Eugène Hurel. Tales,
Fables and Narratives of Rwanda. Imiganí y’ú Rwaanda, transcribed in the
scientific notation for Kinyarwanda and translated into English and German by
von Matthias Brack, Leo Sibomana and John Doldo IV. Rüdiger Köppe
Verlag, Köln. ISBN 978-3-89645-743-1, 415 pages, 49,80 €.
Sigrid Schmidt
Rezension
<1> Das
vorliegende Werk ist eine völlig neu bearbeitete Ausgabe der 1922, also vor mehr
als hundert Jahren, erschienenen Sammlung des belgischen Missionars Eugène Hurel
La poésie chez les primitifs ou Contes, fables, récits et proverbes du
Rwanda (Lac Kivu). Hurel hatte die Märchen, Fabeln und Erzählungen zwischen
1908 und 1919 in Ruanda in der Landessprache Kinyarwanda niedergeschrieben und
ins Französische übersetzt. Die Texte sind damit die ältesten Aufzeichnungen
ruandischer Volksüberlieferungen und schon als historisches Zeugnis von großem
Wert. Die Herausgeber Matthias Brack, Leo Sibomana und John Doldo IV bringen
die Originaltexte in der heutigen gängigen Orthographie des Kinyarwanda auf der
linken Buchseite und konfrontieren diese paragraphenweise mit englischen
Übersetzungen auf der rechten Buchseite. In einem weiteren Buchteil folgt dann
eine deutsche Übersetzung des neuen Vorworts und aller Texte. Auf eine Wiedergabe
der französischen Version wurde verzichtet, ebenso auf Hurels veraltete und
rassistische Einleitung und seine Sprichwort-Beispiele.
<2> Die
Herausgeber geben in einer großen Zahl von Fußnoten kulturelle, ethnographische
und historische Erläuterungen, ebenso zu möglichst vielen Namen. Damit führen
sie die Leser gut in den allgemeinen Hintergrund der Texte ein.
<3> Die
40 Erzählungen des Bandes sind von einer erstaunlichen Vielfältigkeit. Die
Märchen nehmen dabei einen breiten Raum ein. Wie zu vermuten, sind auch
allgemein im Bantu-Sprachgebiet verbreitete Märchen hier bezeugt: Nr. 1
behandelt das Thema vom schönen Mädchen. Eine Mädchengruppe fragt alle Leute,
denen sie begegnen, wer die Schönste von ihnen wäre; alle nennen die Heldin. In
dieser ruandischen Variante verprügeln die neidischen Kameradinnen die Heldin,
in den anderen aber töten sie sie (KH 982). Das europäische Gegenstück zu
diesem Drama um Neid wegen großer Schönheit ist Schneewittchen.
<4> Nr.
10 wird weithin in Afrika erzählt. Ein Mädchen, das zunächst alle Freier
ablehnt oder unerfüllbare Bedingungen stellt, heiratet überstürzt einen
Fremden, folgt ihm zu seiner Familie und erkennt dort, dass der schöne Mann
eigentlich Hyäne, Löwe oder Totengeist ist, der sie fressen will (KH *906A).
Ein Vergleich der Varianten zeigt aber, wie verschieden die Akzente gesetzt
werden. Vielfach gilt die Geschichte als Warngeschichte für junge Mädchen, in
Westafrika vor den Folgen, wenn sie sich selbst einen Mann aussuchen und den
von der Familie ausgewählten ablehnen. Oft stellen die heiratsunwilligen
Heldinnen dieser Geschichten für die Freier unerfüllbare Bedingungen, die
ruandische, dass er beim Sprechen Perlen ausspucken muss. Alle Unholde, die Menschengestalt
angenommen haben, finden Auswege, sie zu erfüllen. Häufig wird dann die Flucht
aus dem jenseitigen Bereich zum spannenden Höhepunkt.
<5> Nr.
13 ist, wie so häufig in Märchen, ein Drama im Familienbereich. Die Stiefmutter
hasst ihre Stiefkinder. Sie verhext den Sohn. „Er fiel in die Kindheit zurück.“
Nun unternimmt sie Mordanschläge auf die Tochter. Der Bruder hat aber genug
geistige Fähigkeiten behalten, um die Machenschaften der Stiefmutter zu
erkennen und die Schwester heimlich zu warnen: vor dem Gift im Essen, den
Nadeln im Sitzkissen und dem Angriff in der Nacht. Die Schwester tauscht darum
Kleidung und Schlafplatz mit der Stiefschwester, und die böse Stiefmutter
ersticht das eigene Kind – das berühmte Motiv, das vor allem aus dem Märchen
vom Däumling und seinen Brüdern beim Menschenfresser weltweit bekannt ist (KH
968; ATU 327B).
<6> In
Nr. 15 ist ebenfalls das zentrale Thema: Mordanschläge durch einen
Familienangehörigen. Die Großmutter hat, um von einer Hyäne einen
Rinderschenkel zu erhalten, ihr ihren Enkel zum Fressen versprochen. Sie
erklärt der Hyäne: Sie würde den Jungen zum Wasserholen schicken, dort könne
sie ihn an seinem beschädigten Krug erkennen. Der Junge lässt alle Kameraden
ihren Krug beschädigen, so dass die Hyäne ihn nicht erkennen und greifen kann.
Ebenso geht es mit einer ganzen Reihe von weiteren Erkennungszeichen. Im
Gegensatz zu Nr. 13 hat der Junge keinen Helfer, der warnt, sondern handelt als
richtiger Märchenheld genau, wie es die Situation erfordert. So kann er
schließlich den Strick, den die alte Frau ihm um den Hals gebunden hat, ihr
selbst um den Hals legen, und die Hyäne schleppt die alte Frau fort. In Namibia
ist die böse Frau eine Mutter, die ihren Sohn dem Teufel versprochen hatte (KH
969).
<7> Nr.
14 bietet wieder die beliebte Konstellation Bruder – Schwester – Stiefmutter.
Jedoch klingt im Hintergrund wesentlich stärker das geheimnisvolle Märchenhafte
an. Die Stiefmutter stopft das gefesselte Mädchen in einen Brotkorb und gibt
Twa-Männern einen Stier, damit sie den Korb hoch in einen Baum hängen. Die
Familie sucht das Mädchen vergebens. Als der Bruder die Kühe am Fluss tränkt,
ruft das Mädchen und fragt nach bestimmten Kühen. Typisch märchenhaft wird das
gesteigert. Am ersten Tag hört er das Rufen nicht, dann hält er es für einen
Vogelruf, am dritten Tag entdeckt er den Brotkorb. Er gibt Twa-Männern einen
Stier, und mit ihrer Hilfe wird der Brotkorb herunter gehievt und die Schwester
befreit. Sie ist auf der einen Seite schon verwest. Das heißt, sie ist wie
Schneewittchen getötet, aber etwas Lebenskraft dieses jungen Menschen ist
erhalten geblieben. Der Baumwipfel ist hier Bild für das Totenreich, das
Jenseitsreich. Die namibischen Varianten sprechen das deutlicher aus. Die Worte
des Mädchens im Baum, die die Menschen für Vogelruf halten, werden in Namibia
gesungen. In ähnlichen afrikanischen Märchen bilden solche gesungenen Worte den
Kern und den Wendepunkt des Märchens. Nun setzt die Rückholung der Heldin ins
Diesseits, ins Leben, ein. Im namibischen Märchen gelingt es endlich dem Kalb
der Heldin, zu ihr in den Baumwipfel zu springen. Menschen konnten nicht ins
Jenseitsreich dringen, aber das Tier. Vielleicht erinnert der Stier, der in der
ruandischen Variante zweimal bei der Bezahlung der Twa-Männer erwähnt wird, an
ähnliche Helfer-Rollen (KH 976A).
<8> Besonders
gut erzählt ist Nr. 6, die Geschichte vom Schlangenmenschen. Eine Frau bringt
anstelle eines Kindes eine Schlange zur Welt. Die Eltern bringen es nicht übers
Herz, sie zu töten, und die Schlange wächst im Wald heran. Eines Tages
beauftragt die Schlange einen Brennholz sammelnden Diener ihres Vaters, der
Vater solle um eine der Töchter einer bestimmten Familie für sie als Braut
werben. Der Vater geht nun mit Vieh als Brautgut zu der gewünschten Familie,
aber die Töchter weigern sich, eine Schlange zu heiraten. Die jüngste Tochter
willigt endlich ein. In der Hochzeitsnacht schlüpft ein Mann aus der
Schlangenhaut hervor; er ist nun bei Tag Schlange, in der Nacht Mensch. Während
der Mann schläft, verbrennt die junge Frau die Schlangenhaut, und er bleibt für
immer Mensch. In dieser Form wurde die Geschichte schon im Mittelalter in
Indien erzählt und recht ähnlich später in Ost- und Südafrika. Ganz modern ist
sie ans heutige namibische Leben angepasst. Die Schlange, die vor der
auserwählten Braut noch ihre Schlangengestalt verbergen will, unterhält sich
mit ihr über die Sprechanlage des elterlichen Hauses! (Schmidt 1999, Vol. 7 Nr.
2; KH 1051; ATU 433B)
<9> Nr.
23 ist ein gutes Beispiel für afrikanische Tierhelfer-Märchen. Der Held ist ein
armer Fallensteller. Jedes Tier, das er in seiner Falle vorfindet, bittet: „Ruteganeza,
Sohn des Tegera, edler Fallensteller! Rusizi, der das Gute fing, und das
Schlechte wird übrigbleiben! Gib mich frei, damit ich gehen kann!“ Auf diese
formelhafte Bitte hin lässt er eines nach dem anderen wieder frei: Maulwurf,
Schlange, Blitz, Windböe, Madenhacker-Vogel, Spinne und Fliege. Dann heiratet
der Fallensteller die Tochter von der Herrin der Unterwelt, und nach einem
Streit flieht seine Frau heim zu ihrer Familie. Der Fallensteller zieht aus,
sie zurück zu holen. Die sieben aus der Falle freigelassenen Wesen helfen, den
Weg zu finden (der Blitz spaltet den Felsen) oder Aufgaben auszuführen (die
Spinne hüllt den Korb in ein so dichtes Netz, dass er im Korb Wasser holen
kann). Die Fliege schließlich hilft die letzte Aufgabe zu lösen, nämlich die
Frau unter völlig gleich aussehenden Frauen zu erkennen: sie setzt sich der
Ehefrau auf die Stirn, das beliebte Abschluss-Motiv in diesem Märchenkreis (ATU
313; 554).
<10> Nr.
27 spielt hingegen im Himmel, wie auffällig viele afrikanische Märchen. Der
Blitz hat die Kühe von den Tierchen – von Frosch, Fliege, Spinne, Maulwurf und
Ameise – gestohlen. Die Tierchen beschließen, sie vom Blitz aus dem Himmel
zurück zu holen. Die Spinne spinnt einen Faden, an dem sie in den Himmel
steigen können, und der Maulwurf durchbohrt oben einen den Weg versperrenden
Felsen. Der Blitz bietet ihnen ein Zimmer als Unterkunft an. Die Fliege
belauscht die Mordanschläge des Blitzes und setzt sich dazu auf die Nase des
Blitzes. Sie warnt die anderen Tierchen, nicht den vergifteten Wein zu trinken
und das vergiftete Essen zu essen. Der Maulwurf kann rechtzeitig eine Höhle
unter dem Haus als Unterschlupf schaffen, als der Blitz nachts ihr Haus
abbrennen lässt. Als dann die Ameise im Ohr des Blitzes ihn unerträglich beißt,
gibt der Blitz auf. Die Tierchen ziehen mit ihren Kühen und weiteren Kühen als
Wiedergutsmachung am Spinnenfaden heim.
<11> Das
weithin in Afrika bekannte Gegenstück zu Der
Wolf und die sieben Geißlein (KHM 5) ist hier sogar in zwei verschiedenen
Formen dokumentiert, Nr. 5 und Nr. 30. In Nr. 5 versucht eine Mutter ihr
Kleinkind vor einem Unhold zu verbergen und meldet sich erst, wenn sie sich
nähert, durch besondere Worte oder ihr Lied. Der Unhold imitiert die Stimme,
das Kindchen meldet sich, und der Unhold frisst es (cf. KH 853). In der anderen
Version, Nr. 30, leben Bruder und Schwester allein in einer gefährlichen
Gegend. Die Schwester bleibt im verschlossenen Haus und öffnet dem Bruder, der
jagen und für Essen sorgen muss, nur, wenn er sich mit bestimmtem Ruf oder Lied
meldet. Ein Biest belauscht ihn, versucht ebenso zu rufen oder zu singen, aber
die Schwester erkennt die fremde Stimme und öffnet nicht. Das Biest lässt sich
eine andere Stimme machen, die Schwester fällt darauf herein und öffnet die
Tür. Ab diesem Punkt nehmen die Märchen-Varianten recht verschiedenen Verlauf
(cf. KH 855). Diese Variante geht in ein allgemeines Oger-Abenteuer über. Der
Bruder schlägt das Biest nieder und schneidet auf dessen Wunsch dessen kleine
Zehe und kleinen Finger ab und zieht die verschlungene Schwester lebendig
heraus. Der Märchenkomplex ist schon wegen seines hohen Alters von großem
Interesse; denn schon Äsop hatte ihn in einer Fabel behandelt.
<12> Nr.
3 beginnt mit der bösen Stiefmutter, welche die Heldin nicht mit den anderen
Mädchen zu Imana gehen lässt, um sich von ihm neue Zähne machen zu lassen.
Darum muss sie später allein gehen. Imana = Gott schenkt ihr außer den sehr
schönen Zähnen große Schönheit und Kleidung, aber gibt das Verbot, dass sie nie
lachen oder lächeln dürfe. Sie heiratet und hat zwei Söhne. Aber obwohl die von
der Großmutter angestachelten Söhne drohen: „Lächle für mich, sonst weine und
sterbe ich!“ lächelt sie nicht, und die Söhne sterben tatsächlich. Als ihre
Tochter drei Jahre alt ist, geht sie mit dem kleinen Mädchen an die Gräber
ihrer Söhne und betet zum Gott von Ruanda, ihr das Kind zu lassen, sie hätte
nie gegen sein Verbot verstoßen. Imana kommt mit den wiederbelebten Söhnen und
vielen Geschenken als Belohnung für das Durchhalten. Diese zentrale Szene, in
der das erste, dann das zweite Kind sterben und auch das dritte Kind kurz davor
ist zu sterben, und gerade im letzten Augenblick die überirdische Macht
erscheint, um Kinder und Heldin zu retten, entspricht der Szene im
Marienkind-Märchen (KHM 3), in der die Heldin eisern schweigt. Aber der
wesentliche Unterschied zu der afrikanischen Geschichte ist: Die europäische
Heldin bleibt stumm, weil sie nicht ihre Missetat bekennen will! (KH *1127; ATU
710)
<13> In
Nr. 31 werden Bruder und Schwester von den Eltern vertrieben, weil sie laut
Wahrsager schuld an der Dürre sind. Der Bruder trinkt aus einer verbotenen
Quelle und wird zum Löwen. Das Mädchen lebt nun hoch im Baum, der Löwen-Bruder
sorgt für Essen. Twa-Jäger melden dem König, dass im Wald ein schönes Mädchen
sei. Der König schickt sie nun, das Mädchen zu holen. Als sie beginnen, den
Baum zu fällen, ruft sie den Löwen zu Hilfe. Der stürmt herbei und tötet alle
bis auf einen, der die Nachricht zum König bringen kann. Der König schickt
Tutsi-Männer, doch der Löwe tötet alle bis auf einen; er schickt Hutu-Männer,
doch der Löwe tötet alle bis auf einen. Der König schickt viele Männer, aber
der Löwe hört die Rufe des Mädchens nicht. Das Mädchen wird in einer Sänfte
fortgetragen. Aus der Sänfte streut sie Papyrusstreifen, und der Löwe folgt
dieser Spur zum Königshof. Der König lässt für den Löwen beim Königshaus eine
Hütte bauen. Nachts legt der Löwe die Löwenhaut ab. Die Schwester lässt die
Haut verbrennen, und er ist nun ganz Mensch. Der König gibt ihm Land und auch
eine Frau. Einmal erkennen die Geschwister die verarmten Eltern auf dem Markt
und lassen ihnen vom König ein Haus beim Palast-Eingang geben. Als die Mutter kam,
„um Läuse aus N’s Beinringen zu klauben,“ gibt sich N. zu erkennen. Der König gibt auch den Eltern Kühe und
Weideland. Das Märchen hat in seiner Struktur eine verblüffende Ähnlichkeit mit
dem in Europa beliebten Märchen von Brüderchen
und Schwesterchen (KHM 11; ATU 450). Jedoch ist die ruandische Variante
ganz und gar Bild und Ausdruck der ostafrikanischen Kulturlandschaft.
<14> Nr.
25 führt deutlich über das Zaubermärchen hinaus in den Bereich des Mythos. Bei
einer großen Dürre in Ruanda geben Wahrsager an, dass es erst Regen geben
würde, wenn die Königstochter „in den Wald geschickt würde“. Die Tochter ist
sofort bereit, für Regen „verkauft“ zu werden. Der König lässt im Wald ein Haus
errichten, und die Tochter bleibt dort mit einer Magd allein zurück. Am
nächsten Tag ruft sie laut nach dem Löwen. Er soll kommen und sie fressen,
damit es Regen gibt. Nun aber nimmt die Erzählung eine unerwartete Wendung. Als
der Löwe in das Haus eindringt, erschlagen die Königstochter und die Magd den
Löwen und häuten ihn. Sie spannen das Fell zum Trocknen auf, und gleich fällt
ein leichter Nieselregen. Am nächsten Tag ruft die Königstochter wieder nach
dem Löwen. Jetzt erscheint die Löwin und wird ebenso von den beiden Frauen
erschlagen und gehäutet. In dem Augenblick, als das Fell aufgespannt ist, fällt
starker Regen in ganz Ruanda. Alle Leute glauben, der Regen wäre gefallen, weil
der Löwe die Königstochter gefressen hätte. Erst lange Zeit später wird sie von
Twa-Honigsammlern entdeckt.
<15> Diese
Geschichte bietet vielseitige Anreize für Diskussionen alter
Glaubensvorstellungen. Hier sei nur auf einen wesentlichen Unterschied zu den
meisten afrikanischen Erzählungen um den Kampf um Regen/Wasser hingewiesen: Die
Königstochter wird nicht einem Drachen oder einer Schlange geopfert, sondern
einem Löwen. Das hat meines Wissens nur Gegenstücke in der Khoisan-Mythologie.
Dort hinderte der Löwe die Menschen, Wasser an der Wasserstelle zu trinken, und
nachdem der mythische Trickster den Löwen besiegt hatte, nahm die Löwin den
Kampf gegen ihn auf (KH 220).
<16> Auch
die historischen Berichte dieses Bandes gehen in das Märchenhafte über. Die
Gutsherrin, Heldin von Nr. 32, verschanzt ihr Anwesen hinter dichtem Gestrüpp,
aber der historisch im sechzehnten Jahrhundert bezeugte König von Ruanda lässt
Ziegen das Grün abfressen und kann dann das Gut angreifen und zerstören. Nr. 21
schildert die Kämpfe der Könige von Ruanda und Burundi am Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts. Die Ehefrau des Helden ist die Tochter von Ntare, dem
König von Burundi. Nachts tauscht der Held mit seiner Frau die Fußringe und den
Schlafplatz, und Ntare tötet seine eigene Tochter – wie die böse Stiefmutter in
Nr. 13 und der Menschenfresser im Däumlings-Märchen.
<17> Beim
Erzählen wird wohl auch wesentlich stärker der Humor mancher Märchen
hervortreten. Wahrscheinlich wird dann ein so stark von der Realität
abstrahiertes Märchen wie das von den Tierchen, die ihre Kühe vom Blitz im
Himmel zurückholen, mit fröhlichem Gelächter aufgenommen sein. Ganz als
Schwänke sind die Geschichten von den Dieben gestaltet, die mit den
unerwarteten Ideen verblüffen und die Diebe siegen lassen (Nr. 4, Nr. 17).
Erwähnen möchte ich aber auch die bewegende Tragödie von dem jungen Mann, der
von seinem Onkel gegen alle seine Widerstände in den Kriegsdienst gezwungen
wird. An dem Zeichen, dass seine Frau eines Tages den Pfeiler beim Bett knacken
hört, erfährt sie, dass er gestorben ist (Nr. 18).
<18> Nicht
nur wegen der vielseitigen Thematik und Gestaltungsweise ist der Band für
Märchenliebhaber und -forschung wertvoll. Er ist auch Zeitzeugnis für das
Denken von vor hundert Jahren. Wie wurden die einzelnen Volksgruppen, die Twa,
Hutu und Tutsi, dargestellt, wie die Frauen, wie die alte Gottheit Imana?
Welche Rolle spielen die Wahrsager, die Amulette? In welchem Maße bestimmte die
Viehzucht das Leben aller Volksgruppen? Mit dieser Ausgabe wird ein bedeutendes
historisches Dokument der afrikanischen Volksüberlieferung über die frankophone
Leserschaft hinaus bekannt gemacht.
Abkürzungen |
|
ATU |
Aarne-Thompson-Uther-Index |
KH[1] |
Khoisan (siehe Schmidt 2013) |
KHM |
Kinder- und
Hausmärchen |
Quellenverzeichnis
ATU siehe Uther 2004
Grimm, Jacob und Wilhelm ©1996
Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen.
Nach der Großen Ausgabe von 1857, 4 Bde., herausgegeben von Hans-Jörg Uther. München: Diederichs
Schmidt, Sigrid 1999
Hänsel und Gretel
in Afrika: Märchentexte aus Namibia im internationalen Vergleich. Band 7. Köln: Köppe
Schmidt, Sigrid 2013
A Catalogue of Khoisan Folktales of
Southern Africa. 2nd, Completely Revised Edition.
Part I and Part II. Köln: Köppe
Uther, Hans-Jörg 2004
The Types of International Folktales. A Classification and
Bibliography. Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson. Folklore Fellows Communications 284. Helsinki: Suomalainen
Tiedeakatemia – Academia Scientiarum Fennica (zitiert ATU)
[1] Unter KH
(Khoisan) und Nummer, z.B. KH 753, sind Varianten und Literatur zu den
einzelnen Erzählungen aufgelistet.