannes, adopter un mari. Dies bedeutet, dass man sich einen Mann sucht, welcher mit dem im Ausweis stehenden Ehemann den Nachnamen teilt, um in dessen Begleitung die Grenze zu überqueren. Der augenscheinlich aus der Schwiegerfamilie stammende Mann kann für den Ehemann stehen, weshalb dieses Einfallstor für Belästigung durch Uniformträger fürs Erste geschlossen ist.

<39> Natürlich sind all diese Taktiken nicht ohne Risiko und es wird von vielen Begebenheiten berichtet, an denen eine solche Taktik schief gegangen ist. Dabei wird aber immer wieder betont, dass das Scheitern oder Glücken des Abenteuers, egal ob und wie stark man abgesichert war, immer ein persönliches Scheitern oder Glücken ist (vgl. Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:25). Gleichzeitig betonen die Gesprächspartner, dass die Bewertung ihres aventure nicht in Stein gemeißelt ist, sondern bei jedem und durch jedes neuerliche Erzählen durch die Zuhörerschaft erneut auf den Prüfstand gebracht wird. Ob das eigene Abenteuer ein geglücktes war, liegt also am Verhandlungs- und Erzählgeschick des zurückgekehrten und nach seinen Erfahrungen gefragten aventurier.

 

Fazit oder rückwirkende, allgemeinere Definition

<40> Der Eigenbezeichnung meiner Gesprächspartner als aventuriers folgend, beschreibe ich ihre Migrationsbewegungen als Abenteuer, aventure. Dieser Ansatz mag auf den ersten Blick wie mangelnde analytische Distanz wirken. Wie passend diese Bezeichnung dabei ist, lässt sich jedoch hervorragend durch eine Zusammenführung dieses speziellen aventure mit anderen Nutzungskontexten des Begriffes untermauern. Die sich hierdurch ergebende abstrakte Darstellung des Abenteuers lässt sich zusätzlich anhand von in (literatur-)wissenschaftlichen Arbeiten verankerten Definitionen verifizieren. Dies soll im Folgenden in aller Kürze geschehen, um auch über den ethischen Ansatz der Koproduktion von Wissen hinaus, eine wissenschaftliche Rechtfertigung für die Begriffsnutzung darzustellen.

<41> Die Übernahme des Begriffes Abenteuer für die westafrikanischen Migrationserfahrungen meiner Gesprächspartner ruft eine Reihe Assoziationen wach, mit anderen Situationen, in welchen der Begriff Abenteuer mit dem afrikanischen Kontinent verknüpft wird. Dabei handelt es sich vornehmlich um touristische Aktivitäten und ihre Bewerbung, frühe Berichte und Erzählungen historischer Forschungs- und Entdeckungsreisen sowie um Kinderromane. Aus diesen zugegebener Maßen recht unterschiedlichen Aspekten lässt sich nachträglich eine allgemeinere Definition des Abenteuerbegriffes zusammenstellen, welche Widerhall in der wissenschaftlichen Literatur findet.

<42> Um von einem Abenteuer sprechen zu können, braucht es zunächst als erstes zentrales Element den Aufbruch aus dem Bekannten ins Fremde; meist handelt es sich um eine geografische Bewegung in Form einer Reise. Diese Reise wird bewusst angetreten, aus mehr oder minder eigenem Antrieb, wobei die Flucht vor einer Situation durchaus als eigener Antrieb gelten mag. Finanziell erfolgt die Bewegung auf eigene Faust und Rechnung, wobei eine gewisse Form der (finanziellen) Absicherung gegeben sein kann (Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:25). Allgemein kann die Bewegung als un- bzw. wenig verbindlich geplant beschrieben werden, da Inhalt und Gestaltung im Vorfeld nicht oder nur bedingt absehbar sind, was der Zuversicht des Abenteurers, der sich auf den Zufall und auf sein persönliches Glück verlässt, jedoch keinen Abbruch tut (Simmel 2017:175). Als zweites zentrales Element muss, zu einem meist nicht genau definierten Zeitpunkt, eine Rückkehr aus der Fremde erfolgen: “In einem viel schärferen Sinne, als wir es von den anderen Formen unserer Lebensinhalte zu sagen pflegen, hat das Abenteuer Anfang und Ende“ (Simmel 2017:169). Diese Rückkehr gibt dann die Gelegenheit zum dritten zentralen Element des Abenteuers: über die getane Aktivität zu berichten. Erst durch diese (retrospektive) Erzählung und (nachträgliche) Bewertung wird eine sonst profane, banale Reise zu einem Abenteuer (Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:7; 31). Sartre formuliert dies in La Nausée folgendermaßen: “[P]our que l’événement le plus banal devienne une aventure, il faut et il suffit qu’on se mette à le raconter“ (Sartre, La Naussée).

<43> Zusammenfassend stellt sich das Abenteuer dar als ein Dreiklang aus einem mit Risiko verhafteten Aufbruch in die Ferne beziehungsweise ins Unbekannte, einer späteren Rückkehr in die eingangs verlassene Ordnung (s. Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:22; s.a. Nerlich 2022) und der retrospektiven Erzählung des Geschehenen (Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:13; Roth 2013:79-80), wobei es unerheblich ist, in welcher Form diese Erzählung stattfindet (Eming & Schlechtweg-Jahn 2017:7); ob als veröffentlichtes Buch oder als Gespräch mit einer Doktorandin.

 

 

Abkürzungsverzeichnis

bzw.

beziehungsweise

CEDEAO

Communauté économique des États de l’Afrique de l’Ouest

DWDS

Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache

TLFi

Trésor de la Langue Française informatisé

 

 

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[1]         Die Dissertation war teilfinanziert durch ein a.r.t.e.s. EUmanities-Stipendium, welches wiederum unter Marie Skłodowska-Curie grant agreement No 713600 vom EU-Programm Horizon 2020 teilfinanziert war.

[2]      https://www.dwds.de/wb/Abenteuer [14.11.2023].

[3]      “Abenteuer“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, < https://www.dwds.de/wb/etymwb/ Abenteuer> [14.11.2023].

[4]      http://stella.atilf.fr/Dendien/scripts/tlfiv5/advanced.exe?8;s=952608090 [14.11.2023].

[5]      http://stella.atilf.fr/Dendien/scripts/tlfiv5/advanced.exe?8;s=4278232155 [14.11.2023].

[6]      https://www.dwds.de/wb/Aventurier [14.11.2023].

[7]      https://www.ardmediathek.de/sendung/abenteuer-wildnis/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdFNlcmllcy9iNjM1MTgyYS00NGEzLTRmYTktYThmNi0xMDM4MjJlNjI4 Nzc

[8]      Eine grundsätzliche Verknüpfung von Abenteuer mit Reise wird in der Literaturwissenschaft beispielsweise von Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin (1999) hergestellt.